Kai Mosebach (2018): Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik – eine hegemonie-theoretische Betrachtung zur kritischen Neuorientierung solidarischer Gesundheitspolitik

„Indeed, the language of market failure provided the rationale for market reforms.“

Theodore R. Marmor (1998: 61)

In seinem Beitrag zur kritischen Ideengeschichte der Gesundheitsökonomik hat Alexander Braun in der letzten Ausgabe der Sozialismus (10/2017) einen wichtigen Impuls zur Diskussion der Bedeutung von Wettbewerb und Gesundheitsökonomik im gewerkschaftsnahen Diskurs über die Zukunft der Gesundheitspolitik gesetzt. Die Gewerkschaften als wichtige Säulen des (wettbewerbs-)korporatistischen Sozialmodells in Deutschland sollten in der Tat die zunehmende Ökonomisierung des gesundheitspolitischen Diskurses (selbst-)kritisch reflektieren. Dabei gilt allerdings, dass die Ideengeschichte der Gesundheitsökonomik keinesfalls von der Geschichte der Gesundheitspolitik getrennt werden kann, denn als vorderhand normative Disziplin, Braun spricht hier von einer praxelogischen Orientierung der Gesundheitsökonomik (Braun 2017: 44), zielt sie auf dem multidisziplinärem Terrain der Gesundheitswissenschaften auf die politische Gestaltung effizienter Versorgungs- und Finanzierungsstrukturen mittels wettbewerblicher Instrumente. Gesundheitsökonomik ist sui generis eine normativ-präskriptive Disziplin, weshalb eine kritische Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Prämissen und Prinzipien für eine kritische Gesundheitspolitik besonders notwendig ist.

Braun ist unumwunden zuzustimmen, dass die Gesundheitsökonomik sich um das Modell der Neoklassik schart und dabei Ansätze einer postkeynesianischen Gesundheitsökonomik unterminiert (s. z.B. Dunn 2006). Problematisch ist jedoch sein unentschiedenes Lavieren zwischen auf der einen Seite einer „post(neo)liberalen Variante“ (44), die er wohl vor allem mit dem Doyen des Neoliberalismus August von Hayek und seinen Adepten eines neoliberal geprägten „Zweiten Gesundheitsmarktes“ (ebd.) identifiziert, und auf der anderen Seite eines etwas unklar bleibenden (positiven?) Anschlusses an die Erkenntnisse einer „neoinstitutionalistischen Adaption“ des neoklassischen Diskurses.

Diese unklare Positionierung erklärt sich damit, dass Braun der Lehrbuch-Literatur insofern auf den Leim geht, als kein ernst zunehmender Ökonom heute mehr von einem staatsfreien Gesundheitssystem als neoklassischem Ideal ausgeht, da Marktversagen nahezu unisono als Normalzustand im Gesundheitswesen angesehen wird. Wer jedoch nun denkt, dass hiermit doch die Gesundheitsökonomie insgesamt als interessant anzusehen ist, sei gewarnt. Wie das vorangestellte Zitat des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Theodore R. Marmor zeigt, stellt paradoxerweise gerade das Zugeständnis von ubiquitärem Marktversagen im Gesundheitswesen ein Einfallstor für marktradikale Verbesserungsmärchen dar.

Dies werde ich erstens zeigen, indem ich kurz begründe, warum ein „staatsfreier“ Gesundheitsmarkt ein ideologischer Mythos ist, den auch – nebenbei bemerkt – August von Hayek als ideologische Strategie nicht verfolgt hat (Thomasberger 2014). Daher ist zweitens die politische Simulation vollkommenen Wettbewerbs (als „liberale Utopie“ im Sinne von Karl Polanyi) das eigentliche neoliberale Reformprojekt – zumindest für die OECD-Staaten des „globalen Nordens“ – wie ein Blick in die vergleichende Gesundheitspolitikforschung zeigen kann. In Bezug auf die Geschichte der deutschen Gesundheitspolitik lässt sich – drittens – zeigen, dass nicht so sehr die Borniertheit von Privatisierungsideologen die Solidarität im deutschen Gesundheitssystem gefährdet, sondern die Durchsetzung einer hegemonialen Reformstrategie, die als „wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik“ bezeichnet werden kann und die im Kontext „permanenter Austerität“ (Paul Pierson) das wahre Treibmittel der Kommerzialisierung im deutschen Gesundheitssystem ist. Diese Konzeption kann hegemonietheoretisch auf einen (globalen) gesundheitsökonomischen Reformdiskurs zurückgeführt werden, ohne die manifeste Bedeutung von Privatisierungsinteressen und -akteure zu verleugnen. Hieraus ergeben sich wichtige gewerkschaftliche Strategieimplikationen, die abschließend an dieser Stelle im Sinne einer Diskussionsanregung nur angerissen werden können.

 

Vom (ideologischen) Mythos eines staatsfreien „Gesundheitsmarktes“

„Market failure is endemic in health insurance.“

Alain C. Enthoven 1988: Kapitel 1, Pos. 277

 

Wie Alexander Braun richtig feststellt, gilt der Aufsatz des US-amerikanischen Ökonomen Kenneth J. Arrow aus dem Jahr 1963 in der Tat als „Gründungsdokument“ der Gesundheitsökonomie aus dem Geiste der neoklassischen Gleichgewichtstheorie (Arrow 1963). Bereits in diesem Aufsatz wird auf das umfassende „Marktversagen“ im Gesundheitswesen hingewiesen, welches nicht überraschend eine intelligente Regulierung – wie bei jedem Marktversagen (Fritsch/Wein/Ewers 2007) – als strategische Perspektive zur Folge hat. Es gibt zahllose Formen des Marktversagens, die auch in praktisch jedem Gesundheitsökonomie-Lehrbuch zum Ausgangspunkt strategischer Überlegungen gemacht werden, wie die bestehenden Finanzierungs-, Versorgungs- und Vergütungssysteme zu „optimieren“ sind (exemplarisch: Barr 2004; Breyer/Zweifel/Kifmann 2005; Donaldson/Gerard 2005; Gingrich 2013).

Die grundlegende Denkfigur, die als Ausgangspunkt gewählt wird, ist die direkte Interaktion von Anbieter und Nachfrager von Gesundheitsdienstleistungen über den Markt (d.h. das Robinson Crusoe-Märchen). Dies widerspricht natürlich der Realität der institutionellen Ordnung von Gesundheitssystemen fundamental, ist jedoch der analytische Ausgangspunkt eines Denkmodells, das vom methodologischen Individualismus ausgeht. Den (auch: marktradikalen) Gesundheitsökonomen diese Irr-Realität ihrer Modellvoraussetzungen schon als Disqualifizierung zu unterstellen, springt jedoch zu kurz. Denn deren empirische Unhaltbarkeit ist auch den meisten Gesundheitsökonomen weitgehend klar (Herder-Dornreich 1994; Wille 1999). Wer diesen methodologischen Ausgangspunkt kritisiert, müsste folglich die gesamte, derzeit institutionalisierte Gesundheitsökonomik kritisch betrachten oder gar komplett ablehnen, was allerdings ihre politische Wirkungsmächtigkeit keineswegs in Frage stellen würde.

In der Konsequenz dieses neoklassischen Denkmodells gibt es nicht nur Marktversagen hinsichtlich so wichtiger Aspekte nach der gerechten Verteilung der (Finanz-)Ressourcen, weil schwerwiegende Erkrankungen oft nur mit gewaltigem Ressourcenaufwand behandelt werden können und bei einer reinen Marktallokation unmittelbar zu sozialen Ungerechtigkeit führen würden, weil sich nicht alle diese Leistung „leisten“ könnten (vgl. kontrastreich: Breyer/Zweifel/Kifmann 2005 und Hajen/Paetow/Schumacher 2013).

