Archiv der Kategorie: Sozialphilosophie

Gesundheit im „Prinzip Hoffnung“

Erweitertes Manuskript zum einführenden Vortrag: „Gesundheit als sozialtheoretisches Problem“ auf dem Präventionsnachmittag: „Gesundheit als konkrete Utopie“ am  Ernst-Bloch-Zentrum, Ludwigshafen am Rhein: 05.06.24 (Autor/Vortragender: Kai Mosebach)
 
ER NST BLOCH, „DAS PRINZIP HOFFNUNG“: Eine gesundheitswissenschaftliche Reflexion
 
Einführung zu Kapitel 33-35 aus „Das Prinzip Hoffnung“ (1985 [1959]: 523-546


In den Kapiteln 33, 34 und 35 des Buches: „Das Prinzip Hoffnung“ thematisiert der Tübinger und Ludwigshafener Philosoph Ernst Bloch die Bedeutung des Heilens beziehungsweise der Heilkunst für die Konstruktion der „Grundrisse einer besseren Welt“ (Teil IV des Prinzips Hoffnung).


Aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive wirken die Ausführungen des Philosophen zum Thema Gesundheit aus einer sozialtheoretischen Perspektive keineswegs angestaubt. Seine philosophisch-literarischen Reflexionen zum Thema Gesundheit und Heilkunst sind – obwohl zur Zeit des Nationalsozialismus in den USA geschrieben – in ihrer grundlegenden Perspektivitität und dialektischen Anlage immer noch hochaktuell.


Welche Bedeutung hat die Heilkunst, hat die Reflexion über Gesundheit und Krankheit in diesen Kapiteln für das gesamte Werk des Prinzips Hoffnung? Stellt man diese Kapitel und insbesondere das 35. Kapitel, das mit der Überschrift „Kampf um Gesundheit, die ärztlichen Utopien“ überschrieben ist, in den Gesamtkontext des Werkes, so kann man feststellen – ohne dass ich hier simulieren würde, ein Bloch-Experte zu sein – dass die Heilkunst beziehungsweise ihr Ziel, die Sicherstellung des individuellen Überlebens freilich die Grundvoraussetzung dafür ist, die weitergehenden Themen einer besseren Welt zu erstreben und zu erörtern. Und eben von diesen „Grundrisse[n] einer besseren Welt“ handelt der vierte Teil, die „Konstruktionen“, seines Prinzips Hoffnung. Salopp formuliert: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist ziemlich viel oder alles nichts. Das ist die Grundannahme, der Ausgangspunkt der Bloch’schen Überlegungen.

Überblick: das erste Kapitel (Kapitel 34), das gesundheitswissenschaftlich betrachtet bedeutsam ist, trägt die Überschrift: „Übung des Leibes, tout va bien“ (523). Hier geht es in historisch – philosophischer Weise um die Bedeutung des Sports, der Leibesübungen für die Ertüchtigung und die Gesundheit des Einzelnen und des Volkes. Dieser historische Zugang zum Thema Leib wird ergänzt beziehungsweise diesem folgt das zentrale fünfunddreißigste Kapitel, das überschrieben ist: „Kampf um Gesundheit, die ärztlichen Utopien“ (526). Diesem Kapitel wird im folgenden die größte Bedeutung zukommen, allein schon wegen der Länge (526-546). Die Unterkapitel tragen die folgenden Bezeichnungen:

Ein warmes Bett (526-527)

Irre und Märchen (527-529)

Arznei und Planung (529-536)

Zögerung und Ziel im wirklichen leiblichen Umbau (536-541)

Malthus, Geburtenziffer, Nahrung (542-544)

Die Sorge des Arztes (545-546)


Im folgenden sollen die Themen der Kapitel und der Unterkapitel aus den Texten von Ernst Bloch, aus dem Prinzip Hoffnung, zusammengefasst und in gesundheitswissenschaftlicher Weise interpretiert werden. Die Leitfrage dabei ist: welche Aktualität haben die Bloch’schen Überlegungen (noch) für heutige gesundheitswissenschaftliche Probleme? Oder auch: was sagt uns das Prinzip Hoffnung zu den sozialtheoretischen Grundlagen des Problems individueller und kollektiver Gesundheit?


