Erich Fromm (1971 [1968]): Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik, Stuttgart: dtv/Klett-Cotta. 194 Seiten.

Warum, so die wahrscheinliche Frage geneigter Leser:innen, eine Rezension eines „so alten“ Buches? Die Antwort ist einfach und erwartbar. Weil es immer noch aktuell ist, trotz seines Alters. Dies ist zumindest die Überzeugung des Reviewers. Zugegeben werden muss natürlich schon, dass Vieles „überholt“ ist, die Welt hat sich weiter gedreht. Doch was sind gut 50 Jahre im Verhältnis zu 2000 Jahren nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung? Grob gerechnet, zwei Generationen. Und: wer nicht aus der Geschichte lernen will, ist verdammt, sie zu wiederholen, heißt es. Wenn auch dieser Aphorismus natürlich etwas arrogant daherkommt, ist die Vorstellung, dass Überlegungen des Sozialphilosophen und Psychoanalytikers zur „Humanisierung“ der Technik inmitten des Umbruch des „globalen Fordismus“ (Lipietz 1992) heute nicht mehr aktuell sind, weil die Technikformen oder „die Welt“ sich geändert haben mögen, etwas sehr oberflächlich. Nicht jede neue Mode erfindet das Rad neu. Nur weil sie für die Individuen einer neuen Generation „alt“ erscheinen, sind Überlegungen und Phänomene scheinbar „alter“ Text und aus „lange Zeit zurückliegenden“ Epochen nicht pauschal hinfällig. Bei aller permanenter Veränderung in spätmodernen Gesellschaften zeugen solche Gedanken von der Verwechslung kollektiver und individueller Bewusstwerdungsprozesse. Und: Ungleichzeitigkeiten gehören zum Wesen der kapitalistisch geprägten Gesellschaften der Spätmoderne wie der Sprühnebel zu den herabstürzenden Wassermassen der Niagara-Fälle. Und selbst wenn zahlreiche Details „veraltet“ sein mögen: ein altes Buch kann neue Sichtweisen auf die heutigen Dinge erwecken, insbesondere dann, wenn der historische Zeitpfeil linearer Existenz von damals bis heute in eine ganz andere Richtung geflogen ist. Kehren wir also zu dem alten Buch zurück und fragen: was kann es uns heute noch sagen? Hierzu wird dieser Review nicht nur die Argumentation ausführlich, aber natürlich selektiv rekonstruieren, sondern mittels reflektierter Einwürfe und Kommentare versuchen, dem Text sowohl seine potenzielle Aktualität zu entlocken als auch ihn darauf hin zu befragen, was er möglicherweise „ausgelöst“ hat oder anders gesagt: wie sein Verhältnis zu jenem historischen Zeitpfeil gestaltet ist, der seitdem zwei Generationen, zahllose Staaten und singuläre Weltreiche von gestern nach heute gebracht hat. Also: los geht’s!

Auf der Messerspitze einer dehumanisierenden Zeitenwende: Mikroelektronik meets Massenproduktion und Bürokratie

Dass das Frommsche Buch keineswegs völlig veraltet ist, zeigt sich schon in der Paradoxie der oben stehenden Abschnittsüberschrift, die jedoch nur jener sozialwissenschaftlich Gebildeten ins Auge springt, die schon mal etwas von Fordismus und Postfordismus gehört hat (wer diese Begriffe genauer verstehen möchte, sei hierauf verwiesen). Denn der Computer gilt in diesem sozialwissenschaftlichen Narrativ als Inkarnation des Postfordismus, nicht des Fordismus, dessen Insignien Massenproduktion, Automobile und Bürokratie sind. Fromms Buch steht also an der Schwelle einer Zeitenwende von Fordismus zum Postfordismus: quod erat demonstrandum. Sein Buch ist entsprechend aufgebaut und fokussiert auf die Gefährdungen einer dehumanisierenden Technik, die er nicht nur im Computer, noch nicht einmal zentral darin, sondern vor allmen in der Nutzung des Computers, den diese Technik einbettenden „Institutionen und Methoden“ (Fromm 1987: 115; GA IV) der zeitgenössischen Gesellschaften erkennt. Das Buch besteht, den Problemaufriss und das Fazit nicht mitgezählt, aus vier zentralen Argumentationsschritten und folglich auch Kapiteln. Der Ausgangspunkt der Studie ist die Auffassung, dass insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen Regionen der „ganzen Welt“ (ebd.: 19; GA IV: ) eine wachsende Polarisierung zwischen den Mächten des „Leblosen“ einerseits und vielfältigen sozialen Kräften, die von „einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, nach neuen Einstellungen“ (ebd.) getrieben würden, andererseits zu beobachten sei. Die Rede ist hier unverkennbar von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Protestbewegungen der sog. 1968er-Bewegung, die Fromm insgesamt – und vielleicht an dieser Stelle etwas zu undifferenziert – als „dem Leben“ und „der Liebe“ zugewandt sieht (siehe dazu: Deppe 2018: 17-86).