Marktversagen existiert darüber hinaus auch auf dem „Versicherungsmarkt“, weil und wenn Versicherungsnehmer, die ihre zukünftige Gesundheit als unproblematisch betrachten, gerade keine Versicherungspolice abschließen würden. Gesundheitsökonomisch zwingend ist also, eine gewisse Versicherungspflicht einzuführen, damit solche Trittbrettfahrer-Maßnahmen ausbleiben, die im Nacheffekt die Versicherungsträger in den Konkurs stürzten und negative Effekte auf Mitversicherte hätten (Schulenburg/Greiner 2000; Breyer/Zweifel/Kifmann 2005).

Die Anwendung solchen „Moral Hazards“ auf das Verhalten von Versicherten (sog. Consumer Moral Hazard) auf ihre (vermeintlich) erhöhte Nachfragereitschaft hat zwar zu berechtigtem Spott geführt, hier werde die maximierende Lust mehrfacher Operationen unterstellt (Reiners 2006), übersieht aber die zunehmende Ideologisierung dieser Nutzer durch solche ökonomischen Konzepte, möglichst viel für ihre Versichertenbeiträge rauszuholen – eine Verhaltensweise, die nicht nur sozialen Gerechtigkeitsmaximen in einer Solidargemeinschaft wie der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) widerspricht (Gerlinger/Mosebach/Schmucker 2007), sondern auch medizinisch betrachtet nicht zielführend und wenig evidenzbasiert ist (Deppe 2005), sich aber nichtsdestotrotz – im Hinblick auf elektive Leistungen etwa – auszuweiten scheint.[1]

Das auch von Braun erwähnte Konzept der angebotsinduzierten Nachfrage, dem zufolge Leistungsanbieter ihren Nutzen, sprich: Einkommen, dadurch optimieren, dass sie „unnötige Leistungsausweitungen“ aufgrund ihres Informationsvorsprunges gegenüber den (meisten) Nutzerinnen des Gesundheitswesens durchsetzen, ist die „linke“ Variante asymmetrischer Informationsbeziehungen in der Gesundheitsökonomie – und wie sich denken lässt, zwischen den beteiligten Gesundheitsökonomen in ihrer Bedeutung durchaus umstritten (vgl. z.B. Schulenburg/Greiner 2000: Breyer/Zweifel/Kifmann 2005; Donaldson/Gerard 2005; Hajen/Paetow/Schumacher 2013).

Doch die verschiedenen Konzepte des Marktversagens führen noch weiter und handeln auch von den Problemen der Marktmacht im Gesundheitswesen, die insbesondere die Vorleistungsindustrien (Arzneimittel- und Medizingerätebranche) betreffen und – der Vergleichsfolie des Modells vom vollkommenen Wettbewerb entsprechend – zu Wohlfahrtsverlusten führen würden.

Schließlich bedeutet die geringe Preiselastizität von Gesundheitsgütern, dass auf ihren „Konsum“ nicht verzichtet werden kann (selbst wenn die Preise hoch wären), eine technische Umschreibung dafür, dass, wer überleben will, auf eine Blinddarmoperation nicht verzichten kann, bevor derselbe platzt. Marktversagen ist das deswegen, weil solche Blinddarmoperationen nicht über den Markt (d.h. die direkte Interaktion von Anbieter [Krankenhausarzt] und Nachfrager [Kunde mit Blinddarmschmerzen]) organisiert werden können, ohne einen der beiden Akteure (hier: den „Kunden“) zu schaden (= Tod). Preiserhöhungen würden also die Nachfrage nicht reduzieren (Preissenkungen vice versa die Nachfrage nicht erhöhen) und können daher nicht zu einem „Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage“ führen“, abgesehen natürlich von dem hiermit problematischen Gerechtigkeitseffekten reiner Marktallokation. Vollständiger Marktwettbewerb im Gesundheitswesen ist daher nicht möglich; Marktversagen ubiquitär (Breyer/Zweifel/Kifmann 2005; Hajen/Paetow/Schumacher 2013).

Doch damit ist die Idee des Marktwettbewerbs als Steuerungsprinzip im Gesundheitswesen aber nicht vom Tisch. Im Gegenteil: die Neuerfindung des Gesundheitssystems im Geiste der Gesundheitsökonomik, das was Kenneth J. Arrow mit seinem Beitrag möglicherweise unbeabsichtigt angestoßen hatte, hat nicht nur zu einem gesundheitspolitischem Paradigmenwandel (Gerlinger 2002) geführt, sondern auch die Kultur in der Medizin radikal verändert (Deppe 2005). Wenn schon der vollständige Marktwettbewerb im Gesundheitswesen nicht möglich ist – so das hegemoniale gesundheitspolitische Credo – , soll wenigsten seine politische Simulation die (vermeintlichen) Vorteile des (Markt-)(Wettbewerbs (Effizienz, Kundenorientierung) mit der Aufrechterhaltung sozialpolitischer Errungenschaften und solidarischer Gerechtigkeitsstandards verbinden – ein Pakt zwischen Teufel und Faust, wie sich zeigen lässt. Doch nicht nur im klassischen Drama von Goethe hat Faust am Ende nichts zu lachen.

 

Politische Simulation vollkommenen Wettbewerbs: eine globale Reformagenda

„Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influence are usually slaves of some defunct economist. Madmen in authority, who hear voices in the air are destilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back“.

John Maynard Keynes (1997[1936]: 383)

 

Es ist ein erklärungsbedürftiges Paradox der (globalen) Geschichte der Gesundheitspolitik der vergangenen 30 bis 40 Jahren in der „OECD-Welt“ (Dieter Senghaas), warum trotz des unisono festgestellten und – mehr oder weniger – umfassenden Marktversagens im Gesundheitswesen („Gesundheitsmarkt“) dennoch die Leitidee des Wettbewerbs einen solchen rasanten Aufstieg bis weit in die gesundheitspolitischen Entscheidungszentren genommen hat.[2] Meine These ist, dass der wissenschaftliche Diskurs um die (auch: für möglich erachtete) politische Simulation von Marktwettbewerb im Gesundheitswesen, die als disziplinäre Kernbotschaft der „institutionenökonomischen Adaption der Neoklassik“ (wie Alexander Braun das umschreibt) gelten kann, hierzu einen wesentlichen konzeptionellen Beitrag geliefert hat. Der politische, ökonomische und soziale Kontext des Aufstiegs der Gesundheitsökonomie als der neuen Leitdisziplin in der Gesundheitspolitik (die den lange gültigen Führungsplatz der sozialpolitisch ausgerichteten Medizinsoziologie in solchen Fragen übernommen hat) ist ohne Zweifel die im Gefolge der Weltwirtschaftskrisen der 1970er und 1980er Jahre aufgeworfene „Kostenproblematik“, nicht nur im deutschen Gesundheitssystem (OECD 1987; Abel-Smith/Mossialos 1994; Saltman/Figueras 1997; Gerlinger 2002). Es ist – zumindest für Leserinnen der Sozialismus – ohne Zweifel bekannt, dass die gestiegenen Finanzierungsprobleme in den OECD-Gesundheitssystemen primär makroökonomische Ursachen hatten, aber – wie auch Alexander Braun zurecht schreibt – die Skandalisierung dieser politischen Herausforderungen als „Kostenexplosion“ jeder Evidenz entbehrt und durch mehrfaches Wiederholen nicht richtiger wird (Braun/Kühn/Reiners 1998; Reiners 2011).

