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Review von Petersen/Lupton, New Public Health – eine Generation später

Alan Petersen/Deborah Lupton (1996): The New Public Health. Discourses, Knowledges, Strategies, London: Sage.

Nachzu vierzig Jahre nach der Verabschiedung der Ottawa-Charta und fast dreißig Jahre nach dem Erscheinen eines der ersten kritischen Erörterungen der neuen New Public Health-Bewegung aus einer an Michel Foucault anschließenden Perspektive ist es Zeit, sowohl die Erfolge (und Misserfolge) der Ottawa-Charta als auch die analytische Fruchtbarkeit der Governmentality-Studies im Anschluss an Michel Foucault im Hinblick auf eine kritische Bewertung und kritisch-konstruktive Weiterentwicklung des New Public Health-Gedankens einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Hierzu werde ich erstens die Grundthesen und -kritiken des pionierhaften Buches von Petersen/Lupton (im Folgenden mit PL abgekürzt) rekapitulieren, um dann vor dem Hintergrund der  institutionellen,  organisatorischen und diskursiven Weiterentwicklung (und Fortschreibung) der Ottawa-Charta in einem zweiten Schritt erörtern, ob die paradigmatische und originelle Kritik von PL an der New Public Health (NPH) immer noch lesenswert und (zumindest zum Teil) noch gültig ist.

Das Buch ist voller interessanter Sichtweisen und Kritiken, die hier nicht in umfassender Weise vorgetragen werden können. Ein Lektüre ersetzt dieser Review somit nicht, wenn die Tiefe und Detailliertheit der Argumentation interessiert. Allerdings lassen sich die grundlegenden Thesen zum Thema in einigen Punkten konturiert zusammenfassen. Was also ist zunächst der Gegenstand? Was ist, mit anderen Worten, New Public Health? PL beziehen sich auf eine autoritative Definition der beiden britischen Gesundheitswissenschaftler J Asthon und J Seymour. Diese definieren New Public Health in kritischer Abgrenzung zu biomedizinischen Konzepten und Ätiologien einerseits und in Fokussierung auf vor allem chronisch Erkankte andererseits. New Public Health ist also ein gesundheitspolitischer Ansatz, der von einer anderen epidemiologischen Situation ausgeht als jene Old Public Health im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, als es noch um die „Bekämpfung“ übertragbarer Krankheiten ging. Mitterweile stellen eben nicht-übertragbare Krankheiten das Gros der Krankheitslast in (post-)modernen Gesellschaften dar. Im Gegensatz zu individualistisch ausgeprägten medizinischen Ansätzen will New Public Health ein „blaming the victim“ verhindern, stellt jedoch den „lifestyle“ in den Mittelpunkt, der von Ashton und Seymour als soziales Konzept verstanden wird.  Der Gegenstand und Zugang von NPH wird von diesen beiden Autoren – in Übereinstimmung mit heute noch gültigen Zielsetzungen (vgl. zum Beispiel Rosenbrock 2001) – mit folgenden Worten beschrieben:

Many contemporary health problems are therefore seen as being social rather than solely individual problems; underlying them are concrete issues of local and national public policy, and what are needed to adress these problems are ‚Healthy Public Policy‘ – policies in many fields which support the promotion of health. In the New Public Health the environment is social and psychological as well as physical. (1988, p. 21). [zit.n. PL, P. 4]

Was kann gegen eine solche thematische Fokussierung, normative Fundierung und analytische Rahmung von New Public Health kritisch eingewandt werden? Petersen und Lupton wissen, dass ihre Kritiken den normativen Überzeugungen von NPH-Aktivisten einem gewissen Stress aussetzen. Ihre Kritik wendet sich weniger gegen die normativen Zielsetzungen von NPH per se wie sie in der obigen Definition zum Ausdruck kommen, sondern mehr gegen ihre gesellschaftliche Realität und politische Umsetzung. Ihr Hauptkritikpunkt besteht darin, dass NPH an den bestehenden gesellschaftlichen Machtbeziehungen, sozialen Werten und diskursiv durch Experten konstituierten Wissensregimes nichts ändert und sich mit der neoliberalen Gesellschaftlichkeit, deren Kern im Umbau der politökonomischen Grundlagen (neoliberaler Globalkapitalismus) und institutionellen Fundamante des Wohlfahrtskapitalismus (Flexibilisierung) – beginnend im anglo-amerikanischen Raum – ist, arrangiert. Das theoretische Fundament ihrer Kritik an NPH sind die in den 1990er Jahre aufkommenden Erkenntnisse der Governmentality-Studies, einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Lemke 1997, 2000), über deren Implikationen und Auswirkungen auf die Implementierung der neuen gesundheitspolitischen Strategie sich die Befürworter von NPH (in den angloamerikanischen Ländern) entweder keine  Gedanken gemacht oder aber sogar begrüßt haben. Sie haben eine dezidiert diskurstheoretischen Zugriff auf ihren Gegenstand, der Fragen nach den „wirklichen Ursachen“ zunächst einmal ausschließt (vgl. hierzu die Beiträge in Petersen/Bunton 1997 sowie die groß angelegte Einführungen in die Foucault’sche Historische Soziologie von Dean 1994, 2010).

THEORETISCHE BAUSTEINE: NEOLIBERALISMUS, POLITISCHE MACHT UND NEOSOZIALE MORALITÄT

Im ersten Kapitel (PL 1996: 1-26) entwerfen Petersen und Lupton das Grundgerüst ihrer Argumentation. Sie kritisieren, dass die Konzeptionen und die Praxis von New Public Health eine „neue Moral“ begründe, in einen Diskurs über Pflichten eingebettet sei. Vermeintlich ihre Freiheit verfolgende Individuen orientierten sich via eingeübter Selbsttechnologien und staatlichen Herrschaftstechniken an diesen konstituierten Normen und werden, die nicht nur von Expertenwissen und Diskursen über „Gesundheitsrisiken“ maßgeblich geprägt werden, sondern auch zu einer Einpassung der individuellen Strategien in einen überindividuellen Herrschaftszusammenhang führten. Die Grundauffassung jener als „Neoliberalismus“ bezeichneten wohlfahrtsstaatskritischen Philosophie und Praxis fassen PL (1996: 10f.) in Anlehnung an Burchell et al. (1991) sowie Rose/Miller (1992) paraphrasierend wie folgt zusammen:

The emphasis on individual and collective entrepreneurialism in health and welfare, and the devolution of responsibility for health care and other social services to ‚communities‘ […]. Briefly put, neo-liberalism reinstates liberal principles, including the notion that individuals are atomistic, rational agents whose existence and interests are prior to society; scepticism about the capacities of political authorities to properly govern; vigilance over attempts of such authorities to govern; an emphasis on markets over planning as regulators of economic activity […]. Neo-liberalist rule operates not through imposing constraints upon citizens but rather through the ‚making up‘ of citizens capable of exercising regulated freedom (Rose & Miller 1992, p. 174). Personal autonomy, therefore is not antithetical to political power, but rather is part of its exercise since power operates most effectively when subjects actively participate in the process of governance.

Neben dieser Inklusion bzw. aktiven Mitkonstitution von (vermeintlich) frei handelnden Individuen in eine bzw. der neoliberale(n) Herrschaftsstrategie sticht vor allem der Mechanismus des Marktes  hervor. Neoliberalismus ist im Verständnis des gouvernementalitätstheoretischen Ansatzes sowohl mit Staatlichkeit als auch der (selbststilisierten) persönlichen Autonomie des Einzelnen, zum Teil auch eben gegen den Staat vereinbar. Neoliberalismus bedeutet nicht das Ende des Staates, sondern – wenn überhaupt – eine theoretische wie praktische Kritik des Wohlfahrtsstaates, die zu seiner Transformation führt (vgl. ausführlicher: Lessenich 2012, 2013).

Neo-liberal government, then, is dependent upon technologies for ‚governing at a distance‘, seeking to create localities, entities and persons able to operate a regulated autonomy (Rose & Miller 1992, p. 173). One of the chief mechanisms of neo-liberalism is the attempt to create and sustain a ‚market‘. Although the state ist still seen to have a role in defending the interests of the population in the international sphere and in creating a legal framework for social and economic life, the emphasis is on “autnomization‘ of the state from direct controls over, and responsibility for, the actions and calculations of business, welfare organisations, and so forth‘ (Rose & Miller 1992, p. 199). (PL 1996: 11)

In Bezug auf New Public Health bedeutet diese theoretische Grundierung, dass die mit ihr verbundenen Strategien der Gesundheitsförderung (‚health promotion‘), des sozialen Marketing (’social marketing‘), aber auch der Epidemiologie, Biostatistik, dem diagnostischen Screening, Immunisierung sowie der gemeindebezogenen Partizipation, umfassender Gesundheitspolitik (‚healthy public policy‘), intersektoraler Zusammenarbeit, Anwaltschaft (‚advocacy‘) und Gesundheitsökonomie (‚health economics‘) in einem anderen Licht  betrachtet werden (müssen). Die neue Moralität oder – wie Stephan Lesssenich (2008: 84) es ausdrückt – die „neosoziale Gouvernementalität“ in diesem New Public Health-Diskurs „…seek[s] to transform the awareness of individuals in such a way that they become more self-regulating and productive both in serving their own interests and those of society at large.“ (PL 1996: 12).

Diese sowohl herrschaftlich ‚verordnete‘ als auch sozial ‚erwartete‘ neosoziale Moralität, die sich in gesundheitlichen Imperativen des ‚Beweg dich!‘, ‚Iss weniger Fett!‘ und ‚Reduziere Deinen Stress!‘ ausdrückt, liegt – so die These von Petersen und Lupton – nicht nur in der faktischen Praxis des NPH begründet, sondern eben auch schon in der konzeptionell-theoretischen Anlage. Obwohl oder – wie PL womöglich sagen würden – gerade wegen der Absage der „Bewegung“ für NPH an modernistische Konzepte wie Medizin, Krankenhauskasernierung und trotz des Einsatzes von NPH-Aktivisten für multisziplinäre, intersektorale und partizipatorische Prozesse der Gesundheitsförderung, verharre die NPH-Konzeption in zutiefst modernistischen Rationalitätsansprüchen, gegen deren Wahrheitsansprüche gerade die poststrukturalistische Kritik im Sinne von Foucault und anderen angegangen sei (vgl. zu einem prägnantem Überblick über Postmoderne/Poststrukturalismus: Ritzer 2008: 600ff.; Moebius 2009: 419ff.).