Ein Träumer will mehr (Kapitel 33):


In dem kurzen Kapitel thematisiert Bloch das Suchen des Einzelnen nach „mehr“, seine Konstitution, seine Genese, sein Schicksal als „Träumer“ (523). Die Motivation zu suchen, erblickt der Einzelne darin beziehungsweise dadurch, das zu überwinden, was fehlt, von dem es erträumt wird.: „Wovon geträumt wird, dessen Fehlen tut nicht weniger weh, sondern mehr. So hindert das, sich an die Not zu gewöhnen. Was immer wehtut, drückt und schwächt, soll weg.“ (Ebd.)


Dem stetigen „Suchen“ liegt ein Wille zu Grunde. Ein Wille, der danach strebt, „nicht nur über die eigenen, sondern über die schlecht vorhandenen Verhältnisse insgesamt zu leben“. (Ebd.) Die Ernsthaftigkeit des Willens zeigt sich, so Bloch, darin, dass der Einzelne bestimmt daran festhält, es ihm Ernst wird, „wenn der Weg richtig und sorgend vorwärts geht.“


Gesundheitswissenschaftlich lässt sich hier nicht viel interpretieren. Lediglich der Satz, „das was wehtut, soll weg“, deutet darauf hin, dass fehlende Gesundheit beziehungsweise genauer Krankheit, also Einschränkung und Leid, nicht erstrebenswert sind, von ihnen also nicht geträumt wird und sie schon gar nicht erträumt werden wollen. Die Sehnsucht treibt an, befördert den Träumenden ins Reich der „realen Utopien“, von dessen Geschichte, Möglichkeiten und Bedingungen der Rest des vierten und fünften Teils von Blochs: „Das Prinzip Hoffnung“ bekanntlich handelt. Welchen Träumen, welchen Sehnsüchten, welchen Utopien folgt das individuelle wie soziale Streben nach Gesundheit, nach guter Leiblichkeit? Diese Fragen thematisiert Bloch in den nächsten beiden Kapiteln.




Übungen des Leibs, tout va bien (Kapitel 34):


In diesem Abschnitt beschäftigt sich Ernst Bloch in geradezu psychosozialer Weise oder gesundheitssoziologischer Weise mit der Frage: „Wie bleiben wir gesund […] wie ernährt man sich gut und billig.“ (523) Der Ausgangspunkt seiner Reflexion in diesem kurzen Kapitel ist eine aphoristische Einleitung in die Grundlagen der Gesundheitssoziologie: „Nur was klein ist, drückt nach unten. Das Kind hat nichts zu melden, die Frau kocht und wäscht, der Arme steht krumm, nicht viele werden noch täglich einmal satt.“ (Ebenda)


Hier werden in zuspitzender Diktion nicht nur verschiedene Herrschaftsverhältnisse angesprochen (entrechtete Kindheit und patriarchale Herrschaft sowie kapitalistische Armut), sondern auch, wie man unter diesen Bedingungen überhaupt gesund bleiben kann oder noch existenzieller, sich „gut“ zu ernähren vermag. Ernst Bloch deutet die Antwort an: „Wo ist der grüne Ast, er kann an anderen gesehen werden, sie sitzen darauf. Vierzehn Tage frei, das ist schon sehr viel für die meisten, dann zurück in ein Leben, das keiner will. Die frische Luft steht hier für viel, was strahlen könnte.“ (523f.) Es gibt also, so die Schlussfolgerungen, soziale Hierarchien, soziale Ungleichheiten, die unterschiedliche, nämlich ungleiche, Gesundheitschancen oder eben, andersherum, sozial differenzierte Krankheitswahrscheinlichkeiten und frühzeitigen Tod verursachen. Das ist das große Thema der Gesundheitssoziologie, insbesondere der Sozialepidemiologie.