Die politisch-strategische Entscheidung für wettbewerbliche Instrumente – auch und gerade im Kontext von öffentlichen bzw. staatlichen Versicherungssystemen – aber lässt sich allein durch diesen „Wachstumsbruch“ nicht erklären. Wenn schon – in der Perspektive neoliberaler Ökonomen – die Finanzierungsmöglichkeiten strukturell eingeschränkt sind („Krise des Sozialstaats“), und die administrativ-alltägliche Faktizität unmittelbar im Anschluss an die krisenhaften Einbrüche legte das ja nahe, wieso nicht die segensreiche Effizienz des (Markt-)Wettbewerbs nutzen, um unter diesen austeritären Bedingungen wenigstens das Beste rauszuholen? Reflektiert man jedoch die damals bereits bekannten – und oben skizzierten – marktskeptischen Einsichten eines Kenneth J. Arrow (und anderer Gesundheitsökonomen) darf gefragt werden, wer denn das argumentative Kunststück vollbracht hat, den Marktwettbewerb zu rehabilitieren, nachdem praktisch alle Effizienzkriterien seines wohlfahrtsmaximierenden Funktionierens (im Sinne des vollständigen Marktwettbewerbs) in dem gesundheitsökonomischen Gründungsbeitrag erledigt wurden? Die Antwort lautet: Alain C. Enthoven.[3]

In der vergleichenden Gesundheitspolitikforschung wird wohl kein Name öfters mit Wettbewerbsreformen in OECD-Gesundheitssystemen in Verbindung gebracht als dieser einflussreiche Gesundheitsökonom, der – zunächst im US-Verteidigungsministerium angestellt – zu einem der intellektuellen Köpfe der Jackson-Hole-Group wurde, einem einflussreichen versicherungsnahen Think-Tank, der berühmt wurde als zentraler Stichwortgeber der Anfang der 1990er Jahre anvisierten (und letztlich gescheiterten) US-amerikanischen Gesundheitsreform der damaligen First-Lady der USA, Hillary Rodham-Clinton (Sattler 1999; Patel/Rushevsky 2006: 373ff.). Sein bereits während der Regierungszeit des US-Präsidenten Jimmy Carter (1974-1979) erstmalig ausgearbeitetes Konzept eines Managed Competition, eines politisch regulierten Wettbewerbs, hat seitdem einen Siegeszug durch die gesundheitsökonomische und gesundheitspolitische Literatur genommen, der seinesgleichen sucht (Enthoven 1988).[4] Worin besteht nun der eigentliche Clou dieses Managed Competition?

Erstens akzeptiert Enthoven die klassischen Marktineffizienzen von Consumer Moral Hazard und angebotsinduzierter Nachfrage und erklärt damit die in den USA zu beobachtenden inflationären steigenden Gesundheitsausgaben seit den 1970er Jahren (Enthoven 1993: 28). Diese Diagnose ist konsequent neoklassisch, geht sie doch vom methodologischem Individualismus aus und blendet andere mögliche Ursachen der inflationären Entwicklung aus; gleichzeitig stellt sich Enthoven damit in die gesudnheitsökonomische Tradition eines Kenneth J. Arrows.[5]

Zweitens anerkennt er das Problem der Risikoselektion auf Versicherungsmärkten, die zu einer Unterversicherung führen würde und (solidarischen) Gerechtigkeitskriterien widerspreche. Versicherungsstrukturen müssen daher einen Umverteilungsaspekt enthalten, um Risikoselektoin zu vermeiden, dass also Versicherungsunternehmen sich ihre Versicherten nicht aussuchen können („cherry picking“). Seine grundsätzliche Sicht auf Märkte im Gesundheitswesen ist eindeutig und entspricht dem gesundheitsökonomischen Mainstream-Credo: „Market failure is endemic in health insurance“ (Enthoven 1988: Pos. 277).

Drittens geht es aber bei dem Konzept des Managed Competition nicht nur – wie Braun (2017: 43) suggeriert – um die Ineffizienz von Versicherungsmärkten. Zwar zielt Managed Competition in der Tat auf die Konkurrenz von Krankenkassen bzw. Versicherungsunternehmen untereinander, die aber eben nicht über Risikoselektion konkurrieren sollen (daher plädiert Enthoven auch für einen einheitlichen Leistungskatalog, mit Zusatzoptionen), sondern mittels der Bereitstellung unterschiedlicher Versorgungsmodelle für Versicherte konkurrieren und dabei auch unterschiedliche Prämien anbieten können. Wesentlich für das Konzept sind darüber hinaus aber die wettbewerbsvermittelte Verbindung von Finanzierungs- und Leistungserbringungsakteuren eines Gesundheitssystems über marktanaloge Vertragsstrukturen („public contracting“, s. OECD 1992, 1994). Diese Idee des Wettbewerbs hat in Deutschland unter dem Begriff des Einzelvertrags zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern Einzug gehalten, oder auch: Managed Care (Preuß/Rübinger/Sommer 2002; Amelung 2012). Insbesondere können neuartige Vergütungssysteme Leistungserbringer, die nicht mehr einzelne Leistungen vergütet bekommen, sondern verschiedene andere, z.B. Pauschalen, dazu zwingen, so die Annahme, bei der Bereitstellung von Versorgungsleistungen effizienter zu sein, indem ihre Kosten mehr beachtet werden. Eine bekannte Form für stationäre Leistungen sind etwas die Diagnose bezogenen Fallpauschalen (diagnosis related groups: DRGs); dies kann einzelvertraglich – oder wie in Deutschland – kollektivvertraglich erfolgen.

Viertens übereignet Enthoven im Konzept eines Sponsors zentrale regulierende Aufgaben an eine (quasi-)staatliche Behörde, die die Festlegung eines standardisierten Leistungspaketes, die Zulassung von Versicherungsprämien der konkurrierenden Unternehmen, die jährliche Erneuerung des Versicherungsverhältnissen („Kontrahierungszwang“) und die Regulierung des Wettbewerbsverhaltens der Versicherungsgeber umfassen.[6] Die wichtigste Funktion des Sponsors besteht jedoch darin, die Versicherungsunternehmen, die ihre Prämien nach medizinischen Risiken kalkulieren (sog. risk-rating), durch eine Art Umlage zu finanzieren, die diese Risiken zwischen den Versicherern umverteilt – eine Logik, die weitgehend dem entspricht, was im deutschen Gesundheitsfonds realisiert worden ist (Knieps/Reiners 2015: 101ff.; Simon 2017: 118f.).

In den Niederlanden sind die Enthoven’schen Reformen am weitest gehenden umgesetzt worden, denn die (staatliche) Regulierung kann mit einer Privatisierung von (vormals gesetzlichen) Krankenkassen einher gehen, was in der Reform von 2006 auch passiert ist (Mosebach 2006; Okma/de Roo 2009; Okma/Marmor/Oberlander 2011). Viele andere Konzepte zur Einrichtung von „internen Märkten“ in Großbritannien (Harrison 2004; Klein 2013) oder „politischen Märkten“ in Schweden (Harrison 2004; Blomqvist/Winblad 2013) verdanken sich diesen Grundsatzüberlegungen von Enthoven, wie eine historische Vergleichsanalyse der einflussreichen nationalen Wettbewerbsmodelle zeigen kann (Mosebach 2017, Mosebach i.E.).

Zweifellos darf die Wirkung und Einflussmacht dieses  innovativen einzelnen Gesundheitsökonomen nicht überschätzt werden. Seine Auswirkungen auf die gesundheitspolitischen Entscheidungen sind – selbst in den Ländern, wo sein Einfluss als unbestritten gilt – mittelbar und kaum direkt. Dennoch darf der Einfluss seines (oftmals kopierten) Reformkonzeptes auf den gesundheitspolitischen Diskurs in der OECD-Welt nicht unterschätzt werden. Alain C. Enthovens Konzepte sind Teil eines transnationalen Wissensnetzwerkes in der Gesundheitsökonomik (Mosebach o.J.).

Die Einflussmöglichkeiten und -grenzen des gesundheitsökonomischen Diskurses versuche ich abschließend am Beispiel des Aufstiegs der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik im deutschen Gesundheitswesen zu explizieren. Dabei gilt die These, dass die viel beklagte Ökonomisierung, besser: Kommerzialisierung[7], des Gesundheitswesens auch der Fixierung der Gesundheitsökonomie auf die vermeintliche Effizienz von Wettbewerbsmärkten, und sei sie nur politisch hergestellt, zu verdanken ist.