Im zweiten Kapitel entwickelt Fromm sein Konzept der „Hoffnung“, dass er von passiven und theologischen Konzepten abgrenzt und in starke Beziehung setzt zum ähnlich aufgebauten „Prinzip Hoffnung“ des marxistischen Philosophen Ernst Bloch (Bloch XXX; Fromm 1987: 34, FN 8; GA IV: ). Im dritten Kapitel setzt sich Fromm zunächst mit technikkritischen und dystopischen, so würde man heute dies wohl nennen, Theorien bzw. Vorhersagen auseinander (z.B. Mumfords „Megamaschine“ oder Brezinskis „technotrone Gesellschaft“) , die in der unlebendigen Verquickung von Bürokratie, Kybernetik und Kapitalismus drohten. Einen Schritt zurückgehend fokussiert der weitere Verlauf des Kapitels auf die kritische Diskussion der Prinzipien der „gegenwärtige[n] technologische[n] Gesellschaft“ (Fromm 1987: 47ff.; GA IV: ) und ihrer „Wirkung auf den Menschen“ (ebd.: 54ff.; GA IV: ) sowie der janusköpfigen Befriedigung des „Bedürfnisses nach Gewissheit“ (ebd.: 63ff.; GA IV: ) durch die identifizierten „Prinzipien“. Bevor Fromm im fünften Kapitel seine Vision notwendiger Schritte „zu einer Humanisierung der technologischen Gesellschaft“ (ebd: 115ff.; GA IV: ) beschreibt, rekapituliert er im vierten Kapitel die anthropologischen Grundlagen des „Menschseins“, also jene universellen Anlagen und unterstellte „Natur“ bzw. der „grundlegenden Bedürfnisse“ des Menschen, die er bereits in vorangegangenen Veröffentlichtungen beschrieben hatte. Diese Ausarbeitung grundlegender Merkmale des Menschlichen, die Fromm und ähnlich inspirierten Autor:innen immer wieder als „Naturalisierung“ des Sozialen bzw. des Menschen vorgeworfen wurde, ist zweifellos eine normative Setzung, die jedoch Fromm nicht nur in der „Furcht vor der Freiheit“, sondern auch in „Psychoanalye und Ethik“ und später in „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ mit historischen und empirischen Forschungsergebnissen zu stützen versuchte. Insofern ist der Vorwurf des „Naturalismus“ an Fromms Anthropologie m.E. schlecht begründet, wenn nicht sogar mitunter böswillig und politisch motiviert.1