Den nächsten beiden Absätzen intoniert Ernst Bloch eine kritische Soziologie des Sportes. Offenbar ausgehend von dem noch heute üblichen: „Bewege dich doch, geh‘ doch nach draußen“, wird die „frischere Luft“ (524) zum Ausgangspunkt der Leibesübungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Heute würde man wohl den Bürgerinnen und Bürgern nahelegen, sich ins Fitnessstudio zu begeben, wenn ein Sport im Freien nicht möglich ist.


Doch die Stärkung des „Sportherzens“, dass „das Bierherz verdrängt“ habe, unter „bürgerlichen Zuständen“, ist ambivalent. Denn Sport mache unter diesen Bedingungen „dumm“, werde also deshalb „von oben gefördert“. Das liege nicht nur daran, dass das „Verbessern der Rekorde“ den „freien Wettbewerb“ verdrängt habe, eine Anspielung auf die marxistische Theorie des Monopolkapitalismus (z.B. Varga 1929), der den liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ersetzt hat, sondern insbesondere darauf, dass sich durch Sport alleine keineswegs die krankmachenden sozialen Verhältnisse ändern (lassen). Oder wie es Bloch aphoristisch ausdrückt: „Ein kräftiges Bedürfnis treibt die Massen ins Freie, aber das Wasser reinigt nur die Körper, und die Wohnung, zu der der Freiluftmensch abends heimkehrt, ist nicht frischer geworden.“ (524)


Mit dieser bürgerlichen Stützung der Idee des Sports ist nicht nur die Idee des Turnvater Jahns, dass die „Seele des Tonwesens“ das „Volksleben“ sei, im Verlauf der deutschen Geschichte pervertiert worden, indem vergessen wurde, den Kopf, den Intellekt in die Ertüchtigung einzubeziehen. Die Folgen, so Bloch, waren katastrophal: „Leibesübungen, ohne die des Kopfes, hieß schließlich: Kanonenfutter sein und vorher Schläger.“ Er geht noch weiter: „Es gibt keinen unpolitischen Sport; ist er frei, so steht er links, ist er verblendet, so vermietet er sich an rechts. Und erst in einem ungedeckten Volk, in einem, wo der tüchtige Leib wieder mißbraucht wird noch als Ersatz für Männerstolz steht, wird Jahns Wunsch sinnvoll.“ (524f.)


Dabei stecke in dem Gedanke der sportlichen Übung eine hoffende Inspiration: „Sie will des Körpers nicht nur mächtig werden, derart, daß an ihm kein Fett ist und jede Bewegung wohlig – ungehemmt hergeht. Sie will auch mit dem Körper mehr machen, mehr sein können, als ihm an der Wiege gesungen wurde.“ (525) Bloch erkennt den noch heute gültigen, wenn nicht sogar hoch aktuellen, „bürgerlichen Notstand“, den der Sport abwehren kann und der darin besteht für einen „Ausgleich“ zur „überwiegend sitzenden Lebensweise“ zu sorgen. Diesem bürgerlichen Notstand weist Bloch eine zukünftige Bedeutung zu: sie werde es immer geben, aber er legt den Finger auch in die Wunde, dass die Stubenarbeiter keineswegs immer die Verheißung „frischer Luft“ im Kapitalismus bekommen. Wie wir bereits wissen: Sport allein schafft keine frische Luft in den sozialen Verhältnissen. Diese müssen sein Erleben und Aktivsein auch ermöglichen, sei es durch hilfreiche betriebliche oder private Lebensbedingungen, sei es durch Zeit und Muße.