It is not only the strategy of health economics that privileges evaluation; for example there is currently an emphasis upon evaluation, using rational strategies, in all activities of the new public health, including those involving community participation, to see whether they ‚work‘ successfully. Medical, scientific, epidemiological and social scientific knowledges are routinely employed as ‚truths‘ to construct public health ‚problems‘ and to find solutions for dealing with them. (PL 1996: 8)

Eine besondere Rolle bei diesen in rationalistische Konzepte von Ursache, Wirkung, Evaluation eingebetten NPH-Strategien nehmen dabei institutionell und organisatorisch ausgewiesenen ‚Experten‚ und entsprechend rationalistisches ‚Expertenwissen‘ ein. Insbesondere von Bedeutung seien hier die vermittels des (bisweilen sozioökologisch erweiterten) Risikofaktorenmodells erarbeiteten wissenschaftlichen Expertisen über „schädliche Lebensstile“ (‚lifestyles‚), die als – mehr oder wenig verbrämtes – Ergebnis einer individuellen Wahlhandlung betrachtet würden: „Lifestlye theory posits the individual subject as a rational, calculating actor who adopts a prudent attitude in respect to risk and danger.“ (PL 1996: 15). Eine besondere Bedeutung komme bei diesen Expertisen der gesamte WHO-Komplex der „Health-For-All“-Strategie zu, die PL im weiteren Verlauf des Buches noch genauer betrachten. Die Bedeutung der Expertise und der zugehörigen Expertinnen und Experten breche sich daher an der (vermeintlichen) Bedeutung von Empowerment und Partizipation im Diskurs der New Public Health.

Professional expertise remains privileged over lay expertise, as is highly evident in health educational advise to populations on how they should regulate their lives to achieve good health. Thus, while the new public health may draw on a ‚postmodernist‘ type of rhetoric in its claims, it remains at heart a conventionally modernist enterprise. (PL 1996: 8)

Vor diesem (meta-)theoretischem Hintergrund identifizieren Petersen und Lupton im weiten Verlauf ihres Buches zahlreiche Ambivalenzen, Verkürzungen und Blindflecken zentraler NPH-Strategien, die sie im Sinne der Erarbeitung einer „reflexiven Praxis“ (PL 1996: 181; meine Übersetzung) für nötig erachten, um nicht in die ‚NPH-Falle‘ (KM) unsichtbarer Herrschaft und gut gemeinter Strategien zu tappen, denn bekanntlich gilt: „The road to hell is paved with good intentions …“

KRITIK DER EPIDEMIOLOGIE: DER MYTHOS WISSENSCHAFTLICHER ‚FAKTEN‘ UND DIE SOZIALE KONSTRUKTION DES ‚RISKANTEN SELBST‘

Epidemiologie (=Lehre von der Verteilung der Gesundheitszustände und deren Determinanten in der Bevölkerung) gilt als die methodologische Basis der Gesundheitswissenschaften und beruht auf der grundlegende Annahme der statistischen Berechenbarkeit des (Krankheits- und Sterbe-)Risikos und der experimentellen Bewertung der Wichtigkeit und (potentiellen) Kausalitätspotenz von Risikofaktoren (vgl. Klemperer 2015: 157ff.; Razum/Breckenkamp/Brzoska 2017; Egger/Razum 2018: 31ff.). PL (1996: 27ff.) kritisieren die dominante Stellung der Epidemiologie in zweifacher Hinsicht. Zum einen unterstelle die Epidemiologie die im Prinzip unproblematische Kreation von ‚epidemiologischen Fakten‘ und suggeriere damit die Erreichung einer (quasi-naturwissenschaftlichen) objektiven Wahrheit über das ‚Wesen‘ und die Ursachen von Krankheitszuständen. Diese oftmals in der Praxis epidemiologischer Forschung unreflektierte Prämisse halten Petersen und Lupton aus wissenschaftstheoretischer Perspektive für unhaltbar. Zum anderen werfen sie in der Folge dieser wissenschaftstheoretischen Infragestellung objektiver Wahrheiten die Frage nach der Art und Weise sowie den Folgen der sozialen Konstruktion von Wahrheiten oder (um mit Foucault zu sprechen) ‚Epistemen‘ durch epidemiologische Forschung auf.  Die ‚governing by numbers‘ (PL 1996: 27) durch staatliche Bürokratien sei mit dem Aufstieg der Epidemiologie zur Kontrolle und Disziplinierung der ‚Bevölkerung‘, dem Beginn der liberal-gouvernementalistischen ‚Bevölkerungspolitik‘ (vgl. Lemke 2007; Poczka 2017), eng verbunden und führe im Kontext neoliberaler Gesellschaftlichkeit zu Normalisierungsprozessen und der sozialen Konstitution und Moralbedürftigkeit des ‚riskanten Selbst‘.

‚Epidemiologische Fakten‘ sind – wie Petersen und Lupton (1996: 30ff.) zeigen – sozial konstruiert. Im epidemiologischen Selbstverständnis werden unabhängige und abhängige Variablen auf statistisch signifikante Assoziationen untersucht. Während es sich in der Regel bei abhängigen Variablen um (scheinbar) klar operationalisierbare Krankheitszustände handelt, können die unabhängigen, potentiell determinierenden Variablen aus einer ganzen Sammlung von Daten stammen: „…variables as gender, age, social class, race, ethnicity and place of residence are relatedto such ‚outcomes‘ as longevity, heart disease, cancer, respiratory, alcohol consumption, smoking behaviour, and so on.“ (Ebd.: 32) Doch weder die unabhängigen noch die abhängigen Variablen seien so objektiv und klar, wie es epidemiologische Forschung benötige und gern – kontrafaktisch – unterstelle.  So seien weder Begriffe wie „social class“ oder „race“ (ebd.) in ihrer theoretischen Begründung und Operationalisierung unproblematisch; noch sei die „Quantifzierung“ von Todesfällen via ärztliches Attest frei von systematischen und sozial bedingten Fehlern (ebd.: 38f.). Das kausaltheoretische Modell, welches – immer noch – in der epidemiologischen Forschung gültig sei (vgl. zum Ur-Risikofaktorenmodell und seiner biopsychosozialen Weiterentwicklung: Klemperer 2015: 50ff.), basiert auf der Idee eines „‚web of causation'“, wie PL in Anlehnung an die Harvard-Epidemiologien Nancy Krieger (1994) betonen. Zwar lehnten Befürworter dieses „Netz-Modells“ einfache Verursachungsmodelle  ab und akzeptieren multifaktorielle Kausalbedingungen (insbesondere) von chronisch-degenerativen Erkrankungen, aber die empirische Fokussierung auf zentrale Faktoren ist keineswegs „neutral“. PL (1996: 32f.) paraphrasieren zustimmend Nancy Kriegers (1994) Kritik an der theorielosen Epidemiologie der Datenfriedhöfe:

While it [the ‚web-of-causation‘-model, KM] is typically described as ’non hierarchical‘, the ‚web‘ construct tends to privilege some explanations over others, focusing particular attention on the risk factors that are relatively contained and closest to the outcome under investigation (Kriegler [SIC!] 1994, p. 890). Thus, although ‚fuzzy‘ factors such as socioeconomic status will often be included as potential risk factors, few solutions for how to ‚eradicate‘ these risks will be offered, simply because they are complex societal structural features compared with more discrete and therefore more approachable risk factors such as contaminated water supply. The ‚web‘ model also tends to be temporally unidimensional, losing sight of historical changes in disease causation. While the ‚web‘ model acknowledges there is often no single cause of  illness, it still emphasises the ways in which multiple causes combine to have an impact upon a socially atomised individual, often ignoring or playing down the social context (Kriegler [SIC!] 1994, p. 892).

Epidemiologische und biostatistische Daten sind jedoch keine ‚Fakten‘, sondern sozial konstruierte Quantifizierungen, welche im gleichen Atemzug als „Probleme“ konstituiert würden (ebd.: 33). Bezugnehmend auf den Wissenschaftshistoriker Ludwig Fleck unterstreichen sie, dass „Fakten“ nicht nur durch das (Vor-)Wissen und Weltanschauungen („belief systems“) der involvierten Wissenschaftler, sondern auch im Kontext professioneller Eigeninteressen, Machtbeziehungen und Ressourcenallokationen auf dem Feld der Wissenschaft geprägt werden (ebd.). Die quantifizierende Bestimmung von unabhängigen und abhängigen Variablen, also ihre Operationalisierung, ist in theorielosen und unreflektierten Studien oftmals nur eine Bestätigung bereits vorhandenen ‚impliziten Wissens‘, die Auswahl besonders politisch beeinflussbarer Faktoren kein Ausweis neutraler Wissenschaft, sondern gesellschaftlich geprägt. Im Neoliberalismus – so ließe sich die Argumentation von PL zuspitzen – werden vor allem (individualistische) Risikofaktoren als sinnvolle Ansatzpunkte von Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention betrachtet  (die beiden deutschen Gesundheitswissenschaftler Hagen Kühn und Rolf Rosenbrock [1994: 39ff.] haben in treffender Weise für diesen Zusammenhang das „Darwinsche Gesetz der Präventionspolitik“ formuliert). Epidemiologische ‚Fakten‘ und ‚Wahrheiten‘ sind daher kontextsensibel und überschnelle Generalisierungen universellen Wahrheitsanspruchs sind kritisch zu betrachten. Allgemein gilt: „It is clear that pre-established assumptions about the cause of a disease may shape the manner in which research is carried out to then ‚prove‘ this causal link.“ (PL 1996: 45). Daher plädieren wissenschaftstheoretisch reflektierte Epidemiologinnen, wie zum Beispiel die US-amerikanische Wissenschaftlerin Nancy Krieger (2011), zu einer bewussteren theoretischen Reflexion epidemiologischer Forschung. Petersen und Lupton (1996: 39) fassen ihre Skepsis gegenüber epidemiologischen ‚Fakten‘ präzise zusammen:

The very choice of what phenomena require measurement and surveillance is a product of sociocultural processes, related to such factors as the research interest of the epidemiologists involved, current knowledges systems about the links between human behaviours or embodied characteristics and illness and disease, access to resources to fund research and surveillance strategies, the interests of the organisations in which epidemiologists are located, feasibility of measurement, and ethical and political considerations.