Im fünften Kapitel diskutiert Fromm zentrale Ansatzpunkte und Prinzipien, wie eine humane Gesellschaft, eine „Humanisierung der Technik“ erreicht werden kann. Im Rückblick auf die von Fromm empfohlenen Strategien einer „humanistischen Planung“ (Fromm 1987: 117ff.; GA IV: ), einer „Aktivierung und Freisetzung von Energien“ (ebd.: 121ff; GA IV: ) und eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (ebd.: 139ff.; GA IV: ) lässt sich der Eindruck nicht abwehren, dass manche Elemente im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus Einfluss gefunden haben in so manche politische, ökonomische oder kulturelle Reformstrategie(n). Insbesondere die im Buch vorzufindende „Bürokratie“-Kritik, seine kritische Betrachtung von „Passivierungs“-Tendenzen in fordistischen Großorganisationen und auch die Vorschläge zu ihrer Überwindung, partizipatorische Verwaltungsplanung hier, humanistisches Management dort, mag heutige Zeitgenoss:innen an seit den 1980er Jahren installlierte „Reformmaßnahmen“ der Verwaltungsmodernisierung und des Unternehmensmanagements erinnern. New Public Management (Pollitt/Bouckaert 2011) und Lean Management (oder: Total Quality Management; Bröckling 2005) sind nicht nur die herausgehobensten „Management“-Konzepte einer sich modernisierenden Bürokratie im Postfordismus, sie haben tatsächlich auch viele Elemente dessen übernommen, was in der Fromm’schen Diktion als „Humanisierung“ deklariert worden wäre. Und auch das Element eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (Fromm 1987: 139ff; GA IV: ) spiegelt sich im Aufstieg des „kritischen Konsumenten“ in den Staaten und Gesellschaften des Postfordismus seit den 1980er Jahren. Und dennoch: die Fromm’sche Vision einer „Revolution der Hoffnung“ bricht sich mit diesen Ansatzpunkten, denn Fromm hält im Gegensatz zu vielen Strateg(i)en der „Humanisierung“ der Bürokratie und des Management an zentralen Eckpunkten einer Kapitalismuskritik und der notwendigen Einführung sozialistischer Planungselemente und von dezentralen Demokratisierungsprinzipien fest (Fromm 1987: 120f. GA IV: ; und insbesondere: Fromm 62009: 229ff.; GA IV: ). Er steht folglich in einer Tradition des humanistischen bzw. kommunitären Sozialismus (Fromm 1965), die – nach dem Niedergang des „Realsozialismus“ und der sich lange Zeit neoliberalisierenden „Sozialdemokratie“ immer noch – oder auch: wieder – hochaktuell ist (Honneth 2017; Dörre 2021; Deppe 2022). Gerade wegen dieser offensichtlichen bzw. – aus skeptischerer Perspektive – möglichen Aktualität der Fromm’schen Überlegungen, soll im Folgenden die Argumentation aus der „Revolution der Hoffnung“ im (subjektiven) Detail und mit kritisch-reflexiver Emphase rekonstruiert und im Hinblick auf ihre heutige Aktualität erörtert werden. Ich werde dazu allerdings die Gliederung des Buches „umwerfen“ und beginne mit einer Erörterung der Begriffe der „Hoffnung“ und der Frage nach dem „Menschsein“, bevor ich die in die Diskussion über die konstatierte Gesellschaftskrise der 1960er Jahre und ihre Überwindung, die Fromm für möglich erachtete, einsteige.

Wie kann der Mensch hoffen? Analytische Bedeutung und normative Prämissen der Hoffnung und des Mensch-Seins in der Fromm’schen Sozialtheorie

Obwohl die von Fromm eingeforderte „Revolution der Hoffnung“ durchaus einen gewissen utopischen Charakter hat, ließe sich unter Bezugnahme auf Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ diese Hoffnung sehr wohl auf eine reale Grundlage stellen, also von einer „Realutopie“ sprechen. Die realutopische Hoffnung ist daher nicht idealistisch gemeint und damit im schlechten Sinne „unrealistisch“, wie viele Kritiker:innen der zweifellos empathischen Aufforderung einer „Revolution der Hoffnung“ durch Fromm unterstellt haben und – bei Neulektüre – vermutlich unterstellen würden. Der von Fromm erörterte Begriff der „Hoffnung“ und seine – gewissermaßen – anthropologisch-sozialpsychologische Begründung menschlicher Bedürfnisse aus der „Bedingung der menschlichen Existenz“ (Fromm 1987: 76ff; GA IV: ) heraus sind analytische Ansatzpunkte seiner Sozialphilosophie, auf die sich eine „Revolution der Hoffnung“ stützen kann. Dabei sind die normativen Prämissen menschlicher Existenz keineswegs eindimensional, sondern zeigen die Eigenschaft der „Wahlalternative“: der Mensch ist weder gut noch böse von Natur aus, sondern zu beiden Veranlagungen seines Handelns in der Lage. Die Strukturen der Gesellschaft mögen ihn in die eine oder andere Richtung drängen, doch in Fromms Sozialphilosophie bleibt die (religiös klingende und auch so gemeinte) Emphase der Freiheit jedes Einzelnen die normative Prämisse seines „prophetischen Alternativismus“ (ebd.: 33; GA IV: ).

„Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben!“

Deuteronomium (5. Buch Mose), Kapitel 30, Vers 19, zit.n. Fromm 1987: 33

Diese biblische Stelle erhebt Fromm zum Prinzip seiner „messianische[n] Hoffnung“ (ebd.: 32ff.), die ganz und gar nicht-theistisch begründet ist. Aufgabe der Hoffnung ist nicht, auf eine „kommende Zeit“ (ebd.: 21) zu warten, denn in diesem kafkaesken „untätige(n) Abwarten“ zeige sich vielmehr eine „verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz“ (ebd.: 22), die gelegentlich und gern manieriert als „pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus“ (ebd.) von vermeintlich kritischen Geistern vor sich hergetragen und zur Schau gestellt werde. Doch selbst offen geäußerte Hoffnung kann eine Verkleidung für innere und unbewusste Hoffnungslosigkeit sein, wenn der gesellschaftliche „Erfolg“ eine solche geäußerte Hoffnung verlangt. Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Fromm weist darauf hin, dass nicht nur solche äußeren Mechanismen, sondern auch offenkundige „Phrasendrescherei und Abenteuerlust“ (ebd.) unbewusste Hoffnungslosigkeit übertünchen und ein Ausdruck nekrophiler Tendenzen sein können, deren Dynamik gern verdrängt werde; dies gelte für solche „Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier.“ (Ebd.: 24) Hoffnung ist für Fromm sehr viel stärker ein „Gefühl“ bzw. eine „Erfahrung“ als eine rein kognivitive Veranstaltung:

„Hoffen ist ein Zustand des Seins. Es ist eine innere Bereitschaft, die Bereitschaft zu einem intensiven, aber noch unverbrauchten Tätigsein.“

Fromm 1987: 26 (GA IV: ).

Tätigsein heißt freilich nicht, geschäftig zu sein oder bloßen gesellschaftlichen „Erfolg“ zu „haben“. Hoffend tätig sein heißt, das Leben und das (individuelle und kollektive) Wachstum (gerade auch gegen gesellschaftlich erwungenen Erwartungen) zu stärken, gewissermaßen biophil tätig zu sein, wobei hier natürlich unterstellt ist, dass gesellschaftliche Erwartungen falsch sein können. Hoffnung ist so gesehen nicht ein Zustand der „aktiv Hoffenden“, sondern vielmehr der „hoffend Aktiven“. Diese – letztlich – lebensbejahende Hoffnung wird deutlich, indem Fromm seinen Begriff der Hoffnung mit dem Konzept des „Glaubens“ und der „Seelenstärke“ verbindet. Glauben heißt Fromm zufolge die „Gewißheit des Ungewissen“ (ebd.: 28; kursiv i.O.) zu begreifen. Während irrationaler Glaube sich etwas bereits Bestehendem unterwirft (so z.B. jedweder Form von Idolarisierung, etwa einem politischen Führer, einem Nationalismus oder einer anderen Ideologie), verbindet sich der rationale Glaube als „Gewißheit der Vision und des Verstehens“ (ebd.: 28) der Wirklichkeit mit der wirklichen Hoffnung:

„Hoffnung ist die Stimmung, die mit dem Glauben Hand in Hand geht. Ohne eine hoffnungsvolle Stimmung läßt sich der Glaube nicht aufrechterhalten. Nur auf den Glauben kann sich die Hoffnung aufbauen.“

Fromm 1987: 29 (GA IV: )