Denn diese sozialen Verhältnisse einer entfremdeten Gesellschaft sind es, die dem Köper „Verzerrungen und Entstellungen“ zufügen, die Sport alleine wohl nicht in der Lage ist zu beseitigen, auch wenn die sportlichen Hoffnungen darauf beruhen: „Es ist ein sportlicher Wunsch, seinen Leib derart in der Hand zu haben, dass noch auf der Sprungschanze, wenn der Mensch fliegt, jede Lage vertraut ist, auch die neue, übertriebene.“ (525)


Den Körper zu kontrollieren, ist heutzutage wohl die verbreiteste Religion der spätmodernen Gesellschaften. Und hier zeigt sich eine Aktualisierungsnotwendigkeit von Ernst Blochs Gedanken. Die zunehmende und erwünschte Kontrolle des eigenen und des kollektiven Leibs (siehe Foucaults Biopolitik), über jede Verzerrung und Entstellung, die der Kapitalismus hervorruft, ist im heutzutage anzutreffenden flexiblen Kapitalismus (Lessenich 2009) in das Individuum zurückverlagert worden, nachdem zunächst die Gesundheitsbedingungen am Arbeitsplatz nach dem Zweiten Weltkrieg, auch durch gewerkschaftliche Strategie, kollektiv gestärkt wurden. Der nunmehr allzeit beobachtbare Arbeitskraftunternehmer (Bongratz 2001) hat es nun nicht nur (vermeintlich) selbst in der Hand, sondern ist vielmehr durch die neuen marktförmigen Produktionsformen (Dörre/Röttger 2003) gezwungen, seine eigene Gesundheit aufrecht zu erhalten. Das gelingt freilich nur wenigen, die in prosperierenden Branchen leben oder sich komplett aus dem Arbeitsleben zurückgezogen haben, mit der Gefahr der sozialen Marginalisierung Unten, die auch nicht gesundheitsförderlich ist,  und dem arbeitslosen Luxus Oben in der sozialen Hierarchie freilich. Dennoch zeigt der Verweis auf Foucaults Biopolitik, dass diese auch von Bloch beschriebene Belagerung der Körper als Herrschaftsfolie offenbar strukturell bedingt ist und keineswegs völlig neu im 21. Jahrhundert auftritt. Die Historie der Körperkulte ist eine lange (Griechen, Römer, Renaissance, Neuzeit, Faschismus, Neoliberalismus).


Bloch thematisiert diese biopolitische Ideologie ebenfalls in der Diskussion der Bedeutung von Medizin, Arzttum und Heilkunde in den sog. „Staatsutopien“ eines Platon, Bacon oder Morus (S. 539f.) Im Kapitalismus – so lässt sich realhistorisch schlussfolgern – hat sich die positiv besetzte („gesunde“) Körperlichkeit erst (kriegs-)staatlich vermittelt gegen die todbringende Ausbeutung der Körper im kapitalistischen Inneren der Gesellschaften durchsetzen müssen und wurde nach außen zudem rassistisch überhöht und kolonialistisch pervertiert und „externalisiert“, indem nun stattdessen fremde Körper vernichtet wurden – von den (verbliebenen) Elenden der (angeblich) post-industrialierten Welt des 21. Jahrhunderts einmal abgesehen.


Der abschließende Absatz im 34. Kapitel, der sich mit der Bewegung der positiven Psychologie und der Autosuggestion des französischen Apotheker und Psychologen Émile Coué auseinandersetzt, ist so betrachtet geradezu prophetisch beziehungsweise verweist auf langlebiege Strukturhomologien im Kapitalismus jedweder Zeit. Die Überwindung von Armut, Ausbeutung, Stresszuständen oder Herausforderungen, die krank machen können, mit der Autosuggestion: „alles ist gut“, wie es Coué empfohlen hat und noch heute in der positiven Psychologie reüssiert, ist hochgradig problematisch. Ernst Bloch weist damit schon früh und hochaktuell auf die Gefährdung der positiven Psychologie hin: „Hier ist das gefährliche Vorbild für das Wegsehen vom Übel; indem es ignoriert wird, soll es wie nicht da sein.“ (526)