 

Gesundheitsökonomische Spuren in der deutschen Gesundheitspolitik

Der Markt ‚versagt’ bei der Allokation von Gesundheitsgütern insoweit, als diese Kollektivguteigenschaften aufweisen […] oder mit Güterexternalitäten verbunden sind. […] Auf keinen Fall folgt jedoch aus dem Marktversagen die Notwendigkeit eines staatlich organisierten Angebots von Gesundheitsleistungen.“

(Breyer/Zweifel/Kifmann 2005: 179; Hervorhebung: KM)

 

Im Folgenden werden aus einer hegemonietheoretischen Perspektive drei zentrale gesundheitspolitische Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen im Hinblick auf den Einfluss gesundheitsökonomischer Problem- und Lösungskonzepte skizziert werden (Gesundheitsfonds, integrierte Versorgung und G-DRG-System), die sich im neuen Millennium zu einem gesundheitspolitischen Paradigmenwandel im deutschen Gesundheitswesen verdichtet haben, der zwar vom Marktversagen ausgeht, dem Staat jedoch – wie das obige Zitat andeutet – keinesfalls das Feld überlassen will (Gerlinger 2002; Gerlinger/Mosebach 2009).

Erstens lässt sich die Kontroverse um die Einführung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 historisch bis – wenigstens – zur Bundestags-Enquete-Kommission von 1988-1990 zurückführen, die wesentlich von der SPD-Bundestagsfraktion initiiert worden war (Deutscher Bundestag 1990). Wegen erheblicher Unterschiede der Krankenkassenbeiträge, die insbesondere die Allgemeinen Ortskrankenkassen betroffen hatten, wurde es als ein Akt der Solidarität aller GKV-Versicherten angesehen, diese Beitragsdifferenzen, die zu einer Unterversorgung dieser Versichertengruppen führten, anzugleichen. Im GKV-Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 einigte sich die große Sachkoalition von CDU, CSU und FDP, die die Bundesregierung stellte, einerseits und die SPD, die im Bundesrat die Mehrheit inne hatte, andererseits auf einen Kompromiss: die Einführung eines über einen Risikostrukturausgleich gesteuerten Krankenkassenwettbewerb, welcher der Idee des Managed Competition von Alain C. Enthoven sehr nahe kommt (Greß 2002; Rothgang/Preuss 2008; Knieps/Reiners 2015).

Unter der Voraussetzung eines – mittlerweile morbiditätsorientierten – Ausgleichs der unterschiedlichen Risiken zwischen den Krankenkassen sollte diese sich auf eine effiziente Versorgung der Krankenversorgung konzentrieren. Obwohl die Idee von Enthoven oder auch anderen Gesundheitsökonomen nicht komplett umgesetzt worden ist, hat sich jedoch die Logik des Krankenkassenhandelns nachdrücklich verändert. In den Wettbewerb geworfen mussten sie sich zunehmend als um ihre „Kunden“ bemühen und wie privatwirtschaftliche Unternehmen verhalten, ohne im rechtlichen Sinne solche zu sein (Oppen 1995; Bode 2004: 128ff.). Das ökonomische Kalkül wurde fortan für die Krankenkassen zum entscheidenden Handlungsparameter – eine Entwicklung, die nicht ohne Wirkungen für ihr Selbstverständnis und ihre Personalstruktur geblieben ist (Alexander/Rath 2001).

Die Einführung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 versuchte diesem einen Riegel vorzuschieben, was allerdings nur bedingt gelang. Ein vollständiger Ausgleich der Versichertenrisiken zwischen den Krankenkassen kann über versicherungsmathematische Ausgleichsformeln nicht gelingen (Rosenbrock/Gerlinger 2013: 417f.).

Dennoch ist der Gesundheitsfonds besser als sein Ruf, auch wenn der letzte konsequente Schritt zu einer Einheitsversicherung (noch?) nicht vollzogen ist. Die parallel wachsende Bedeutung von Zuzahlungen und IGeL-Leistungen sowie von Wahltarifen innerhalb der GKV unterminieren die Solidaritätskultur jedoch nachhaltig, was nicht dem Gesundheitsfonds als solchem, sondern der sachfremden Budgetierung von Leistungen im Konzept der wettbewerbsbasierten Kostendämpfung zuzuschreiben ist (Gerlinger/Mosebach/Schmucker 2008; Gerlinger/Mosebach 2009). Die verstärkte morbiditätsorientierte Berechnung von Budgets – ähnlich wie in vielen anderen Gesundheitssystemen – ändert an ihrer sachfremden Budgetierung nicht viel, da die Durchschnittswerte breit streuen und sich für (manche) Krankenkassen Risikoselektion noch lohnen kann.

Zweitens kam es wegen politischen Widerständen der Leistungserbringer beginnend ab dem GKV-Reformgesetz 1999 unter der grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer zu einer wirklichen Ausweitung von kassenbestimmten Selektivverträgen (Managed Care) – jenem zweiten Element, das Enthoven dringend zur Realisierung eines Qualitäts- und Effizienzwettbewerbs empfohlen hatte (Enthoven 1988: Kapitel 2)[8]. Die Einrichtung von Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern im Konzept des Managed Competition soll über marktanaloge Einzelverträge zwischen Krankenkassen, Ärzten und/oder Krankenhäusern zu einem Qualitätswettbewerb führen, in dem mit unterschiedlichen Vergütungs- und Vertragsvereinbarungen – durchaus im Sinne Hayeks als wettbewerbliches Suchverfahren – experimentiert werden kann. Die Ausweitung solcher Modelle war und ist ein großer Streitfall zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen (Preuß/Rübinger/Sommer 2002; Rosenbrock/Gerlinger 2013: 393ff.; Knieps/Reiners 2015: 245ff.). Hegemonietheoretisch lässt sich diese Diskussion bis weit in die 1970er Jahre zurückverfolgen, selbst wenn die Genealogie solcher versicherungsgesteuerter Versorgungsstrukturen sogar bis weit in die Weimarer Republik zurückreicht und von dort in den USA der 1970er Jahre kopiert wurde, um von dort wieder nach Europa zu gelangen, diesmal mit einem dezidiert kommerzialisierten Design einer „Corporate Medicine“ (Starr 1984; s.a. Appleby 1991; Light 2000; Gottweis 2004).

Drittens schließlich sollen neuartige Vergütungsmodelle ganz im Sinne von Enthovens ursprünglicher Konzeption die Leistungserbringer dazu bringen, kostenbewusster zu handeln, indem sie deren Kostenkalküle zum zentralen Steuerungsobjekt wettbewerblicher Instrumente machen. Lässt sich dies nicht über Einzelverträge realisieren, sind sie über kollektivvertragliche Regelungen eine Art zweitbeste Lösung. Insbesondere Pauschalen gelten dabei als besonders wirksam, verlagern sie jedoch den Kostendruck auf Leistungserbringer; ihre Einführung in das deutsche Gesundheitssystem ist als ein Kernmerkmal seines Paradigmenwandels angesehen worden (Gerlinger 2002; Hajen/Paetow/Schumacher 2013: 181ff.; Rosenbrock/Gerlinger 2013: 189ff.). Als Paradebeispiel gelten hier natürlich die auf klinischen Diagnosen beruhenden Fallpauschalen im stationären Sektor (DRGs). Dieses erstmalig für das US-amerikanische Versicherungssystem für RentnerInnen (Medicare) unter Ronald Reagan entwickelte Vergütungssystem hat sich mittlerweile global ausgedehnt (Döhler 1990; Busse et al. 2011).[9]

Vielfältige Steuerungsprobleme, die von der offiziellen Evaluationsforschung in Deutschland geleugnet werden, aber von kritischen Gesundheitswissenschaftlern belegt wurden, waren bereit vor der Einführung bekannt, was natürlich die Frage aufwirft, wieso sich ein solch kritisch betrachtetes Vergütungssystem überhaupt durchsetzen konnte (vgl. zur Kritik an der offiziösen Evaluationsforschung: Braun et al. 2010; Braun 2014). Während bisherige Forschung darauf beharrte, dass insbesondere die ministerielle Handlungsfähigkeit des Bundesministeriums für Gesundheit hierfür ausschlaggebend sei (Simon 2000), stellt sich aus einer hegemonietheoretischen Betrachtung eher die Überlegung, ob nicht die sukzessive Hegemonialisierung des (neoliberal inspirierten) gesundheitsökonomischen Diskurses die politischen Handlungsmöglichkeiten zunehmend verengt hat und sich hierdurch marktkompatible Politikkoalitionen (zur Darstellung solcher Politikkoalitionen: Simon 2000; Noweski 2012) durchsetzten konnten. Eine solche Studie steht freilich noch aus.