Doch biophiles Tätigsein, wenn das, was Fromm sagen will, so zu nennen erlaubt ist, benötigt auch „Seelenstärke“ der Menschen. Sie bedeutet die Fähigkeit, „der Versuchung zu widerstehen, Hoffnung und Glaube dadurch zu gefährden, dass man sie in einen leeren Optimismus oder in einen irrationalen Glauben umwandelt“ (ebd.: 29); geschieht dies, sind beide verloren. Diese Seelenstärke zu verfolgen, fordert derjenigen „Furchtlosigkeit“ (ebd.: 30) ab, die es versucht. Dabei meint Furchtlosigkeit weder in irrationaler Weise, „sein Leben zu risikieren“ (ebd.), noch die Furchtlosigkeit dadurch zu erlangen, „sich einem Idol, einem anderen Menschen, einer Institution oder einer Idee symbiotisch zu unterwerfen.“ (Ebd.). Furchtlosigkeit bedeute vielmehr, seine Begierden zu überwinden, „Idole, irrationale Wünsche und Phantasien“ (ebd.) loszulassen, „weil er [oder auch: sie] mit der Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner [oder: ihrer] selbst in vollem Kontakt steht.“ (Ebd.) Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) und die Philosophie des prophetischen Alternativismus stellen uns – Fromm zufolge – vor die Wahl:

„Als wesentliche Eigenschaften des Lebens drängen Hoffnung und Glaube schon ihrer Natur nach über den individuellen wie auch den gesellschaftlichen status quo hinaus. Das Leben hat unter anderem die Eigenschaft, daß es ein ständiger Prozeß der Veränderung ist und keinen Augenblick gleich bleibt. Leben, das stagniert, beginnt abzusterben. Stagniert es völlig, ist der Tod eingetreten. Hieraus folgt, daß das Leben in seiner Eigenschaft als Bewegung dazu tendiert, aus dem status quo auszubrechen und ihn zu überwinden. Wir werden entweder stärker oder schwächer, klüger oder dümmer, mutiger oder feiger. Jede Sekunde ist ein Augenblick der Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren. Entweder pflegen wir unsere Trägheit, unsere Gier und unseren Haß, oder wir hungern sie aus. Je mehr wir sie pflegen, um so stärker werden sie; je mehr wir sie aushungern, um so schwächer werden sie.“

Fromm 1987: 31 (GA IV: ); Hervorhebungen i.O.

Menschen können in biophiler Weise folglich nur glaubend und mit begierloser Furchtlosigkeit hoffend tätig sein. Doch warum und wozu sollten sie das können (wollen)? Nachdem Fromm im zweiten Kapitel seines Buches von der „Revolution der Hoffnung“ seinen zum Tätigsein drängenden Begriff von „Hoffnung“ entfaltet hat, widmet er sich im vierten Kapitel des Buches der Frage, was es heiße, „menschlich zu sein“ (ebd.: 74ff.). Dieses Kapitel gibt uns einen begrifflichen Schlüssel dazu, jenes empathische Rätsel aufzuschließen, das Fromm uns im zweiten Kapitel mit seinem Konzept „messianischer Hoffnung“ hinterlassen hat. Welche Menschlichkeit sollten wir wählen wollen? Drehen wir den Schlüssel langsam um!

Wer die Fromm’sche Philosophie eines „Naturalismus“ zeiht – und das tun viele berufene Philosoph:innen immer wieder gerne – , hat ihn entweder nie gelesen oder nicht verstanden. Dabei sind seine Aussagen völlig klar:

„Tatsächlich ist es bis jetzt nicht möglich, eine endültige Aussage darüber zu machen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein […]“.

Fromm 1987: 76 (GA IV: )

Daher sind alle Versuche, den Mensch ein für alle Mal wesensartig zu bestimmen, falsch und verkürzt, handelt es sich um die Etiketten eines homo faber, homo sapiens, homo ludens oder auch homo negans, auch wenn einzelne von ihnen Fromm zufolge mal mehr und mal weniger das „Menschliche“ streifen (ebd.: 75f.). Was macht aber nun denn das „Mensch-Sein“ bei Fromm aus, mögen Ungeduldige fragen. Die Antwort ist typisch für Fromm und seine dialektische Denkweise, die sich sowohl einer jüdischen als auch der hegelianischen Tradition verdankt. Die erwähnten „Manifestationen des Menschseins“ (ebd.: 77; Hervorhebung i.O.), d.h. die verschiedenen „homini hominorum“, zeigten, „wie verschieden wir als Menschen sein können.“ (Ebd.; Hervorhebung i.O.) Wo ist der oft Fromm vorgeworfene „Naturalismus“ plötzlich hin? Konstatiert werden muss: es gibt ihn nicht; oder vielleicht doch? Er ist da, aber nicht einfach zu „haben“. Ausgangspunkt seines differenzierten „Menschenbildes“ ist die „Bedingung der menschlichen Existenz“ (ebd.: 78), deren theoretische und ethische Implikationen er in der „Revolution der Hoffnung“ (78-114) fortschreitend resümiert, aber bereits in „Furcht vor der Freiheit“ (182013 [1941]: 24-35) und vor allem in „Den Menschen verstehen“ (92011 [1947]: 39-48 u. 97-188; GA ) in Grundzügen entwickelt hat.2