Doch Bloch wäre nicht der dialektische Bloch, wenn er nicht erkennen würde, dass selbst in dieser Gefahr der positiven Psychologie doch auch ein „Schuss Wahres an der Sache“ (526) liege. Die mögliche „hellere Stimmung“ könne die Schlappheit beenden, die auch eine Krankheit sein könne. Zwar ist nicht alles gut, aber der Wille, der sich in der Überwindung der Schlappheit ausdrücken könnte, so ein Zeichen, „daß ein Wille auf seinem Weg ist.“ (526) Man fühlt, die „Selbstwirksamkeit“ (Bandura) oder den „Kohärenzsinn“ (Antonovsky), Konzepten aus der Zukunft der Gesundheitssoziologie und -psychologie, in das Bloch’sche Werk hineinschauen.


Da unser Körper sich verändere, nutze es keineswegs, sich nur stets „alles ist gut“ einzureden. Dennoch bleibt der „Traum des Besseren“ in Bezug auf das Leibliche vorhanden. Hier tritt die Medizin beziehungsweise der Arzt auf dem Plan: „Diesem [träumenden] Mann kann durchaus geholfen werden, samt dem Weib, auf der planbare Straße [der Medizin].“ (526)


Exkurs: Chat GPT-Recherche zu „Coué“:



„Ja, natürlich! Der „Coué“, auf den in Ernst Blochs Buch „Das Prinzip Hoffnung“ hingewiesen wird, ist wahrscheinlich Émile Coué, ein französischer Apotheker und Psychologe, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lebte. Er ist am bekanntesten für seine Entwicklung der sogenannten „Autosuggestion“ oder „Selbstbeeinflussung“.


Coué glaubte, dass die Kraft des positiven Denkens und der Autosuggestion dazu verwendet werden kann, physische und psychische Probleme zu überwinden und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern. Sein berühmtestes Mantra war „Tout va bien“ (Alles ist gut), das er seinen Patienten empfahl, regelmäßig zu wiederholen, um ihr Selbstvertrauen zu stärken und positive Veränderungen in ihrem Leben zu bewirken.


Ernst Bloch erwähnt wahrscheinlich Coué in seinem Buch, um auf die Bedeutung von Hoffnung, Selbstvertrauen und positivem Denken für das menschliche Leben hinzuweisen. Coués Ideen hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Selbsthilfe- und positiven Psychologie und haben bis heute Anhänger.“


(Antwort von Chat GPT, 12.05.24, Anfrage meinerseits: „Was kannst du mit dem Namen „Coué“ und der Aussage „tout va bien“ anfangen. Es muss sich hier um einen Gesundheitsapostel oder Arzt handeln, der Gesundheitstipps im 18. oder 19. Jahrhundert angepriesen hat. Auf diesen „Coué“ wird in Ernst Blochs Buch: „Das Prinzip Hoffnung“ hingeweisen. Kannst du mir hier helfen, herauszufinden, wer dieser „Coué“ war?“)



Kampf um Gesundheit, die ärztlichen Utopien (Kapitel 35)



Die ärztlichen Utopien sind derer viele. Sie sind angelegt in der Wunsch nach einem „wärmenden Bett“ des Kranken, sich gewissermaßen im Schlafe „gesund“ zu fühlen, oder wie der Volksmund sagt(e): „Ach, Herr Doktor, wenn ich liege, geht es mir gleich besser.“ Die medizinischen Wunschträume wurzeln in den anthropologischen Konstanten einer Utopie des „Gesundseins“ (KM), die sich gegen Schmerz, Krankheit und Tod wendet. Die medizinischen Pläne entwickeln sich historisch aus der mittelalterlichen Volksmedizin und Kräuterlehre, die etwas auch Umberto Eco in seinem wunderbaren Romen „Der Name der Rose“ blumig in ihrer Doppeldeutigkeit beschreibt („drug“ auf Englisch heißt bekanntlich: Droge und Arzneimittel, eine Apotheke ist ein „drug store“; ein Zusammenhang, der im Deutschen ein wenig verloren gegangen ist; liegt es an der Ikonisierung der deutschen Pharmazie als „Apotheke der Welt“ in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts?).