 

Wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik: Treibmittel der Kommerzialisierung

Der Begriff der Kommerzialisierung verweist auf „die Bedeutungszunahme der Erzielung eines finanziellen Gewinns bzw. der Dominanz finanzieller Anreizsysteme für die Steuerung und Organisation einzelner (privater und öffentlicher) Leistungserbringer sowie des Versorgungssystems insgesamt bei gleichzeitiger Abnahme der Bedeutung des öffentlich (im Krankenversorgungssystem als das medizinisch Notwendige) definierten und geplanten Versorgungsbedarfs einer umgrenzten Bevölkerungsgruppe.“

Kai Mosebach (2010: 13)

 

Nach dieser kurzen hegemonietheoretischen Skizze der Bedeutung gesundheitsökonomischer Diskurse für die Gesundheitspolitik in Deutschland soll nun abschließend in aller Kürze begründet werden, warum die hegemoniale Reformstrategie der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik als Treibmittel der Kommerzialisierung zu betrachten ist und die – von Alexander Braun zurecht kritisierte – Entstehung eines „Zweiten Gesundheitsmarktes“ nur ein Folgeproblem dieser gesundheitspolitischen Modernisierungsstrategie im Kontext eines neoliberal ausgerichteten deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells darstellt.

Es ist an dieser Stelle natürlich nicht möglich, die Elemente der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik in Deutschland ausführlich zu beschreiben (vgl. dazu: Gerlinger/Mosebach 2009). Die Grundidee ist jedoch einfach, sie basiert auf der empirischen Beobachtung, dass zum einen im deutschen Gesundheitssystem die Idee der Budgetierung öffentlicher Finanzierungsquellen der Kranken- und Gesundheitsversorgung, die bislang eher mit staatlichen Gesundheitssystemen assoziiert wurde, an Bedeutung zugenommen hat und zum anderen in diesem Budgetrahmen die Initiierung von (internem) Wettbewerb vermittels der voranstehend dargestellten Elemente entsprechende Effizienzvorteile in der Krankenversorgung heben soll (vgl. z.B. Wille 1999 zu einer autoritativen Begründung dieser Strategie). Unter den Bedingungen knapper finanzieller Mittel öffentlicher (Para-)Haushalte verwandelt sich freilich der versprochene Qualitäts- oder gar Preiswettbewerb (letzteren gibt es nur vereinzelt) in eine Verdrängungswettbewerb, wobei durchaus unklar ist, ob sich bessere Qualität oder höhere finanzielle Potenz durchsetzt.

Trotz aller Wettbewerbsrhetorik ist es ein empirisches Faktum, dass sowohl auf der Kostenträger- als auch der Leistungserbringerseite sich eine Marktvermachtung durchsetzt, die zumindest die Frage aufwerfen sollte, wer sicherstellt, dass diese Marktmacht im Sinne der Nutzerinnen und Patienten ausgeübt wird. Die gesundheitsökonomische Idee, dass Krankenversicherungen (lies: auch Krankenkassen) als „Advokaten“ ihrer Versicherten auftreten (so z.B. Cassel 2002; Breyer/Zweifel/Kifmann 2005) mag zwar normativ wünschenswert sein, ist aber empirisch nicht unbedingt gegeben, reflektiert man die weiterhin vorhandenen Möglichkeiten für Risikoselektion für gesetzliche Krankenkassen, aber natürlich besonders für private Krankenversicherungsunternehmen.

Besonders problematisch wird es jedoch, wenn die Marktmacht der Leistungserbringer reflektiert wird. Zweifellos versuchen die meisten Ärztinnen, Pflegekräfte und andere Gesundheitsdienstleister für ihre Patienten das Beste zu leisten. Doch die Regulierung dieser (individuellen oder korporativen) Anbieter von Gesundheits- und Krankenversorgungsleistungen über die Manipulation ihrer ökonomischen Rationalkalküle bringt ein destabilisierendes Element in das solidarische Gesundheitssystem der GKV. Dem Kostendruck, der auf dem System ruht (und seinen Ursprung in der neoliberalen Budgetierung hat) kann auf betriebswirtschaftlicher Weise durch Kosteneinsparung und Erlösausweitung begegnet werden. Welcher Weg auch gewählt wird, die Konsequenz ist klar: Patientinnen und Patienten genauso wie Versicherte werden nach ihren ökonomischem „Mehrwert“ selektiert, denn es gibt „keinen Wettbewerb um Versicherte und Patienten schlechthin […], sondern immer nur um erwünschte Versicherte und Patienten.“ (Kühn 1993: 27).

Unter den Bedingungen permanenter Austerität und stagnierender Reallöhne, aber auch der quasi neomerkantilistischen Fixierung auf Leistungsbilanzüberschüsse, bei denen Löhnen und Gehältern oftmals ihre „Dialektik“ (Karl-August Zinn) als Kosten- und Nachfragefaktor genommen ist und sie nur noch als „Kostenfaktoren“ für relevant erachtet werden, wird das eigentlich gesundheitsökonomisch unbeliebte Instrument der Budgetierung zum sprichwörtlichen Zünglein an der Waage. Das (neoklassische) Dogma der (zu hohen) Lohnkosten, das im theoretischen Datenkranz der Gesundheitsökonomie mitgeschleppt wird, lässt die Waage – um im Bild zu bleiben – in Richtung Kommerzialisierung der Gesundheitssystems kippen. Denn eines haben die Konstrukteure der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik vergessen: sie haben die Rechnung ohne den Wirt geschrieben und darauf gehofft, dass der kassengesteuerte Wettbewerb die Macht der Leistungserbringer, insbesondere ihre Macht, die unspezifische Nachfrage des Patienten in messbare Geldeinheiten zu transformieren („angebotsinduzierte Nachfrage“) brechen würde. Die ständig neuen Skandale und Bereicherungsgeschichten im Gesundheitssystem strafen solche naiven Märchen Lügen. Der Versuch, im Kontext einer kapitalistischen Geld- und Arbeitsgesellschaft die Macht der Leistungsanbieter von öffentlich finanzierten Gesundheitsdienstleistungen dadurch zu brechen, dass sie über ihre ökonomischen Kalküle gesteuert werden, gleicht dem sinnlosen Versuch, die wirtschaftliche Überlegenheit des Sozialismus mittels der administrativen Erhöhung von Produktivitätszielen durchzusetzen. Ein Gesellschaftsbereich, der sich nicht wettbewerblich organisieren lässt, sollte daher auch nicht künstlich dazu gedrängt werden – „sinnlose Wettbewerbe“ (Binswanger 2012) und die Entdeckung des „ Geschäftsmodell[s] Gesundheit“ (Maio 2014) sind die unausweichliche Folge.