Durch die soziale Konstruktion von „Risikofaktoren“ bzw. „Risikoverhalten“ als gesellschaftlichen Problemen werden die „Abweichler“ von Normierungen und Normalisierungsprozessen zum „Problem gemacht“ (Hacking 1990). Zudem treten die Erkenntnisse und Wissenssysteme von Laien und Epidemiologen auseinander, mit der Annahme, dass Laien-Ätiologien weniger wert sind als diejenigen von „Experten“. Das mit Hilfe epidemiologischer Instrumente sozial konstruierte Verständnis von Gesundheitsrisiken reduziere sich allzuoft auf die individuelle Ebene, etwa Rauchverhalten, ohne dass soziale Gründe für dieses „Risikoverhalten“ überhaupt konzeptionell in den Blick genommen würden. Der Kampf gegen „unhealty lifestlyes“ (PL 1996: 49) im New-Public-Health-Diskurs beinhalte ein „…strong element of moralism and emphasis on personal responsibility.“ (Ebd.: 48) Die Kehrseite dieser neosozialen Moralität – wie ich sie oben benannt habe – ist PL zufolge freilich die abgrenzende und stigmatisierende Konstruktion des „Anderen“ bzw. „Andersartigen“ der von der Norm(alisierung) abweicht, wie Petersen und Lupton anhand Alkohol- und Drogensüchtigen sowie des (rassistisch geprägten) HIV-Verdachts ausgesetzten Menschen anderer Hautfarben beschreiben (ebd.: 55ff.). Die Kritik von PL (1996: 60) an der (unreflektierten) Epidemiologie fällt vernichtend aus:

Epidemiology is thus one of the central strategies in the new public health used to construct notions of ‚health‘ and, through this construction, to invoke and reproduce moral judgments about the worth of individuals and social groups. What implications does this have for the conduct of oneself as a citizen?

KRITIK DES GESUNDHEITSFÖRERLICHEN REDUKTIONISMUS: DIE KONSTRUKTION EINES ‚GESUNDEN BÜRGERS‘ UND DIE WANDLUNGEN DER GENDERASPEKTE

Das Konzept des Staatsbürgers („citizenship“) hat sich im Prozes der Zivilisation seit der Renaissance herausgebildet und war eng mit der Entstehung des Selbst-Konzeptes (’selfhood‘) verbunden (vgl. Elias 1997). Petersen und Lupton schreiben diesem bürgerlichen Selbst einige Kernmerkmale zu, dessen Verwirklichung historisch in seiner Zeit der Entstehung vor allem freien, besitzenden Bürgern (eben: männlichen Geschlechts) vorbehalten waren.

Civility is important to citizenship because participation as a citizen in participatory democracy involves self-control of the body and the emotions, the regulation of one’s demeanour and the cultivation of patience, enthusiasm and interest (Minson 1993, p. 203, zit.n. PL 1996: 63)

Im 20. Jahrhundert habe sich die soziale Normierung des Staatsbürgers im ‚Westen‘ zunächst im Zuge des Ausbaus der Sozialstaates – vor allem – nach dem Zweiten Weltkrieg inhaltlich in die Aufwertung von sozialer Verantwortlichkeit und kollektiver Solidarität entwickelt (ebd.), bevor im Zuge der 1980er Jahre und vor dem Hintergrund des (Wieder-)Aufstiegs neo-liberaler Philosophien der vorgängige passive und abhängige Staatsbürger sich erneut in einen aktiven und stark individualisierten verwandelt habe, dessen Kernidentität die Wahlentscheidung sei. Entgegen neoliberalen Freiheitsideologien unterstreichen PL jedoch, dass diese scheinbar freien Wahlentscheidungen mit einer Veränderung von Regierungsstrategien und -technologien einhergingen; jenem Kerngegenstand der von PL (1996: 63f.) favorisierten Gouvernementalitätsstudien:

…governmental programs and regulatory technologies have diversified still more, to construct an autonomous subject whose choices and desires are aligned with the objectives of the state and other social authorities and institutions.

Die gesellschaftliche Konstitution von Individuen als ‚Subjekte‘ gehorche einer – zugespitzt formuliert – Dialektik aus „techniques of governmental self-formation“ und „practices of ethical self-formation“ (ebd.: 64). Die bereits begrifflich eingeführte ’neosoziale Moralität‘ bewirkt eine Parallelisierung des generellen neuen Staatsbürgers mit dem im NPH-Diskurs konstruierten gesunden Bürger, dem „healthy citizen“ (ebd.: 64ff.). Dessen Aufstieg verläuft – wie PL unter Verweis auf grundlegende Arbeiten von Foucault, Herzlich/Pierret und Duden zeigen – ebenfalls in historischen Kontinuitäten und Brüchen. Der Kern des ‚gesunden Bürgers‘ sei die Selbsterhaltung seines Körpers, zum Zweck seiner (produktiven) Teilnahme an und (präventiven) Abwehr gesundheitlicher Gefahren für die Gesellschaft (vgl. zur Bedeutung des ‚Body‘-Konzepts in der Gesundheitssoziologie: Turner 1995: 204ff.; Lupton 2000: 50ff.; Turner 2004: passim; Nettleton 2006: 104ff.). Beginnend in der Aufklärungszeit „…governmental means of regulating the body began to shift from overtly coercive methods to those of self-regulation.“ (PL 1996: 66) Im Zuge der Neoliberalisierung und der zunehmenden Kommodifizierung kollektiver Güter – über den „Fordismus“ wird diesbezüglich recht wenig von PL geäußert; ggf. wegen der höheren Bedeutung der Medizin für die Passivierung des Patienten (Lupton 2012); die Sozialdemokratie als politisch-ideologische Verkörperung des Fordismus (Buci-Glucksmann/Therborn 1981) verstand sich ja auch als ‚kurierender‘ Arzt am Bett des Kapitalismus – verwandelt sich das liberale Normideal der Freiheit in das der gesundheitsbewussten Wahlentscheidung gesundheitsförderlicher Güter für jede Einzelne, ihre Familien und die ganze Gesellschaft:

Ideal ‚healthy‘ citizens have their children immunised according to state directives, participate in screening procedures such as cervical cancer smear tests and blood cholestrol tests (but only when they are deemed to be in the appropriate target group), control their diet according to dietry guidelines and take regular exercise to protect themselves against such conditions as coronary heart disease and osteoperosis. Not only do they take steps to protect their own health but their are also concerned about the health of others. (PL: 1996: 69)

Die Kehrseite solcher Regierungsprogrammen und liberaler Selbstverständnissen zur ‚Förderung‘ gesunder Bürger ist PL zufolge freilich die letzinstanzliche autoritative Durchsetzung der Verhaltensmerkmale der gesunden Bürgerin gegenüber stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen in der Gesellschaft, die nicht in der Lage sind oder –  aus der Perspektive neosozialer Moralität noch schlimmer – sich den staatlichen Programmen und sozialen Moralanforderungen gar widersetzen.  Trotz der Rhetorik der Freiwilligkeit und der freien Wahlentscheidung liege im Kern der Idee des NPH strikt die staatliche Durchsetzung sozialmoralischer Gesundheitsverhältnisse.  Von der (neo-)liberalen Wahlfreiheit bleibe folglich nur ein ideologischer Schein, sie werde , abweichendes Verhalten im Zweifelsfall staatlich erzwungen zu normalisieren versucht:

The state still takes a largely paternalistic approach to the task of monitoring and regulating its ‚citizens‘ health, albeit cloaked in the discourse of individual and community ‚voluntary participation‘. Public health represents the state as the agency responsible for guarding and ensuring the health of the populace. (PL 1996: 71)

Im weiteren Verlauf ihres Buches beschreiben Petersen und Lupton (ebd: 72ff.) den Genderaspekt des gesunden Bürgers (SIC!), indem sie darauf hinweisen, dass Frauen wesentlich stärker als Männer den Herrschaftstechniken des Staates unterworfen werden und sich als selbstverantwortliche (Mittelklasse-)Subjekte selbst in dieser Weise konstruieren. Diese besonders starke Regulierung des weiblichen Körpers geht auch einher mit der historisch zunächst begrenzten Zuweisung des Staatsbürgerstatus auf (weiße) Männer und der Zuweisung der (betreuenden) Mutterrolle von Frauen in den Familien der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Bewahrung gesunder Familienverhältnisse durch Kontrolle des weiblichen Körpers im Hinblick auf häusliche Sauberkeit, soziale Attraktivität, eheliche Sexualität und risikoaverses Verhalten (für Kind, Mann und – in dieser Reihenfolge – für sich) ziehe sich als moralische Anforderung an Frauen durch die gesamte Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und sei gegenüber weniger selbstkontrollierten Gruppen von Frauen (z.B. englischen Arbeiterfrauen) entweder staatlicherseits oder durch freiwilligen Dienst von Mittelklassefrauen eingefordert worden. Entsprechend den gesundheitsmoralischen Anforderungen an Frauen seien sie auch als besonders kontrollnotwendig (Risiken!) und kontrollbedürftig (geringe Selbstkontrolle, affektiv determiniert) angesehen worden. Im NPH-Diskurs habe sich trotz punktueller Variationen und neuartiger Risiken daher lange Zeit nichts Grundsätzliches am kritischen Verhältnis zu Frauen im Sinne  „liberaler Gouvernementalität“ (Poczka 2017: 421ff.)  geändert:

In the new public health discourse women are encouraged to monitor the shape and size of their bodies so as to maximise their sexual attractiveness and desirability, and to avoid practices such as smoking because men will find their breath unattractive or because it causes premature wrinkling. The feminine ‚healthy‘ citizen, it is suggested, should seek both soundness of body and physical allure through the self-care techniques proferred by the new public health. In these discourses there is an elision between the ideals of commodity culture and public health, for both promote the slim, attractive, healthy, physically fit, youthful body as that which women should seek to attain. (PL 1996: 80)

Der ‚gesunde Mann‘ war und ist in vielerlei Hinsicht konträr zu den moralischen Anforderungen, die an Frauen gestellt werden, konstruiert: „The male body is dominantly culturally represented and understood as ‚contained‘, dry and controlled compared with the soft, viscous body of a woman.“ (Ebd.: 81) Wenn die in Anklang an griechische Ursprünge oft muskulär geprägte männliche Körperlichkeit außer Kontrolle gerate – in Krankheitsepisoden etwa – werde die körperliche Identität des Mannes außer Kraft gesetzt; hier liegt gewissermaßen die identitätstheoretische Begründung für den sprichwörtlichen „Männerschnupfen„. Die Sorge des Mannes um seine Gesundheit, die Vermeidung exzessiven und risikobehafteten Verhaltens, welche seine ‚Kraft‘ demonstrieren soll, werde oft – so PL – mit (sozial und individuell abgewerteter) Homosexualität identifiziert.  „By contrast, engaging in activities that treathen one’s health, endanger one’s body, are often coded as masculine.“ (Ebd.: 83)

Diese Einschätzung von PL mag heute ein wenig veraltet erscheinen, doch ist es durchaus fraglich, ob die ‚Männlichkeit‘ heute, zwanzig Jahre später, trotz zunehmenden ‚verordneten‘ Gesundheitsbewussteins von Männern (z.B. Klotz/Hurrelmann/Eickenberg 1998 ; Altgeld 2004; Merbach/Bräler 2014) in gleicher Weise reguliert wird wie die weiterhin stark regulierte ‚Weiblichkeit‘. Aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive beispielsweise, die –  in positiver Weise – an die neo-liberalen Anforderungen der Subjektaktivierung und neosozialen Moralität anschließt (vgl. Lesssenich 2008: passim), wird eine Transformation von Geschlechterrollen identifiziert und in deren Folge soziale Anforderungen an diese gestellt, die nicht nur die Risikoneigung und überkommenden (gesundheitsrelevanten) Männlichkeitskonzepte, sondern auch traditionelle Weiblichkeitsrollen als sozialisationsbedingte Defizite identifizieren, mit denen eine erfolgreiche Integration in die Erwerbswelt verhindert werde (Siegrist/Möller-Leimkühler 2012: 127ff.).  Petersen und Lupton (1996: 85ff.) haben jedoch bereits unter Hinweis auf die „men’s health“-Bewegung diese modernistische Differenzierung männlicher Gesundheitskonzepte antizipiert. Motiviert durch die durchschnittlich geringere Lebenserwartung von Männern ziele diese Bewegung auf eine Einübung ‚gesünderer‘ Lebensstile und aktiveren Nutzung bestehender Gesundheitsdienstleistungen.

The [healthy citizen, KM] discourse […] represents an even greater extension of the new public health strategies of continual monitoring and calculation of the population’s health status. The men’s health discourse, like that of women’s health movement that preceded it, underlines the ‚voluntary‘ nature of such surveillance, because the calls for the increased ‚medicalisation‘ of men’s bodies through greater access to health care services and medical screening technologies are not emerging from the state, but from community groups and individuals. (PL 1996: 87)

Obwohl PL hiermit eine gewisse Annäherung der Gesundheitskonzepte der ‚women’s-health“- und „men’s health“-Bewegungen suggerieren, bleibt die Frage ungeklärt, ob sich auch die Geschlechterrollen insgesamt anpassen. Ein flüchtiger Blick in die parallelen Zeitschriften ‚Men’s Health‚ und ‚Women’s Health‚ legt die Vermutung nahe, dass sich an grundlegenden Geschlechterrollen nicht viel geändert hat, außer mit der Qualifizierung, dass heutige Männer und Frauen sich entsprechenden den Anforderungen neosozialer Moralität gesünder zu verhalten suchen, dabei aber mutmaßlich immer noch soziostrukturelle Varianzen und Hierarchiemuster zu vermuten sind; Petersen und Lupton verfolgen leider diesen Gedanken nicht weiter. Eine klassentheoretische sensible Genderforschung hätte hier wohl anzusetzen. Zugleich stellt sich die Frage, ob diese neuen Strategien der gesundheitlichen Geschlechstkonstruktion wirklich mit traditionellen patriarchalischen oder gar sexistischen Reproduktionsformen brechen und wirklich eine doppelcodierte (bedingte) Maskulinisierung des Weiblichen sowie parallel eine (bedingte) Feminisierung des Männlichen stattfindet oder ob sie nur eine Transformation des Patriarchats darstellen (vgl. als Einstieg in und Überlick über die Gender-Studies: Abdul-Hussein 2014). Unabängig von diesen Gesichtspunkten wird der ‚healthy citizen‘  in gewisser Weise geschlechtsneutraler, gerade auch weil differente Aspekte von Gender bei der Konstitution von Gesundheit/Krankheit sowie gesundheitsförderlichem Verhalten berücksichtigt werden…

KRITIK DER SOZIAL-ÖKOLOGISCHEN GRUNDLAGEN VON NEW PUBLIC HEALTH: DIE MODERNISTISCHE KONSTRUKTION EINER ‚RISKANTEN UMWELT‘

Es ist ein weithin bekannter Truismus, dass der Aufstieg der politischen/sozialen Bewegungen für bessere gesundheitliche Verhältnisse unzweifelhaft mit einer Kritik an sozial-ökologischen Problemen und Auswüchsen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses einhergegangen ist (vgl. exemplarisch: Beck 1986; Trojan/Legewie 2001). PL unterziehen die sozial-ökologischen Grundlagen dieser Bewegungen für mehr Gesundheit einer kritischen Bewertung, wobei der Kern ihrer Kritik darauf zielt, dass die von diesen Bewegungen kritisierten Modernisierungseffekte auf halbem Wege stecken bleiben, weil sie – nun in ‚kritischer‘ Absicht – weiterhin dem rationalistischem Aufklärungsglauben der Moderne anhängen. Insbesondere behaupten sie aber, dass trotz der relativen Ähnlichkeit der „grünen“ Umweltbewegung und der NPH-Bewegung die letztere dazu tendiere vollumfänglich einen „neo-liberal approach“ (PL 1996: 90) zu verfolgen (siehe auch: Mosebach/Walter 2021), wobei eine grün-radikale Position innerhalb des umweltschutzbezogenen Diskurses noch zu erkennen sei (eine Kritik, die im Angesicht des unvermeidlichen „Green New Deal“ mittlerweile kaum noch zutreffen dürfte, sind doch radikale Positionen mittlerweile auch im Umweltschutz-Diskurs insofern marginalisiert (wenn nicht sogar kriminalisiert), als auch hier mittlerweile technologische Innovationen ein Weiter-So des Kapitalismus ermöglichen sollen; Neckel 2019; Mosebach 2022). Ihre Kritik ist mithin eine Kritik an rationalistischen Modellen von Wissenschaft und Politik, die nicht nur den Schutz der und vor der „natürlichen Umwelt“, sondern auch der „sozialen Umwelt“ und des Einzelnen vor schlechten Einflüssen aus dieser betrifft.  Ihre wissenschaftstheoretisch inspirierte Kritk lässt sich mit ihren eigenen Worten wie folgt zusammenfassen:

In environmental discourses the inevitable contingencies, indeterminacies and uncertainties, the socially constructed nature of scientific knowledge, tend to be glossed over for a reliance upon ‚objective facts‘ (Grove-White 1993, p. 22). In turn, most solutions constituted to deal with environmental problems draw upon science and rational action. It is not knowledge base of science per se that is challenged, therefore, but rather the effects of a ‚misused‘ science. (PL 1996: 118f.)

Diese resümierende Kritik soll im Folgenden in Bezug (i) auf die Figur des umweltbewussten Bürgers (ii) dem Begriff von Natur in diesen Diskurses und (iii) den sozial-ökologischen Gesundheitsrisiken etwas ausführlicher rekonstruiert werden, bevor die Grundthese von PL im Hinblick auf Kohärenz und Aktualität abschließende diskutiert werden wird.

Der sozialökologisch bewusste „healthy citizen“ errinnert PL an einen „rational consumer […] who engages as an autonomous individual in activities to prevent or reduce environmental damage and to protect herself or himself from health risks believed to be generated by the environment.“ (PL 1996: 90) Wobei im Rahmen des neoliberalen Diskurses anerkannt ist, dass diese Umwelt durchaus von Menschen „verunreinigt“ wurde, aber der Umgang mit diesen „Risiken“ bleibe individualistisch-neoliberal geprägt. Allerdings weisen PL darauf hin, dass der Umgang des Menschen mit „environmental hazards“ geradezu eine anthropologische Konstante ist und entgegen der erst in den 1950er Jahren entstanden globalen Umweltbewegung gegen die Industrialisierungsauswirkungen weit in die dokumentierte Geschichte zurückreicht. Die diskursive Auseinandersetzung mit den „Umweltrisiken“ bedient (sich) dabei stets binäre(r) und moralisch aufgeladenen/r Kategorien, wie z.B. „clean/dirty, pure/contaminated and rural/urban“ (ebd.: 91). Das 19. Jahrhundert – als die Geburtsepoche von Public Health – ist dabei von besonderen genealogischem Interesse für Peterson und Lupton (PL 1996: 91-94), denn es zeigt, wie unterschiedlich gesundheitsschädliche Umweltrisiken diskursiv konstituiert werden können.