Auch ärztliche, medizinische Utopien sind folglich selbst zum Teil irre Märchen geworden, die im Zuge der Verwissenschaftlichung und Industrialisierung der Medizin im 20. Jahrhundert zum Teil aber sehr real geworden sind. Tod, Krankheit und Wunsch nach ewiger Jugend werden zu utopisch zu überschreitenden „Grenzen“, „Frontiers“, wie die Angloamerikaner sagen, der medizinischen Planung und Arzneianwendung erklärt.


Ein warmes Bett


In diesem ersten Abschnitt betrachtet Bloch das „Kranksein“ aus der psychologischen Perspektive des träumenden Wünschens eines Kranken. Die Krankheit soll verschwinden, das, was krank ist, wird als Last empfunden, als ein Zuviel des Guten beziehungsweise Schlechten. Im „warmen Bett“ fühlt sich der Kranke, weil schlafend, gesund, weil er eben sich nicht fühlt. Im Wachzustand dagegen soll das Unbehagen „als ein Herumhängendes, Überflüssiges weg, Schmerz ist wildes Fleisch. Vom Leib wird geträumt, der wieder auch behaglich zu schweigen weiß. “ (527)




Irre und Märchen


Der erste Abschnitt in diesem Kapitel, der sich mit ärztlichen Utopien beschäftigt, thematisiert die Quellen beziehungsweise Wege, wie der Wunsch des Kranken, „im Nu gesund zu werden“ (527), in die Realität umgesetzt werden kann. Ein „ehrlicher Arzt“, so Bloch, könnte das dem Kranken nicht geben, daher würden die Herzenswünsche des Menschen und Kranken: jung zu bleiben, lange zu leben und alles beide „nicht auf schmerzlichen Umwegen, sondern überrumpelnd, märchenhaft zu erlangen“ (527) von Irren und Märchen genährt.


Ernst Bloch beschreibt den sprichwörtliche Kurpfuscher, der diese Wünsche bediene und mit Salben, Heilgetränken oder auch Heilwasser und allerlei Theatralisches und Getue am Leben zu erhalten pflege, um davon zu leben. Genannt werden historische Beispiele eines Grafen St. Germain, Mesmers und Dr. Graham (528), die auf unterschiedliche Weise den Leichtglauben des Kranken beziehungsweise Nicht-krank-werden Wollenden ausnutzten.


Doch nicht nur semi – professionelle oder kommerzielle Kurpfuscher laben sich an dem Wunsch, „im Nu gesund zu werden“,  sondern auch die wesentlich ältere Kunst der Kräuterlehre neigt zur falschen Prophetie. Doch bereits hier und noch mehr in sämtlichen „groß– medizinischen Pläne[n]“ (528) zeige sich blitzartig auch die Wirksamkeit des „Ungemeinen“. Die Medizin macht gewissermaßen perplex: „Es ist immer ein Abenteuerliches und Sonderbares in ihnen, im Gift, das nicht tötet, sondern schmerzfrei macht, im Messer, das nicht mordete, sondern heilt, im Grenzgebilde mit dem künstlich hergestellten Magen.“ (528) Auch die Medizin setzt also beim Hoffnungsglauben des Kranken an, kreiert „Märchen“.


Obwohl das derart „Geflickte“ keineswegs besser oder zuverlässiger funktioniere als das natürliche, „gesunde Organ“, lässt sich nicht leugnen, dass die Medizin, der Arzt etwas (be-)wirke: „Die Krankheit ist nicht abgeschafft, aber ihr Ende: der Tod, ist verblüffend zurückgedrängt.“ (528)


Die Medizin, der Arzt, so Bloch zum Abschluss des Unterabschnitts, könne im Grunde zufrieden sein mit seiner Wirkung in den letzten 100 Jahren, wenn denn da nicht die Staaten wären, die in Tagen (qua „Ausbeutung“ und „Krieg“) nachholten, „was in Jahren an Sterben versäumt wurde“ (528).