Die zentrale sozialpsychologische Setzung von Erich Fromm besteht in der Anerkennung der Differenz des Menschen von seinen säugetierartigen „Vorfahren“: nämlich (i) ein „Bewußtsein seiner selbst“ (Fromm 1987: 78; GA IV: ) zu besitzen und (ii) nicht von Instinkten determiniert zu sein. Das erste impliziert die (sichere, gern aber verdrängte) Erkenntnis von der eigenen Endlichkeit und der Gewißheit des eigenen Todes, während das zweite Axiom den Menschen dazu drängt, sich einen „Rahmen der Orientierung“ (ebd: 79) suchen zu müssen, damit er/sie nicht wahnsinnig wird. Denn es gilt:

„Der unter den genannten Bedingungen geborene Mensch würde tatsächlich verrückt werden, wenn er kein Bezugssystem besäße, das es ihm erlaubt, sich irgendwie in der Welt zu Hause zu fühlen und dem Erlebnis äußerster Hilflosigkeit, Desorientierung und Entwurzelung zu entrinnen.“

Fromm 1987: 79 (GA IV: )

Dieser Rahmen der Orientierung menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns ist – um die Regulationstheorie zu zitieren – eine „historische Fundsache“ und gerade deswegen durch gesellschaftliche Umstände mitbestimmt, die Fromm im Konzept des „Gesellschaftscharakters“ zu fassen suchte (Fromm 182013 [1941]: 200-215 [GA :]; 92011 [1947]: 51-56 [GA :]). Hiermit schließt Fromm insbesondere an die Marx’schen Frühschriften und dessen Überzeugung an, dass der Mensch ein sozial bedürftiges Wesen ist (Marx‘ Intepretation des Aristotelischen ‚zoon politikon‘). Der Gesellschaftscharakter ist klassenspezifisch bestimmt, kann aber auch gesellschaftsweit gefasst werden (s.a. Bierhoff 1993: 149ff.) und umfasst jeweils „bestimmte Charakterelemente“, die Angehörige einer Klasse (oder sozialen Schicht oder auch ggf. eines sozialen Millieus, um neuere soziologische Konzepte zu verwenden) „gemeinsam haben“ (92011 [1947]: 55 [GA :]). Ihre Identifizierung ist letztlich eine empirische Frage, die Fromm einerseits in seiner psychotherapeutischen Praxis exploriert und dann andererseits in größeren Forschungsprojekten zu erforschen und zu reflektieren versuchte (Fromm 1980; Fromm/Maccoby 1969). Denken, Fühlen, Ideen und Werte des Einzelnen werden – so Fromm in der „Den Menschen verstehen“ vom Gesellschaftscharakter ebenso geprägt, wie dadurch „‚vernünftiges‘ Handeln“ (92011 [1947]: 55 [GA :]) ermöglicht wird. Doch der Individualcharakter ist nicht mit dem Gesellschaftscharakter identisch. Mehr noch: in der Weiterentwicklung psychoanalytischer Überlegungen und Konzeptionen von Sigmund Freud entwickelt Erich Fromm in „Den Menschen verstehen“ eine Typologie verschiedener Charakterorientierungen, die den Individualcharakter und letztlich auch den Gesellschaftscharakter einer Klasse oder einer ganzen Gesellschaft prägen können.3