Im 19. Jahrhundert – so ihre These – drehte sich alles um die „Sauberhaltung“ des unmittelbaren Wohn- und Lebensortes. Die Erhaltung der „domestic cleaniness“ war nicht nur eine Pflicht für alle „Bürger“, sie wurde vor allem jenen als Pflicht auferlegt, die als Arme, Mitglieder der Arbeiterklasse oder Immigranten in „dreckigen“ Gegenden wohnten und daher selbst persönlich als „Gesundheitsrisiko“ betrachtet wurden. Theoretisch wurde das gerechtfertigt durch die – noch heute bekannte – Identifizierung von „schlechter Luft“ oder schlicht: „Gestank“, die im Rahmen der sog. Miasma-Theorie kategorisiert wurde. Die „Überbevölkerung“ wurde als ursächliches Problem identifziert, welches aber kaum auf funktionale Anforderungen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses und der damit zusammenhängenden „ursprünglichen Akkumulation“ (MEW 23: 741ff. [Kap. 24]; Polanyi 1990) zurückgeführt wurde, sondern zumeist mit moralischen Kategorien über die „unzivilisierten“ und „charakterlosen“ Sozialgruppen einherging („wunderbar“ nachzulesen z.B. in den Geschichten über den Privatdetektiv Sherlock Holmes aus der Feder des britischen konservativen Literaten: Sir Arthur Conan Doyle). Folglich wurden „Städte“ und die dort befindlichen „Slums“ als Brutstätten von Erkrankungen und Krankheitsherden identifiziert. Die staatlich vermittelte „Public Health“-Politik in vordemokratisch-liberalkapitalistischen Zeiten zielte daher auf die soziale Kontrolle und den sozialen Aussschluss solcher „gefährlichen Klassen“, nicht nur in England, USA und Australien (der Raumbereich von PL; siehe darüberhinaus de Swan 1988; Labisch 1992; Porter 2005):

Therefore, in nineteenth-century public health the actions expected of citizens to protect their health in relation to the ‚environment‘, for the bourgeoisie at least, centred around avoiding those places and people that were singled out by the experts as ‚dirty‘ and potentially ‚contaminating‘. The importance of maintaining domestic cleaniness was also emphasied as a duty to all citizens, particularly those constructed as ‚dirty‘: immigrants, members of the poor and the working class. However, […] this duty was largely represented as the responsibility of women, as wives and mothers (PL 1996: 94)

Umweltgefährdungen im Zeitalter der Globalisierung sind dagegen global konnotiert, sie überschreiten das Lokale, Begrenzte, auch hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und Vernichtungsmöglichkeit. Der analytische Schlüsselbegriff im (post-)modernen Umweltdiskurs hierfür ist der Begriff des „Risikos“, den Petersen und Lupton in kritscher Reflexion der soziologischen Theorie der reflexiven Moderne (Beck 1986, Giddens 1996; Beck/Giddens/Urry 1996) anwenden. Der Begriff des Risikos beschreibt damit Gefährdungen (zu dieser Unterscheidung siehe Giddens 1996: 16ff), die aufgrund menschlicher Handlungen zurückführbar sind. Hierdurch werden sie, so Beck, „calculable and predictable“ (PL 1996: 96). Der Umweltrisikodiskurs zeige sich nun aber so, dass die Risiken von den Einzelnen nicht mehr kontrolliert werden können, da ihre – gewissermaßen – Vermittlungs- und Verursachungsprozesse weit über die lokale Begrenztheit von Risiken hinausgingen, die im 19. Jahrhundert vorherrschten. Umweltrisiken gehen auch in ihrer Folgenmächtigkeit über die beschränkten des vorangegangenen Jahrhunderts hinaus: sie begründen ein „greate magnitude [of risk], which treatens humans as a species.“ (PL 1996: 95) Petersen und Lupton illustrieren diese Katastrophenrhetorik des Umweltdiskurses mit zahlreichen Ereignisse und Studien, die eine solche Wahrnehmung nachvollziehbar machen (so z.B. der Reaktor-Unfall in Tschernobyl 1986). Desweiteren werden die Luftverschmutzung in Los Angeles und auch die globale Erwärmung als weitere Großrisiken für die Gesundheit von Einzelnen und größeren Gruppen bis hin zu Menschheit genannt, die im Umweltdiskurs artikuliert werden.

Dieses Risiko ist – Beck zufolge – selbstgemacht, denn es ist „a systematic way of dealing with hazards and insecurities induced and introduced by modernisation itself“ (1992, p. 21, zit.n. PL 1996: 96) Doch dieses Risiko ist nicht von allein da, es bedarf diskursiver Verstärker, wobei neben Umwelt-NGOs (z.B. Greenpeace als ein Pionierverein) vor allem wissenschaftliche Expertensysteme und im Hinblick auf die Umweltrisiken für die Gesundheit vor allem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Bedeutung sind. Alle Akteure bedienen sich freilich den Medien, die das Bewusstsein um Umweltkatastrophen und Risiken in den letzten Winkel der Erde transportieren. Die Folgen für die Menschen sind gravierend, denn – wie viele Studien gezeigt hätten – „risks engendered by industrialisation create ambivalance and anxiety because of their seemingly limitlessness spread and the difficulty in defining their effect.“ (PL 1996: 98) Der lokalen Bedrohung im 19. Jahrhundert konnte noch individuell begegnet werden vermittels der handlungsorientierten Kontrolle des lokalen Raums und des bewussten Vermeidens „gefährlicher Gebiete“ (so illusorisch das im einzelnen auch gewesen sein mag). In der Grenzenlosigkeit der globalen Umweltkrise(n) jedoch wird die Souveränität oder auch Autonomie des Einzelnen zerstört oder wenigstens heftig in Frage gestellt. Die Feststellung oder gar Vermeidung von Ursachen und Folgen globaler Erwärmung, elektromagnetischer Strahlungsbelastung oder auch von elektrischer Energie überhaupt, entzieht sich der individuellen Erkenntnis und vereinzelten Handlungsfähigkeit des (postmodernen) Subjekts:

Given the assumed pervasive and insidious nature of health risks, the identification of such risks has come to be viewed as beyond the capacity of most individuals. Risk identification is increasingly regarded as the preserve of those who have access to technology and expert knowledges, for example scientists and members of the medial profession. These experts are responsible for constructing a web of knowledges around environmental hazards, and for interpreting the risk for members of the lay population. It is difficult for lay people to know how much trust they should invest in these experts, however, given the constantly shifting state of scientific and medical knowledge (Giddens 1992, p. 148). (PL 1996: 98)

Wie konstituiert sich in diesem Umfeld individuell untrollierbarer Umweltrisiken und brüchigem Vertrauen auf Expertenwissen der umwelt- und gesundheitsbewusste Bürger als handelndes Subjekt? Dieser Frage gehen Petersen und Lupton (1996: 99-103) im Folgenden nach.

IN BEARBEITUNG…

LAST UPDATED: 2024-02-09

Erich Fromm (1971 [1968]): Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik, Stuttgart: dtv/Klett-Cotta. 194 Seiten.

Warum, so die wahrscheinliche Frage geneigter Leser:innen, eine Rezension eines „so alten“ Buches? Die Antwort ist einfach und erwartbar. Weil es immer noch aktuell ist, trotz seines Alters. Dies ist zumindest die Überzeugung des Reviewers. Zugegeben werden muss natürlich schon, dass Vieles „überholt“ ist, die Welt hat sich weiter gedreht. Doch was sind gut 50 Jahre im Verhältnis zu 2000 Jahren nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung? Grob gerechnet, zwei Generationen. Und: wer nicht aus der Geschichte lernen will, ist verdammt, sie zu wiederholen, heißt es. Wenn auch dieser Aphorismus natürlich etwas arrogant daherkommt, ist die Vorstellung, dass Überlegungen des Sozialphilosophen und Psychoanalytikers zur „Humanisierung“ der Technik inmitten des Umbruch des „globalen Fordismus“ (Lipietz 1992) heute nicht mehr aktuell sind, weil die Technikformen oder „die Welt“ sich geändert haben mögen, etwas sehr oberflächlich. Nicht jede neue Mode erfindet das Rad neu. Nur weil sie für die Individuen einer neuen Generation „alt“ erscheinen, sind Überlegungen und Phänomene scheinbar „alter“ Text und aus „lange Zeit zurückliegenden“ Epochen nicht pauschal hinfällig. Bei aller permanenter Veränderung in spätmodernen Gesellschaften zeugen solche Gedanken von der Verwechslung kollektiver und individueller Bewusstwerdungsprozesse. Und: Ungleichzeitigkeiten gehören zum Wesen der kapitalistisch geprägten Gesellschaften der Spätmoderne wie der Sprühnebel zu den herabstürzenden Wassermassen der Niagara-Fälle. Und selbst wenn zahlreiche Details „veraltet“ sein mögen: ein altes Buch kann neue Sichtweisen auf die heutigen Dinge erwecken, insbesondere dann, wenn der historische Zeitpfeil linearer Existenz von damals bis heute in eine ganz andere Richtung geflogen ist. Kehren wir also zu dem alten Buch zurück und fragen: was kann es uns heute noch sagen? Hierzu wird dieser Review nicht nur die Argumentation ausführlich, aber natürlich selektiv rekonstruieren, sondern mittels reflektierter Einwürfe und Kommentare versuchen, dem Text sowohl seine potenzielle Aktualität zu entlocken als auch ihn darauf hin zu befragen, was er möglicherweise „ausgelöst“ hat oder anders gesagt: wie sein Verhältnis zu jenem historischen Zeitpfeil gestaltet ist, der seitdem zwei Generationen, zahllose Staaten und singuläre Weltreiche von gestern nach heute gebracht hat. Also: los geht’s!