 

Gewerkschaften und Gesundheitsökonomik: jenseits von solidarischer Wettbewerbsordnung

Was folgt daraus für die gewerkschaftliche Strategie? Zunächst einmal gilt es zu verstehen, dass politisch hergestellter Wettbewerb im Gesundheitswesen grundsätzlich ein Teil des Problems und nicht die Lösung seiner vielen Steuerungsprobleme ist (so bereits: Stegmüller 1996: 275ff.; Mosebach 2013). Das wäre schon ein bemerkenswerter Schritt, singen doch viele GewerkschafterInnen das Loblied auf die „solidarische Wettbewerbsordnung“ (Rebscher 1993), welche die GKV verkörpern solle (gern noch mit der PKV zur Bürgerversicherung erweitert). Wenn die GKV – wie viele Gewerkschafter und Gesundheitsökonomen behaupten – insgesamt eine Solidargemeinschaft ist, warum besteht dann Bedarf an mehreren Krankenkassen? Für die Durchsetzung von mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern ist zweifellos kein Krankenkassenwettbewerb notwendig. Das ist ein Gründungsmythos der Restaurationsperiode der deutschen Krankenversicherung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zahlreiche staatliche Gesundheitssysteme verzichten auf dieses Element, ohne dass in ihnen wettbewerbliche Elemente nicht möglich wären. Der Verweis auf Jeremy Corbyn in Brauns Beitrag ist dabei etwas schief, wenn er die Bedeutung des nationalen Gesundheitsdienstes für die neue Strategie der Labour-Partei unterstreicht und als Beispiel für gewerkschaftliche Politik anpreist. Allerdings – und das habe ich oben zu zeigen versucht – ist es ein Irrtum zu glauben, staatliche Systeme seien vor der Gefahr der Kommerzialisierung gebannt. Das Gegenteil ist richtig (vgl. Tritter et al. 2010).

Doch die Kritik an den fragwürdigen Zielen des Wettbewerbs im Gesundheitswesen ist nur die eine Seite einer notwendigen Neuorientierung. Die andere bestünde darin einzusehen, die Rede von einem „solidarischen“ Wettbewerb als das zu entlarven, was sie ist, eine (doppelte) Ideologie für die Ko-Existenz eines unsolidarischen Systems, in dem sich die reicheren und gesünderen Schichten der Solidarität mit ihren einkommensschwächeren Brüdern und Schwestern entwinden können. Doch selbst die gewissermaßen als „Sozialismus in einer Klasse“ (Fritz W. Scharpf) zu bezeichnende Solidargemeinschaft in der GKV kommt im Geiste der solidarischen Wettbewerbsordnung unter die Räder (so bereits: Gerlinger/Mosebach/Schmucker 2008). Denn der faktisch „entbettete Markt(wettbewerb)“ (Altvater/Mahnkopf 1999) im Gesundheitswesen unterminiert jene Normen, für deren Realisierung er vorgeblich eingerichtet wurde. Die Anrufung einer „solidarischen Wettbewerbsordnung“ ist eine gefährliche Chimäre, denn „kompetitive Solidarität existiert nicht“ (Verhaeghe 2012: 224), so dass es neuer Perspektiven auf der Suche nach Alternativen bedarf. Dabei ist gewiss, dass der Sinn von (Gesundheits-)Ökonomie vor allem darin zu bestehen hat, was einst die Keynes-Schülerin Joan Robinson kritisch meinte: „The purpose of studying economics is to learn how not to be deceived by economists.“ (Joan Robinson, Basel Lecture 1969, zit. n. Varoufakis (1998: 46).

 

Literatur

Abel-Smith, Brian/Mossialos. Elias (1994): Cost containment and health care reform: a study of the European Union, in: Health Policy 28, 89-132.

Alexander, Andrea/Rath, Thomas (Hrsg./2001): Krankenkassen im Wandel. Organisationsentwicklung als Herausforderung, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.

Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit (1999): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. 4., völlig überarbeitete Auflage, Münster: Westfälisches Dampfboot.

Amelung, Volker (2012): Managed Care. Neue Wege im Gesundheitsmanagement. Unter Mitwirkung von
 Anika Brümmer, Dr. Mirella Cacace,
 Christoph Wagner, Professor Dr. Axel Mühlbacher, Susanne Bethge, Professor Dr. Katharina Janus, Dr. Andreas Domdey und PD Dr. Christian Krauth. 5. Auflage, Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Appleby, John (1991): Financing health care in the 1990s, Buckingham/Philadelphia: Open University Press.

Arrow, Kenneth J. (1963): Uncertainty and the Welfare Economics of Medial Care, in: American Economic Review 53(5), 941-973.

Barr, Nicolas (2004): Economics of the Welfare State. Fourth Edition, Oxford: Oxford University Press.

Baumol, William J. (2012): The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t, New Haven: Yale University Press (E-Book).

Binswanger, Mathias (2012): Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren, Freiburg i.Br.: Herder.

Blomqvist, Paula/Winblad, Ulrika (2013): Continued Marketization within a Universalist System, in: Emmanuele Pavolini/Ana M. Guillén (Eds.): Health Care Systems inn Europe under Austerity. Institutional Reforms and Performance, Houndmills/New York; PalgraveMacmillan, 9-30.

Bode, Ingo (2004): Disorganisierter Wohlfahrtskapitalismus. Die Reorganisation des Sozialsektors in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Wiesbaden: VS Verlag.

Braun, Alexander (2017): Gesundheitsökonomik und Politik. Eine ideengeschichtliche Verortung, in: Sozialismus 44(10), 41-44.

Braun, Bernard (2014): Auswirkungen der DRGs auf Versorgungsqualität
 und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, in: Andrea Manzei/Rudi Schmiede (Hrsg.): 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen. Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medizin und Pflege, Wiesbaden: Springer VS, 91-114.

Braun, Bernard/Buhr, Petra/Klinke, Sebastian/Müller, Rolf/Rosenbrock, Rolf (Hrsg./2010): Pauschalpatienten Kurzlieger und Draufzahler – Auswirkungen der DRGs auf Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, Bern et al.: Huber.

Braun, Bernard/Kühn, Hagen/Reiners, Hartmut (1998): Das Märchen von der Kostenexplosion. Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag.

Breyer, Friedrich/Kifmann, Mathias/Zweifel, Peter (2005): Gesundheitsökonomik. 5., überarbeitete Auflage, Berlin et al: Springer.

Busse, Reinhard/Geissler, Alexander/Quentin, Wilm/Wiley, Miriam (Eds./2011): Diagnosis related groups in Europe. Moving towards transparency, efficiency and quality in hospitals, Maidenhead/New York: Open University Press.

Cassel, Dieter (2002): Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung: Funktionsbedingungen, Wir- kungsweise und Gestaltungsbedarf, in: Arnold, Michael/Klauber, Jurgen/Schellschmidt, Henner (Hrsg.): Krankenhaus-Report 2002, Stuttgart/New York.: Schattauer, S. 3-20.

Deppe, Hans-Ulrich (2005): Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems. Neoliberalismus und Gesundheitspolitik in Deutschland. 3., aktualisierte Auflage, Frankfurt a.M.: VAS Verlag.

Deutscher Bundestag (1990): Enquete-Kommission des Bundestages zur „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung“. BT-Drucksache II/6380, Bonn.

Döhler, Marian (1990): Gesundheitspolitik nach der „Wende“. Policy-Netzwerke und ordnungspolitischer Strategiewechsel in Großbritannien, den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Edition Sigma.

Donaldson, Cam/Gerard, Karen (2005): Economics of Health Care Financing, Basingstoke/New York: PalgraveMacmillan.

Dunn, Stephen (2006): Prolegomena to a Post Keynesian Health Economics, in: Review of Social Economy 64(3), 273-299.

Enthoven, Alain C. (1993): Why Managed Care Has Failed to Contain Heatlh Costs, in: Health Affairs 12(3), 27-43.

Enthoven, Alain C. (1988): Theory and Practice of Managed Competition in Health Care Finance, Amsterdam: Elsevier Publishers (E-Book).