In der „Revolution der Hoffnung“ thematisiert Fromm diese Charakterorientierungen4 nicht, sondern fordert bloß die Überwindung „primärer Bindungen“ des Einzelnen, also die Überwindung der Bindung „an die eigene Herkunft – an Blut, Boden, Sippe, Mutter und Vater oder in einer komplexeren Gesellschaft an seine Nation, seine Religion oder seine gesellschaftliche Klasse.“ (Fromm 1987: 84; GA IV: ) Die Überwindung primärer Bindung und die Entscheidung für die Alternative „produktiver Bezogenheit“ (Fromm 92011 [1947]: 71ff. [GA :]) zu seinen Mitmenschen ist keine rein pflichtethische Forderung, sondern liege in der Natur des Menschen begründet. Die Fromm’sche Argumentation ist hier keineswegs einfach, sondern setzt die Akzeptanz mancher unorthodoxer Gedanken voraus. Erstens setzt sich Fromm kritisch mit dem Beviorismus auseinander, der behauptet, der Mensch sei unendlich formbar und könne sich jeder gesellschaftlichen Situation anpassen. Wenn dies so sei, so Fromm, sei nicht erklärbar, warum es in der Geschichte permanent zu Revolutionen gekommen sei. Zweitens sei die Reduktion der Bedürfnisse des Menschen auf das (physische) „Überleben“, was der Behaviorismus unterstelle, unzulässig. In Bezug auf die Marx’schen Frühschriften erhebt Fromm die axiomatische Setzung, dass der Mensch auf die anderen Menschen bezogen sein wolle. Und zwar in vielfältiger Hinsicht seiner ganzen menschlichen Möglichkeiten – ein genuin humanistischer Gedanke. Leben ist mehr als „bloßes Überleben“ – daher der Impuls – so ließe sich spekulieren – für Revolutionen und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen:

„Die Dynamik der menschlichen Natur, insofern sie menschlich ist, wurzelt primär in diesem Bedürfnis des Menschen, seine Fähigkeiten, sich auf die Welt zu beziehen, auszudrücken, und nicht in seinem Bedürfnis, die Welt als Mittel zur Befriedigung seiner physiologischen Notwendigkeiten zu benutzen.“

Fromm 1987: 88 (GA IV: )

Das „freie und spontane Tätigsein“ (ebd.: 89) spanne zusammen mit dem Aspekten des Notwendigen eine „Polarität“ auf, die das Denken und Handeln des Menschen strukturiere. Doch diese werde nicht immer erkannt, da der Mensch in einer „gegebenen Gesellschaft“ (ebd.: 90) zunächst überleben müsse und „Dinge“ verdränge, „deren er sich bewußt wäre, wenn sein Bewußtsein nicht von anderen Modellen geprägt worden wäre.“ (Ebd.) Träume, Symbole und alle Arten von Künsten seien Möglichkeiten, sich dieses Verdrängten wieder bewusst zu werden. Worin bestehen nun die spezifisch menschlichen Erfahrungen (und damit auch Möglichkeiten), die eine Bewegung für einen „humanistischen Sozialismus“ stärken sollte und zugleich von ihnen bestärkt würde?

Anmerkungen

1 Die „reflexive Anthropologie“ (Bourdieu/Wacquant 2006) eines Pierre Bourdieu dürfte – nebenbei bemerkt – gar nicht so weit von der Frommschen Vision einer Wissenschaft vom Menschen entfernt sein. Der Habitusbegriff des französischen Soziologen ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Frommschen Konzept des Gesellschaftscharakters, wie neuere Forschung herausgefunden hat (Fromm-Forum XXXX).

2 Nebenbemerkung: wenn Fromm die zum Teil auch modifizierende Resümierung vorheriger theoretischer Bausteine gewissermaßen als unproduktive „Wiederholung“ und unter der Hand pejorativ gemeinte „irrende Selbstreferenz“ (so oft Friedman 2013: passim) immer wieder angelastet wird, wird gern mit doppeltem Maß gemessen. So ist doch z.B. die ziemliche ähnliche Praxis von Niklas Luhmann, seine Grundaxiome in jedem seiner Werke als Zeichen systematischen Fortschreibens seiner „Theorie“ reflektierend zusammenzufassen, als Ausdruck systematischen Theoretisierens anerkannt – von Axel Honneths oder auch Jürgen Habermas‘ analoger Methodologie, von Buch zu Buch schrittweise ihre theoretischen Erkenntnisse und Grundüberzeugungen auszubauen, ganz zu schweigen.