Auf der Messerspitze einer dehumanisierenden Zeitenwende: Mikroelektronik meets Massenproduktion und Bürokratie

Dass das Frommsche Buch keineswegs völlig veraltet ist, zeigt sich schon in der Paradoxie der oben stehenden Abschnittsüberschrift, die jedoch nur jener sozialwissenschaftlich Gebildeten ins Auge springt, die schon mal etwas von Fordismus und Postfordismus gehört hat (wer diese Begriffe genauer verstehen möchte, sei hierauf verwiesen). Denn der Computer gilt in diesem sozialwissenschaftlichen Narrativ als Inkarnation des Postfordismus, nicht des Fordismus, dessen Insignien Massenproduktion, Automobile und Bürokratie sind. Fromms Buch steht also an der Schwelle einer Zeitenwende von Fordismus zum Postfordismus: quod erat demonstrandum. Sein Buch ist entsprechend aufgebaut und fokussiert auf die Gefährdungen einer dehumanisierenden Technik, die er nicht nur im Computer, noch nicht einmal zentral darin, sondern vor allmen in der Nutzung des Computers, den diese Technik einbettenden „Institutionen und Methoden“ (Fromm 1987: 115; GA IV) der zeitgenössischen Gesellschaften erkennt. Das Buch besteht, den Problemaufriss und das Fazit nicht mitgezählt, aus vier zentralen Argumentationsschritten und folglich auch Kapiteln. Der Ausgangspunkt der Studie ist die Auffassung, dass insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen Regionen der „ganzen Welt“ (ebd.: 19; GA IV: ) eine wachsende Polarisierung zwischen den Mächten des „Leblosen“ einerseits und vielfältigen sozialen Kräften, die von „einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, nach neuen Einstellungen“ (ebd.) getrieben würden, andererseits zu beobachten sei. Die Rede ist hier unverkennbar von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Protestbewegungen der sog. 1968er-Bewegung, die Fromm insgesamt – und vielleicht an dieser Stelle etwas zu undifferenziert – als „dem Leben“ und „der Liebe“ zugewandt sieht (siehe dazu: Deppe 2018: 17-86).

Im zweiten Kapitel entwickelt Fromm sein Konzept der „Hoffnung“, dass er von passiven und theologischen Konzepten abgrenzt und in starke Beziehung setzt zum ähnlich aufgebauten „Prinzip Hoffnung“ des marxistischen Philosophen Ernst Bloch (Bloch XXX; Fromm 1987: 34, FN 8; GA IV: ). Im dritten Kapitel setzt sich Fromm zunächst mit technikkritischen und dystopischen, so würde man heute dies wohl nennen, Theorien bzw. Vorhersagen auseinander (z.B. Mumfords „Megamaschine“ oder Brezinskis „technotrone Gesellschaft“) , die in der unlebendigen Verquickung von Bürokratie, Kybernetik und Kapitalismus drohten. Einen Schritt zurückgehend fokussiert der weitere Verlauf des Kapitels auf die kritische Diskussion der Prinzipien der „gegenwärtige[n] technologische[n] Gesellschaft“ (Fromm 1987: 47ff.; GA IV: ) und ihrer „Wirkung auf den Menschen“ (ebd.: 54ff.; GA IV: ) sowie der janusköpfigen Befriedigung des „Bedürfnisses nach Gewissheit“ (ebd.: 63ff.; GA IV: ) durch die identifizierten „Prinzipien“. Bevor Fromm im fünften Kapitel seine Vision notwendiger Schritte „zu einer Humanisierung der technologischen Gesellschaft“ (ebd: 115ff.; GA IV: ) beschreibt, rekapituliert er im vierten Kapitel die anthropologischen Grundlagen des „Menschseins“, also jene universellen Anlagen und unterstellte „Natur“ bzw. der „grundlegenden Bedürfnisse“ des Menschen, die er bereits in vorangegangenen Veröffentlichtungen beschrieben hatte. Diese Ausarbeitung grundlegender Merkmale des Menschlichen, die Fromm und ähnlich inspirierten Autor:innen immer wieder als „Naturalisierung“ des Sozialen bzw. des Menschen vorgeworfen wurde, ist zweifellos eine normative Setzung, die jedoch Fromm nicht nur in der „Furcht vor der Freiheit“, sondern auch in „Psychoanalye und Ethik“ und später in „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ mit historischen und empirischen Forschungsergebnissen zu stützen versuchte. Insofern ist der Vorwurf des „Naturalismus“ an Fromms Anthropologie m.E. schlecht begründet, wenn nicht sogar mitunter böswillig und politisch motiviert.1

Im fünften Kapitel diskutiert Fromm zentrale Ansatzpunkte und Prinzipien, wie eine humane Gesellschaft, eine „Humanisierung der Technik“ erreicht werden kann. Im Rückblick auf die von Fromm empfohlenen Strategien einer „humanistischen Planung“ (Fromm 1987: 117ff.; GA IV: ), einer „Aktivierung und Freisetzung von Energien“ (ebd.: 121ff; GA IV: ) und eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (ebd.: 139ff.; GA IV: ) lässt sich der Eindruck nicht abwehren, dass manche Elemente im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus Einfluss gefunden haben in so manche politische, ökonomische oder kulturelle Reformstrategie(n). Insbesondere die im Buch vorzufindende „Bürokratie“-Kritik, seine kritische Betrachtung von „Passivierungs“-Tendenzen in fordistischen Großorganisationen und auch die Vorschläge zu ihrer Überwindung, partizipatorische Verwaltungsplanung hier, humanistisches Management dort, mag heutige Zeitgenoss:innen an seit den 1980er Jahren installlierte „Reformmaßnahmen“ der Verwaltungsmodernisierung und des Unternehmensmanagements erinnern. New Public Management (Pollitt/Bouckaert 2011) und Lean Management (oder: Total Quality Management; Bröckling 2005) sind nicht nur die herausgehobensten „Management“-Konzepte einer sich modernisierenden Bürokratie im Postfordismus, sie haben tatsächlich auch viele Elemente dessen übernommen, was in der Fromm’schen Diktion als „Humanisierung“ deklariert worden wäre. Und auch das Element eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (Fromm 1987: 139ff; GA IV: ) spiegelt sich im Aufstieg des „kritischen Konsumenten“ in den Staaten und Gesellschaften des Postfordismus seit den 1980er Jahren. Und dennoch: die Fromm’sche Vision einer „Revolution der Hoffnung“ bricht sich mit diesen Ansatzpunkten, denn Fromm hält im Gegensatz zu vielen Strateg(i)en der „Humanisierung“ der Bürokratie und des Management an zentralen Eckpunkten einer Kapitalismuskritik und der notwendigen Einführung sozialistischer Planungselemente und von dezentralen Demokratisierungsprinzipien fest (Fromm 1987: 120f. GA IV: ; und insbesondere: Fromm 62009: 229ff.; GA IV: ). Er steht folglich in einer Tradition des humanistischen bzw. kommunitären Sozialismus (Fromm 1965), die – nach dem Niedergang des „Realsozialismus“ und der sich lange Zeit neoliberalisierenden „Sozialdemokratie“ immer noch – oder auch: wieder – hochaktuell ist (Honneth 2017; Dörre 2021; Deppe 2022). Gerade wegen dieser offensichtlichen bzw. – aus skeptischerer Perspektive – möglichen Aktualität der Fromm’schen Überlegungen, soll im Folgenden die Argumentation aus der „Revolution der Hoffnung“ im (subjektiven) Detail und mit kritisch-reflexiver Emphase rekonstruiert und im Hinblick auf ihre heutige Aktualität erörtert werden. Ich werde dazu allerdings die Gliederung des Buches „umwerfen“ und beginne mit einer Erörterung der Begriffe der „Hoffnung“ und der Frage nach dem „Menschsein“, bevor ich die in die Diskussion über die konstatierte Gesellschaftskrise der 1960er Jahre und ihre Überwindung, die Fromm für möglich erachtete, einsteige.

Wie kann der Mensch hoffen? Analytische Bedeutung und normative Prämissen der Hoffnung und des Mensch-Seins in der Fromm’schen Sozialtheorie

Obwohl die von Fromm eingeforderte „Revolution der Hoffnung“ durchaus einen gewissen utopischen Charakter hat, ließe sich unter Bezugnahme auf Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ diese Hoffnung sehr wohl auf eine reale Grundlage stellen, also von einer „Realutopie“ sprechen. Die realutopische Hoffnung ist daher nicht idealistisch gemeint und damit im schlechten Sinne „unrealistisch“, wie viele Kritiker:innen der zweifellos empathischen Aufforderung einer „Revolution der Hoffnung“ durch Fromm unterstellt haben und – bei Neulektüre – vermutlich unterstellen würden. Der von Fromm erörterte Begriff der „Hoffnung“ und seine – gewissermaßen – anthropologisch-sozialpsychologische Begründung menschlicher Bedürfnisse aus der „Bedingung der menschlichen Existenz“ (Fromm 1987: 76ff; GA IV: ) heraus sind analytische Ansatzpunkte seiner Sozialphilosophie, auf die sich eine „Revolution der Hoffnung“ stützen kann. Dabei sind die normativen Prämissen menschlicher Existenz keineswegs eindimensional, sondern zeigen die Eigenschaft der „Wahlalternative“: der Mensch ist weder gut noch böse von Natur aus, sondern zu beiden Veranlagungen seines Handelns in der Lage. Die Strukturen der Gesellschaft mögen ihn in die eine oder andere Richtung drängen, doch in Fromms Sozialphilosophie bleibt die (religiös klingende und auch so gemeinte) Emphase der Freiheit jedes Einzelnen die normative Prämisse seines „prophetischen Alternativismus“ (ebd.: 33; GA IV: ).

„Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben!“

Deuteronomium (5. Buch Mose), Kapitel 30, Vers 19, zit.n. Fromm 1987: 33

Diese biblische Stelle erhebt Fromm zum Prinzip seiner „messianische[n] Hoffnung“ (ebd.: 32ff.), die ganz und gar nicht-theistisch begründet ist. Aufgabe der Hoffnung ist nicht, auf eine „kommende Zeit“ (ebd.: 21) zu warten, denn in diesem kafkaesken „untätige(n) Abwarten“ zeige sich vielmehr eine „verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz“ (ebd.: 22), die gelegentlich und gern manieriert als „pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus“ (ebd.) von vermeintlich kritischen Geistern vor sich hergetragen und zur Schau gestellt werde. Doch selbst offen geäußerte Hoffnung kann eine Verkleidung für innere und unbewusste Hoffnungslosigkeit sein, wenn der gesellschaftliche „Erfolg“ eine solche geäußerte Hoffnung verlangt. Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Fromm weist darauf hin, dass nicht nur solche äußeren Mechanismen, sondern auch offenkundige „Phrasendrescherei und Abenteuerlust“ (ebd.) unbewusste Hoffnungslosigkeit übertünchen und ein Ausdruck nekrophiler Tendenzen sein können, deren Dynamik gern verdrängt werde; dies gelte für solche „Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier.“ (Ebd.: 24) Hoffnung ist für Fromm sehr viel stärker ein „Gefühl“ bzw. eine „Erfahrung“ als eine rein kognivitive Veranstaltung:

„Hoffen ist ein Zustand des Seins. Es ist eine innere Bereitschaft, die Bereitschaft zu einem intensiven, aber noch unverbrauchten Tätigsein.“

Fromm 1987: 26 (GA IV: ).

Tätigsein heißt freilich nicht, geschäftig zu sein oder bloßen gesellschaftlichen „Erfolg“ zu „haben“. Hoffend tätig sein heißt, das Leben und das (individuelle und kollektive) Wachstum (gerade auch gegen gesellschaftlich erwungenen Erwartungen) zu stärken, gewissermaßen biophil tätig zu sein, wobei hier natürlich unterstellt ist, dass gesellschaftliche Erwartungen falsch sein können. Hoffnung ist so gesehen nicht ein Zustand der „aktiv Hoffenden“, sondern vielmehr der „hoffend Aktiven“. Diese – letztlich – lebensbejahende Hoffnung wird deutlich, indem Fromm seinen Begriff der Hoffnung mit dem Konzept des „Glaubens“ und der „Seelenstärke“ verbindet. Glauben heißt Fromm zufolge die „Gewißheit des Ungewissen“ (ebd.: 28; kursiv i.O.) zu begreifen. Während irrationaler Glaube sich etwas bereits Bestehendem unterwirft (so z.B. jedweder Form von Idolarisierung, etwa einem politischen Führer, einem Nationalismus oder einer anderen Ideologie), verbindet sich der rationale Glaube als „Gewißheit der Vision und des Verstehens“ (ebd.: 28) der Wirklichkeit mit der wirklichen Hoffnung:

„Hoffnung ist die Stimmung, die mit dem Glauben Hand in Hand geht. Ohne eine hoffnungsvolle Stimmung läßt sich der Glaube nicht aufrechterhalten. Nur auf den Glauben kann sich die Hoffnung aufbauen.“

Fromm 1987: 29 (GA IV: )

Doch biophiles Tätigsein, wenn das, was Fromm sagen will, so zu nennen erlaubt ist, benötigt auch „Seelenstärke“ der Menschen. Sie bedeutet die Fähigkeit, „der Versuchung zu widerstehen, Hoffnung und Glaube dadurch zu gefährden, dass man sie in einen leeren Optimismus oder in einen irrationalen Glauben umwandelt“ (ebd.: 29); geschieht dies, sind beide verloren. Diese Seelenstärke zu verfolgen, fordert derjenigen „Furchtlosigkeit“ (ebd.: 30) ab, die es versucht. Dabei meint Furchtlosigkeit weder in irrationaler Weise, „sein Leben zu risikieren“ (ebd.), noch die Furchtlosigkeit dadurch zu erlangen, „sich einem Idol, einem anderen Menschen, einer Institution oder einer Idee symbiotisch zu unterwerfen.“ (Ebd.). Furchtlosigkeit bedeute vielmehr, seine Begierden zu überwinden, „Idole, irrationale Wünsche und Phantasien“ (ebd.) loszulassen, „weil er [oder auch: sie] mit der Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner [oder: ihrer] selbst in vollem Kontakt steht.“ (Ebd.) Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) und die Philosophie des prophetischen Alternativismus stellen uns – Fromm zufolge – vor die Wahl:

„Als wesentliche Eigenschaften des Lebens drängen Hoffnung und Glaube schon ihrer Natur nach über den individuellen wie auch den gesellschaftlichen status quo hinaus. Das Leben hat unter anderem die Eigenschaft, daß es ein ständiger Prozeß der Veränderung ist und keinen Augenblick gleich bleibt. Leben, das stagniert, beginnt abzusterben. Stagniert es völlig, ist der Tod eingetreten. Hieraus folgt, daß das Leben in seiner Eigenschaft als Bewegung dazu tendiert, aus dem status quo auszubrechen und ihn zu überwinden. Wir werden entweder stärker oder schwächer, klüger oder dümmer, mutiger oder feiger. Jede Sekunde ist ein Augenblick der Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren. Entweder pflegen wir unsere Trägheit, unsere Gier und unseren Haß, oder wir hungern sie aus. Je mehr wir sie pflegen, um so stärker werden sie; je mehr wir sie aushungern, um so schwächer werden sie.“

Fromm 1987: 31 (GA IV: ); Hervorhebungen i.O.

Menschen können in biophiler Weise folglich nur glaubend und mit begierloser Furchtlosigkeit hoffend tätig sein. Doch warum und wozu sollten sie das können (wollen)? Nachdem Fromm im zweiten Kapitel seines Buches von der „Revolution der Hoffnung“ seinen zum Tätigsein drängenden Begriff von „Hoffnung“ entfaltet hat, widmet er sich im vierten Kapitel des Buches der Frage, was es heiße, „menschlich zu sein“ (ebd.: 74ff.). Dieses Kapitel gibt uns einen begrifflichen Schlüssel dazu, jenes empathische Rätsel aufzuschließen, das Fromm uns im zweiten Kapitel mit seinem Konzept „messianischer Hoffnung“ hinterlassen hat. Welche Menschlichkeit sollten wir wählen wollen? Drehen wir den Schlüssel langsam um!

Wer die Fromm’sche Philosophie eines „Naturalismus“ zeiht – und das tun viele berufene Philosoph:innen immer wieder gerne – , hat ihn entweder nie gelesen oder nicht verstanden. Dabei sind seine Aussagen völlig klar:

„Tatsächlich ist es bis jetzt nicht möglich, eine endültige Aussage darüber zu machen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein […]“.

Fromm 1987: 76 (GA IV: )

Daher sind alle Versuche, den Mensch ein für alle Mal wesensartig zu bestimmen, falsch und verkürzt, handelt es sich um die Etiketten eines homo faber, homo sapiens, homo ludens oder auch homo negans, auch wenn einzelne von ihnen Fromm zufolge mal mehr und mal weniger das „Menschliche“ streifen (ebd.: 75f.). Was macht aber nun denn das „Mensch-Sein“ bei Fromm aus, mögen Ungeduldige fragen. Die Antwort ist typisch für Fromm und seine dialektische Denkweise, die sich sowohl einer jüdischen als auch der hegelianischen Tradition verdankt. Die erwähnten „Manifestationen des Menschseins“ (ebd.: 77; Hervorhebung i.O.), d.h. die verschiedenen „homini hominorum“, zeigten, „wie verschieden wir als Menschen sein können.“ (Ebd.; Hervorhebung i.O.) Wo ist der oft Fromm vorgeworfene „Naturalismus“ plötzlich hin? Konstatiert werden muss: es gibt ihn nicht; oder vielleicht doch? Er ist da, aber nicht einfach zu „haben“. Ausgangspunkt seines differenzierten „Menschenbildes“ ist die „Bedingung der menschlichen Existenz“ (ebd.: 78), deren theoretische und ethische Implikationen er in der „Revolution der Hoffnung“ (78-114) fortschreitend resümiert, aber bereits in „Furcht vor der Freiheit“ (182013 [1941]: 24-35) und vor allem in „Den Menschen verstehen“ (92011 [1947]: 39-48 u. 97-188; GA ) in Grundzügen entwickelt hat.2

Die zentrale sozialpsychologische Setzung von Erich Fromm besteht in der Anerkennung der Differenz des Menschen von seinen säugetierartigen „Vorfahren“: nämlich (i) ein „Bewußtsein seiner selbst“ (Fromm 1987: 78; GA IV: ) zu besitzen und (ii) nicht von Instinkten determiniert zu sein. Das erste impliziert die (sichere, gern aber verdrängte) Erkenntnis von der eigenen Endlichkeit und der Gewißheit des eigenen Todes, während das zweite Axiom den Menschen dazu drängt, sich einen „Rahmen der Orientierung“ (ebd: 79) suchen zu müssen, damit er/sie nicht wahnsinnig wird. Denn es gilt:

„Der unter den genannten Bedingungen geborene Mensch würde tatsächlich verrückt werden, wenn er kein Bezugssystem besäße, das es ihm erlaubt, sich irgendwie in der Welt zu Hause zu fühlen und dem Erlebnis äußerster Hilflosigkeit, Desorientierung und Entwurzelung zu entrinnen.“

Fromm 1987: 79 (GA IV: )