Fritsch, Michael/Wein, Thomas/Ewers, Hans-Jürgen (2007): Marktversagen und Wirtschaftspolitik. Mikroökonomische Grundlagen staatlichen Handelns, München: Vahlen.

Gerlinger, Thomas (2002): Zwischen Korporatismus und Wettbewerb: Gesundheitspolitische Steuerung im Wandel, DP P02-204,Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin, AG Public Health.

Gerlinger, Thomas/Mosebach, Kai (2009): Die Ökonomisierung des deutschen Gesundheitswesens: Ursachen, Ziele und Wirkungen wettbewerbsbasierter Kostendämpfungspolitik. In: Böhlke, N. et al. (Eds.), Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigte, Hamburg: VSA, 10-40.

Gerlinger, Thomas/Mosebach, Kai/Schmucker, Rolf (2008): Mehr Staat, mehr Wettbewerb: Gesundheitsfonds ante portas, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 53(10), 107-116.

Gerlinger, Thomas/Mosebach, Kai/Schucker, Rolf (2007): Wettbewerbssteuerung im GKV-WSG. Eine Einschätzung möglicher Effekte auf das Akteurshandelns im Gesundheitssystem, in: Jahrbuch Kritische Medizin 44: Geld als Steuerungsmedium im Gesundheitswesen, 6-24.

Gingrich, Jane R. (2013): Making Markets in the Welfare State. The Politics of Varying Market Reforms, Cambridge/New York: Cambridge University Press.

Gottweis, Herbert (2004): Verwaltete Körper. Strategien der Gesundheitspolitik im internationalen Vergleich, Wien: Böhlau Verlag.

Greß, Stefan (2002): Krankenversicherung und Wettbewerb. Das Beispiel Niederlande, Frankfurt a.M./New York: Campus.

Hajen, Leonhard/Paetow, Holger/Schumacher, Harald (2013): Gesundheitsökonomie. Strukturen, Methoden, Praxisbeispiele. 7., überarbeitete Auflage, Stuttgart: Kohlhammer.

Harrison, Michael I. (2004): Implementing Change in Health Systems. Market Reforms in the United Kingdom, Sweden & The Netherlands, London et al.: SAGE.

Herder-Dornreich, Philipp (1994): Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens. Problemgeschichte, Problembereiche, Theoretische Grundlagen, Baden-Baden: Nomos.

Keynes, John Maynard (1997[1936]): The General Theory of Employment, Interest, and Money, New York: Prometheus Books.

Klein , Rudolf (2013): The New Politics of the NHS. From Creation to Reinvention. Seventh Edition, London/New York: Radcliffe Publishing.

Knieps, Franz/Reiners, Hartmut (2015): Gesundheitsreformen in Deutschland. Geschichte – Intentionen – Kontroversen, Bern et al: Huber.

Kühn, Hagen (2001): Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung und das Instrument der Budgetierung, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin, AG Public Health.

Kühn, Hagen (1993): Gesundheitspolitik ohne Ziel: Zum sozialen Gehalt der Wettbewerbskonzepte in der Reformdebatte, in: Hans-Ulrich Deppe/Hannes Friedrich/Rainer Müller (Hrsg.): Qualität und Qualifikation im Gesundheitswesen, Frankfurt a. M./New York: Campus, 11-35.

Kuttner, Robert (1997): Everything for Sale. The Virtues and Limits of Markets, Chicago: University of Chicago Press.

Maio, Giovanni (2014): Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft, Berlin: Suhrkamp.

Marmor, Theodore R. (1998): The procompetitive movement in American medical politics, in: Wendy Ranade (Eds.): Markets and Health Care. A Comparative Analysis, London/New York: Longman, 54-72.

Light, Donald (2000): The Sociological Character of Health-Care Markets. In: Albrecht, G.L./Fitzpatrick, R./Scrimshaw, S.C. (Eds.), The Handbook of Social Studies in Health & Medicine, London et al.: SAGE, 394-408

Mosebach, Kai (2017): Making Sense of Health Care Commercialization and Liberal Utopias of Market-Driven Health Care: Theoretical Explorations in Karl Polanyi’s Double Movement Concept as Critique of the Global Health Care Reform Industry. Paper presented at the international conference ‚Great Transformations? Global Perspectives on Contemporary Capitalism’, 9-13 January 2017 at the Johannes Kepler University in Linz, Austria (January 13th 2017).

Mosebach, Kai (2013): Markt + Staat = Effizienz im Gesundheitswesen? Einige kritische Anmerkungen. In: Public Health Forum 21(4), 4-5.

Mosebach, Kai (2010): Kommerzialisierung der deutschen Krankenhausversorgung? Auswirkungen von New Public Management und Managed Care unter neoliberalen Bedingungen. Diskussionspapier 1/2010. Institut für Medizinische Soziologie. Fachbereich Humanmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität: Frankfurt a.M.

Mosebach, Kai (2006): Der neue „Polder-Geist“. Der niederländische Systemwechsel als Menetekel einer privatisierten Gesundheitsversorgung in Deutschland?, in: Sozialismus 33(5), 24-31.

Mosebach, Kai (i.E.): Health Care Commercialization, Health Economics and the Rise of the Competitive Health Care State. A Post-Polanyian Critique of Competitive-Based Cost Containment Policies in European Health Care States. Discussion Paper. Department of Social and Health Care. University of Applied Science Ludwigshafen on the Rhine (Germany).

Mosebach, Kai (o.J.): Wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik als hegemoniale Modernisierungsstrategie und die divergente Konvergenz von Gesundheitssystemen der OECD-Welt. Unveröffentlichtes Manuskript, Oberursel/Ludwigshafen am Rhein.

Noweski, Michael (2012): Der Gesundheitsmarkt: Liberalisierung und Reregulierung als Resultat politischer Koalitionen. 2. Auflage, Berlin: Verlag Dr. Köster.

OECD (1994): The Reform of Health Systems: A Review of Seventeen OECD Countries, Paris: OECD.

OECD (1992) Reform of Health Care: a comparative analysis of seven OECD countries, Paris: OECD.

OECD (1987) Financing and Delivering Health Care. A comparative analysis of OECD countries, Paris: OECD.

Okma, Kieke/Roo, Aad A. de (2009): The Netherlands: From Polder Model to Modern Management, in: Theodore R. Marmor/Richard Freeman/Kieke Okma (Eds./2009): Comparative Studies & the Politics of Modern Medical Care, New Haven/London: Yale University Press, 120-152.

Okma, Kieke/Marmor, Theodore R./Oberlander, Johnathan (2011): Managed Competition for Medicare? Sobering Lessons from the Netherlands, in: New England Journal of Medicine 365(4), 287-289.

Oppen, Maria (1995): Qualitätsmanagement. Grundverständnisse, Umsetzungsstrategien und ein Erfolgsbericht: die Krankenkassen. Modernisierung des öffentlichen Sektors Bd. 6, Berlin: Edition Sigma.

Patel, Kant/Rushefsky, Mark (2006): Health Care Politics and Policy in America. Third Edition, New York: M.E. Sharpe.

Preuß, Klaus-Jürgen/Rübiger, Jutta/Sommer, Jürg H. (Hrsg./2002): Managed Care: Evaluation und Performance-Measurement integrierter Versorgungsmodelle. Stand der Entwicklung in der EU, der Schweiz und den USA, Stuttgart u.a.: Schattauer.

Rothgang, Heinz/Preuss, Maike (2008): Ökonomisierung der Sozialpolitik? Neue Begründungsmuster sozialstaatlicher Tätigkeit in der Gesundheits- und Familienpolitik, in: Adalbert Evers/Rolf G. Heinze (Hrsg): Sozialpolitik. Ökonomisierung und Entgrenzung, Wiesbaden: VS Verlag, 31-48.