3 Die Unterscheidung von „Gesellschaftscharakter“ und „individuelle(m) Charakter“ bei Fromm ist nicht immer klar formuliert. Während der „Gesellschaftscharakter“ durch Assimilierung und Sozialisation (Fromm 92011 [1947]: 54f. [GA :]) die Individuen präge, bleibt eine Differenz nichtsdestotrotz bestehen. Der Individualcharakter geht im Gesellschaftscharakter – und auch anders herum – nicht auf: „Vom Gesellschafts-Charakter getrennt müssen wir jedoch den individuellen Charakter betrachten, durch den sich innerhalb des gleichen Kulturkreises [oder einer Klasse?, KM] ein Mensch vom anderen unterscheidet. Diese Unterschiede gehen zum Teil auf die Unterschiede der Persönlichkeiten der Eltern zurück, zum anderen auf die psychischen und materiellen Unterschiede der besonderen sozialen Umwelt, in der das Kind aufwächst. Aber sie sind auch durch konstitutionelle Unterschiede des einzelnen bedingt, insbesondere durch solche des Temperaments. Genetisch wird die Formung des individuellen Charakters durch die Wirkung bestimmt, welche die aus dem individuellen und kulturellen Bereich erwachsenen Lebenserfahrungen auf das Temperament und die physische Konstitution ausüben. Die gleiche Umwelt ist für zwei Menschen nie dieselbe, weil beide diese Umwelt durch ihre verschiedene Konstitution mehr oder minder verschieden erleben. Bloße Gewohnheiten des Denkens und Handelns, die nur eine Folge der menschlichen Anpassung an kulturelle Vorbilder sind, aber nicht im Charakter wurzeln, können sich unter dem Einfluss neuer gesellschaftlicher Vorbilder leicht verändern Wurzelt dagegen das Verhalten eines Menschen in seinem Charakter, so ist es mit Energie geladen und nur dann veränderlich, wenn ein Wandel in der Charakaterstruktur selbst stattfindet.“ (92011 [1947]: 56 [GA :])

4 Die (Gesellschafts-)Charakterorientierungen werden unterteilt in produktive und nicht-produktive Charakterorientierungen. Fromm unterscheidet in „Den Menschen verstehen“ als nicht-produktive Charakterorientierungen folgende vier (vgl. Fromm 92011 [1947]: 57ff. [GA : ]): (i) die rezeptive Orientierung, (ii) die ausbeuterische Orientierung, (iii) die hortende Orientierung und (iv) die Marketing-Orientierung. Er stellt in diesem frühen Schlüsselwerk zur Typologie von Charakterorientierungen diesen auch Merkmale einer produktiven Charakterorientierung entgegen, deren Kern er vor allem als „produktive Liebe“ und „produktives Denken“ umschreibt (ebd.: 71ff. [GA :]). Die analytische Bedeutung dieser Orientierungen für die theoretische Konstruktion von historisch-spezifischen Gesellschaftscharakteren einerseits und von Individualcharakteren andererseits bleibt etwas im Dunkeln, weil vor allem die nicht-produktiven Charakterorientierungen zum einen – bis auf das Konzept des „Marketing-Charakters“ – an psychoanalytischen, von Sigmund Freund entwickelten Konzepten angelehnt sind und daher im eigentlichen Sinne an die kapitalistische Marktgesellschaft gebunden sind, aber von Fromm gelegentlich als anthropologische „Konstanten“ angesehen werden – auch wenn er diese Begrifflichkeit selbst nicht nutzt. Zum anderen bleibt wegen dieser begriffsgeschichtlichen Anlehnung an die Ausgangskonzepte der auf das Individuum bezogenen Psychoanalye nach Freud das analytische „Fluiditätspotenzial“ zwischen den gesellschaftsweiten bzw. klassen- oder millieuspezifischen Ausprägungen von Charakterorientierungen (also von: Gesellschaftscharakteren) und den in der Psychotherapie zum Reflexionsgegenstand erhobenen Individualcharakteren konzeptionell unterentwickelt. Zum besseren Verständnis der analytischen und empirischen Bedeutung des Konzepts des Gesellschaftscharakters wird auf ihre theoretische Konstruktion und empirische Operationalisierung in den empirischen Studien zurückgegriffen werden müssen. Dies kann hier nicht geleistet werden (s.a. Bierhoff 1993: Teil III).

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