Dieser Rahmen der Orientierung menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns ist – um die Regulationstheorie zu zitieren – eine „historische Fundsache“ und gerade deswegen durch gesellschaftliche Umstände mitbestimmt, die Fromm im Konzept des „Gesellschaftscharakters“ zu fassen suchte (Fromm 182013 [1941]: 200-215 [GA :]; 92011 [1947]: 51-56 [GA :]). Hiermit schließt Fromm insbesondere an die Marx’schen Frühschriften und dessen Überzeugung an, dass der Mensch ein sozial bedürftiges Wesen ist (Marx‘ Intepretation des Aristotelischen ‚zoon politikon‘). Der Gesellschaftscharakter ist klassenspezifisch bestimmt, kann aber auch gesellschaftsweit gefasst werden (s.a. Bierhoff 1993: 149ff.) und umfasst jeweils „bestimmte Charakterelemente“, die Angehörige einer Klasse (oder sozialen Schicht oder auch ggf. eines sozialen Millieus, um neuere soziologische Konzepte zu verwenden) „gemeinsam haben“ (92011 [1947]: 55 [GA :]). Ihre Identifizierung ist letztlich eine empirische Frage, die Fromm einerseits in seiner psychotherapeutischen Praxis exploriert und dann andererseits in größeren Forschungsprojekten zu erforschen und zu reflektieren versuchte (Fromm 1980; Fromm/Maccoby 1969). Denken, Fühlen, Ideen und Werte des Einzelnen werden – so Fromm in der „Den Menschen verstehen“ vom Gesellschaftscharakter ebenso geprägt, wie dadurch „‚vernünftiges‘ Handeln“ (92011 [1947]: 55 [GA :]) ermöglicht wird. Doch der Individualcharakter ist nicht mit dem Gesellschaftscharakter identisch. Mehr noch: in der Weiterentwicklung psychoanalytischer Überlegungen und Konzeptionen von Sigmund Freud entwickelt Erich Fromm in „Den Menschen verstehen“ eine Typologie verschiedener Charakterorientierungen, die den Individualcharakter und letztlich auch den Gesellschaftscharakter einer Klasse oder einer ganzen Gesellschaft prägen können.3

In der „Revolution der Hoffnung“ thematisiert Fromm diese Charakterorientierungen4 nicht, sondern fordert bloß die Überwindung „primärer Bindungen“ des Einzelnen, also die Überwindung der Bindung „an die eigene Herkunft – an Blut, Boden, Sippe, Mutter und Vater oder in einer komplexeren Gesellschaft an seine Nation, seine Religion oder seine gesellschaftliche Klasse.“ (Fromm 1987: 84; GA IV: ) Die Überwindung primärer Bindung und die Entscheidung für die Alternative „produktiver Bezogenheit“ (Fromm 92011 [1947]: 71ff. [GA :]) zu seinen Mitmenschen ist keine rein pflichtethische Forderung, sondern liege in der Natur des Menschen begründet. Die Fromm’sche Argumentation ist hier keineswegs einfach, sondern setzt die Akzeptanz mancher unorthodoxer Gedanken voraus. Erstens setzt sich Fromm kritisch mit dem Beviorismus auseinander, der behauptet, der Mensch sei unendlich formbar und könne sich jeder gesellschaftlichen Situation anpassen. Wenn dies so sei, so Fromm, sei nicht erklärbar, warum es in der Geschichte permanent zu Revolutionen gekommen sei. Zweitens sei die Reduktion der Bedürfnisse des Menschen auf das (physische) „Überleben“, was der Behaviorismus unterstelle, unzulässig. In Bezug auf die Marx’schen Frühschriften erhebt Fromm die axiomatische Setzung, dass der Mensch auf die anderen Menschen bezogen sein wolle. Und zwar in vielfältiger Hinsicht seiner ganzen menschlichen Möglichkeiten – ein genuin humanistischer Gedanke. Leben ist mehr als „bloßes Überleben“ – daher der Impuls – so ließe sich spekulieren – für Revolutionen und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen:

„Die Dynamik der menschlichen Natur, insofern sie menschlich ist, wurzelt primär in diesem Bedürfnis des Menschen, seine Fähigkeiten, sich auf die Welt zu beziehen, auszudrücken, und nicht in seinem Bedürfnis, die Welt als Mittel zur Befriedigung seiner physiologischen Notwendigkeiten zu benutzen.“

Fromm 1987: 88 (GA IV: )

Das „freie und spontane Tätigsein“ (ebd.: 89) spanne zusammen mit dem Aspekten des Notwendigen eine „Polarität“ auf, die das Denken und Handeln des Menschen strukturiere. Doch diese werde nicht immer erkannt, da der Mensch in einer „gegebenen Gesellschaft“ (ebd.: 90) zunächst überleben müsse und „Dinge“ verdränge, „deren er sich bewußt wäre, wenn sein Bewußtsein nicht von anderen Modellen geprägt worden wäre.“ (Ebd.) Träume, Symbole und alle Arten von Künsten seien Möglichkeiten, sich dieses Verdrängten wieder bewusst zu werden. Worin bestehen nun die spezifisch menschlichen Erfahrungen (und damit auch Möglichkeiten), die eine Bewegung für einen „humanistischen Sozialismus“ stärken sollte und zugleich von ihnen bestärkt würde?

Anmerkungen

1 Die „reflexive Anthropologie“ (Bourdieu/Wacquant 2006) eines Pierre Bourdieu dürfte – nebenbei bemerkt – gar nicht so weit von der Frommschen Vision einer Wissenschaft vom Menschen entfernt sein. Der Habitusbegriff des französischen Soziologen ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Frommschen Konzept des Gesellschaftscharakters, wie neuere Forschung herausgefunden hat (Fromm-Forum XXXX).

2 Nebenbemerkung: wenn Fromm die zum Teil auch modifizierende Resümierung vorheriger theoretischer Bausteine gewissermaßen als unproduktive „Wiederholung“ und unter der Hand pejorativ gemeinte „irrende Selbstreferenz“ (so oft Friedman 2013: passim) immer wieder angelastet wird, wird gern mit doppeltem Maß gemessen. So ist doch z.B. die ziemliche ähnliche Praxis von Niklas Luhmann, seine Grundaxiome in jedem seiner Werke als Zeichen systematischen Fortschreibens seiner „Theorie“ reflektierend zusammenzufassen, als Ausdruck systematischen Theoretisierens anerkannt – von Axel Honneths oder auch Jürgen Habermas‘ analoger Methodologie, von Buch zu Buch schrittweise ihre theoretischen Erkenntnisse und Grundüberzeugungen auszubauen, ganz zu schweigen.

3 Die Unterscheidung von „Gesellschaftscharakter“ und „individuelle(m) Charakter“ bei Fromm ist nicht immer klar formuliert. Während der „Gesellschaftscharakter“ durch Assimilierung und Sozialisation (Fromm 92011 [1947]: 54f. [GA :]) die Individuen präge, bleibt eine Differenz nichtsdestotrotz bestehen. Der Individualcharakter geht im Gesellschaftscharakter – und auch anders herum – nicht auf: „Vom Gesellschafts-Charakter getrennt müssen wir jedoch den individuellen Charakter betrachten, durch den sich innerhalb des gleichen Kulturkreises [oder einer Klasse?, KM] ein Mensch vom anderen unterscheidet. Diese Unterschiede gehen zum Teil auf die Unterschiede der Persönlichkeiten der Eltern zurück, zum anderen auf die psychischen und materiellen Unterschiede der besonderen sozialen Umwelt, in der das Kind aufwächst. Aber sie sind auch durch konstitutionelle Unterschiede des einzelnen bedingt, insbesondere durch solche des Temperaments. Genetisch wird die Formung des individuellen Charakters durch die Wirkung bestimmt, welche die aus dem individuellen und kulturellen Bereich erwachsenen Lebenserfahrungen auf das Temperament und die physische Konstitution ausüben. Die gleiche Umwelt ist für zwei Menschen nie dieselbe, weil beide diese Umwelt durch ihre verschiedene Konstitution mehr oder minder verschieden erleben. Bloße Gewohnheiten des Denkens und Handelns, die nur eine Folge der menschlichen Anpassung an kulturelle Vorbilder sind, aber nicht im Charakter wurzeln, können sich unter dem Einfluss neuer gesellschaftlicher Vorbilder leicht verändern Wurzelt dagegen das Verhalten eines Menschen in seinem Charakter, so ist es mit Energie geladen und nur dann veränderlich, wenn ein Wandel in der Charakaterstruktur selbst stattfindet.“ (92011 [1947]: 56 [GA :])

4 Die (Gesellschafts-)Charakterorientierungen werden unterteilt in produktive und nicht-produktive Charakterorientierungen. Fromm unterscheidet in „Den Menschen verstehen“ als nicht-produktive Charakterorientierungen folgende vier (vgl. Fromm 92011 [1947]: 57ff. [GA : ]): (i) die rezeptive Orientierung, (ii) die ausbeuterische Orientierung, (iii) die hortende Orientierung und (iv) die Marketing-Orientierung. Er stellt in diesem frühen Schlüsselwerk zur Typologie von Charakterorientierungen diesen auch Merkmale einer produktiven Charakterorientierung entgegen, deren Kern er vor allem als „produktive Liebe“ und „produktives Denken“ umschreibt (ebd.: 71ff. [GA :]). Die analytische Bedeutung dieser Orientierungen für die theoretische Konstruktion von historisch-spezifischen Gesellschaftscharakteren einerseits und von Individualcharakteren andererseits bleibt etwas im Dunkeln, weil vor allem die nicht-produktiven Charakterorientierungen zum einen – bis auf das Konzept des „Marketing-Charakters“ – an psychoanalytischen, von Sigmund Freund entwickelten Konzepten angelehnt sind und daher im eigentlichen Sinne an die kapitalistische Marktgesellschaft gebunden sind, aber von Fromm gelegentlich als anthropologische „Konstanten“ angesehen werden – auch wenn er diese Begrifflichkeit selbst nicht nutzt. Zum anderen bleibt wegen dieser begriffsgeschichtlichen Anlehnung an die Ausgangskonzepte der auf das Individuum bezogenen Psychoanalye nach Freud das analytische „Fluiditätspotenzial“ zwischen den gesellschaftsweiten bzw. klassen- oder millieuspezifischen Ausprägungen von Charakterorientierungen (also von: Gesellschaftscharakteren) und den in der Psychotherapie zum Reflexionsgegenstand erhobenen Individualcharakteren konzeptionell unterentwickelt. Zum besseren Verständnis der analytischen und empirischen Bedeutung des Konzepts des Gesellschaftscharakters wird auf ihre theoretische Konstruktion und empirische Operationalisierung in den empirischen Studien zurückgegriffen werden müssen. Dies kann hier nicht geleistet werden (s.a. Bierhoff 1993: Teil III).