Rebscher, Herbert (1993): Skizze einer Solidarischen Wettbewerbsordnung, in: Arbeit und Sozialpolitik 47(5-6), 39-43.

Reiners, Hartmut (2011): Mythen der Gesundheitspolitik. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Bern et al.: Huber.

Reiners, Hartmut (2006): Der Homo oeconomicus im Gesundheitswesen. Disskussionspapier 2006-305. Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Public Health Forschungsschwerpunkt Arbeit, Sozialstruktur und Sozialstaat Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB): Berlin.

Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2013): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. 3., vollständig überarbeitete Auflage, Bern et al: Huber.

Saltman, Richard B./Figueras, Josep (1997): European Health Care Reform. Analysis of Current Strategies. WHO Regional Publications, European Series No. 72, Copenhagen: WHO-Regional Office for Europe.

Sattler, Christiane (1999): Public Policy and Private Forces. Das Gesundheitssystem der USA in den 1990ern. Dissertation an der Universitat Hannover, Hannover.

Schulenburg, Matthias Graf von der/Greiner, Wolfgang (2000): Gesundheitsökonomik, Tübingen: Mohr Siebeck.

Simon, Michael (2017): Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 6., vollständig aktualisierte und überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe.

Simon, Michael (2000): Krankenhauspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung und Probleme der politischen Steuerung stationärer Krankenversorgung, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Starr, Paul A. (1984): The Social Transformation of American Medicine. The rise of a sovereign profes- sion and the making of a vast industry, o.O.: Basic Books.

Stegmüller, Klaus (1996): Wettbewerb im Gesundheitswesen. Konzeptionen zur ‚dritten Reformstufe’ der Gesetzlichen Krankenversicherung, Frankfurt a.M.: VAS Verlag.

Thomasberger, Claus (2014): Fictitious Ideas, Social Facts and the Double Movement: Polanyi’s Framework in the Age of Neoliberalism (First Draft, Nov. 2014). Paper presented at the 13th International Karl Polanyi Conference ‚The Enduring Legacy of Karl Polanyi‘, Concordia University, 6-8 November 2014 (Montreal, Canada).

Tritter, Johnathan et al. (2010): Globalisation, Markets and Healthcare Policy: Redrawing the Patient as Consumer. Critical Studies in Health and Society Series, Abingdon/New York: Routledge

Varoufakis , Yanis (1998): Foundations of Economics. A Beginner’s Companion, London/New York: Routledge (E-Book).

Verhaeghe, Paul (2012): Und Ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft, München: Antje Kunstmann.

Wille, Eberhard (1999): Auswirkungen des Wettbewerbs auf die gesetzliche Krankenversicherung. In: Wille, E. (Eds.), Zur Rolle des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung. Gesundheitsversorgung zwischen staatlicher Administration, korporativer Koordination und marktwirtschaftlicher Steuerung. Gesundheitsökonomische Beiträge, Band 33. Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gäfgen und Prof. Dr. Peter Oberender, Baden-Baden: Nomos, 95-156.

[1]          Getreu der berüchtigten Alltagsweisheit, halb zog sie ihn, halb sank er hin, lässt sich dieser vermeintliche Moral Hazard von Patienten, die den (vermeintlichen) Nutzen ihrer Beiträge optimieren wollen, natürlich mit gleicher Berechtigung auch als Kehrseite einer Situation interpretieren, in der die Ärztin ihre Einkommensinteressen gemäß dem Theorem der angebotsinduzierten Nachfrage durchsetzen will. Empirische Untersuchungen zu den sogenannten IGeL-Leistungen (individuelle Gesundheitsleistungen), die von der GKV wegen einer nicht nachgewiesenen medizinischen Notwendigkeit nicht erstattet werden, legen eine solche Re-Interpretation nahe, sind es doch vor allem LeistungserbringerInnen, die vermittels des Verschweigens dieser Gründe gegenüber ihren Patienten eine solche Orientierung zumindest unterstützen.

[2]          Ich habe in zwei englischsprachigen Veröffentlichungen dieses Paradox ausführlicher erörtert und als Diskurseffekt eines globalen Reformdiskurses diagnostiziert, der die politische Simulation von Marktwettbewerb im Gesundheitswesen als „liberale Utopie“ im Sinne Karl Polanyis konstituiert und die gesundheitspolitische Reformagenda maßgeblich geprägt hat (vgl. Mosebach 2017; Mosebach i.E.).

[3]          Alexander Braun (2017: 43) verweist an einer Stelle seines Beitrages kurz auf das Konzept „managed competition von Enthoven“, ohne jedoch dessen immense Bedeutung gerade auch für den Krankenkassenwettbewerb im deutschen Gesundheitswesen zu erkennen. Bei seiner zutreffenden Kritik vor allem am „zweite[n] ‚private[n] Gesundheitsmarkt“ (ebd.) übersieht er jedoch, dass die wirkliche bedeutsame Herausforderung das Konzept von Enthoven ist.

[4]          Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem längeren, bislang unveröffentlichten Manuskript des Autors: Mosebach o.J.

[5]          Der jüngst verstorbene US-amerikanische Ökonom William R. Baumol etwa vertrat die alternative These, dass die (weithin belegbare) rasante Zunahme des Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in den USA einer als Cost-Disease bezeichneten besonderen Eigenschaft personennaher Dienstleistungen zu verdanken sind, die sich aus deren – längerfristigen – geringen Produktivitätsreserven im Vergleich zu andern Branchen der Ökonomie erkläre (Baumol 2012). Seine – kontroverse – These ist aber allein deswegen spannend, weil sie makroökonomische und politökonomische Aspekte des Anstiegs der sog. makrökonomischen Gesundheitsquote thematisiert (vgl. auch: Kühn 2001).

[6]          Tatsächlich wollte sich Enthoven nicht auf eine staatliche Behörde festlegen, sondern erhoffte sich von einer Art privaten Clearing-Organisation entsprechende Regulierungsaufgaben. Robert Kuttner (1997: 139) – der Doyen des linksliberalen Spektrums der Demokratischen Partei in den USA – spottete zurecht darüber, wer außer dem Staat können eine solche Aufgabe – gerade auch im Hinblick auf die rechtliche Bindekraft – wahrnehmen.

[7]          Ökonomisierung und Kommerzialisierung bezeichnen nicht dasselbe, auch wenn sie im gesundheitspolitischen Diskurs oft identisch benutzt werden. Analytisch sollte jedoch Ökonomisierung von Kommerzialisierung getrennt werden, denn in einem öffentlichen Finanzierungssystem ist eine gewisse Ökonomisierung unvermeidbar, insofern und wenn sie auf die möglichst effiziente und effektive Verwendung dieser solidarischen Finanzmittel von Dritten („Third Party Payments“) abzielt. Im Begriff der Kommerzialisierung jedoch kommt vor allem das Element des ökonomischen Primats der Kostensenkung (um jeden Preis) und/oder der Gewinnsteigerung als Handlungsziel zum Ausdruck, die in einem öffentlichen/staatlichen Gesundheitssystem auch eine „regulative“ Komponente hat (Tritter et al. 2010: passim).

[8]          Alain C.Enthoven (1988: Kapitel 2) bezieht sich vor allem auf die sog. Health Maintenance Organziations, die „Oldtimer“ von Managed Care-Organisationen (vgl. auch Amelung 2012: 65ff.), verwendet aber den Begriff Managed Care in seinem Buch nicht (siehe aber: Enthoven 1993).

[9]          Die zutreffende Beobachtung, dass die deutsche DRG-Version (G-DRGs im technokratischen Terminus) auf australischen DRGs beruhte, steht dieser These nicht entgegen. Die australische Version der DRGs war schlicht für die administrative Umsetzung in Deutschland aufgrund ihrer höheren Differenziertheit und epidemiologischen Nähe praktikabler als die begrenzte US-Version. Hegemonietheoretisch ist dieses technische Detail jedoch ohne Bedeutung.