Auch an dieser Stelle kommt Ernst Bloch damit mit der Betonung der Grenzen der Medizin, die in den gesellschaftlichen Determinanten (hier: Ausbeutung und Krieg) begründet sind. Dennoch wendet sich Bloch mit dem letzten Satz seines Unterkapitels bereits den grundlegenden ärztlichen Utopien zu, die zu seiner Zeit und vielleicht auch noch heute die Medizin und die Menschen angetrieben haben, wenn er schreibt, dass das Lager, „von dem der Kranke aufsteht“ erst dann vollkommen wäre,„wenn er erfrischt statt nur gepflegt wäre.“ (529) Im nächsten Abschnitt über die medizinischen Träume zur Bearbeitung menschlicher Gesundheits- und Existenzwünsche sucht er nach den Quellen der Erfrischung des Menschen durch die Medizin.




Arznei und Planung


„Erfrischung“ meine, so Bloch (S. 529), „nichts weniger, als den Leib umzubauen“, was bisher natürlich nicht möglich gewesen sei. Hierzu zählt er die „schmerzstillenden Mittel“, die „narkotische[r] Betäubung“ oder auch Arzneimittel, eben auch: Gifte. Das Gemeinsame ist: „All das ist künstlich und liegt nicht in der Linie des ohnehin vorhandenen Selbstschutzes, der ohnehin möglichen Regenerierung.“ (S. 530)


Selbst in den „Staatsmärchen“ (s. bereits oben) eines Platon, Morus etc. wird dem staatlichen Drang nach „einem besseren Leben“ (ebd.) Genüge getan, indem der „hinfällige Körper“ in ihnen verschwindet. Heilkunde und Dietätik werden zu beispielhaften Instrumenten eines „neu aufgebauten Lebens“ (ebd.). In diesen „Staatsmärchen“ verwandelt sich der Arzt (die Medizin) in eine erträumte Instanz, die in der Lage ist, „einen weniger anfälligen Leib zu bilden.“ (Ebd.)


Hiermit ändert sich die Rolle des Arztes grundlegend: Er wird „hier überall nicht als Schuhflicker gedacht, der schlecht und recht das Alte wieder herrichtet. Sondern er wird als Erneuerer gewünscht, das Fleisch nicht nur von seiner erworbenen, sondern sogar von seiner angeboreren Schwäche befreiend.“ (Ebd.)


Der Arzt als exekutive Instanz eines „neuen Menschen“, einer „progressiven“ (?, KM) Eugenik etwa? Aus diesen Staatsmärchen ist es kein weiter Weg mehr zu der Foucault’schen biopolitischen Tendenz in der Moderne und den eugenischen Programmen totalitärer Staats- und Regierungsformen in der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (medizinischer und psychologischer Totalitarismus), wie Bloch selbst erläutert (S. 531ff.).


Wie die Foucault’sche Biopolitik unterstellt Bloch den staatlichen wie ärztlichen Utopien dabei ein vitales Interesse an der „Regierung der Körper“ (Turner 2004: 60ff.), auch und besonders dem „gesunden Leib“ (Bloch 1985: 530) und nicht nur dem „kranken“


Im weitern Verlauf des Unterkapitels thematisiert Bloch drei (anthropologische) „Pläne“ in staatlichen und ärztlichen Utopien, die von verblüffender bzw. erschreckender Aktualität (je nach ethischem Standpunkt) erscheinen und noch immer die staatlich-biopolitisch-ärztlichen Utopien antreiben: (i) der „Plan zur Beeinflussung des Geschlechts“ (S. 531), (ii) die Problematik der „rationellen Züchtung“ (ebd.) eines neuen Menschen, den aktiv die Nazis zur Niederschrift der Bloch’schen Überlegungen ergriffen hatten und damit der historisch wesentlich älteren Idee der Eugenik eine menschenverachtenden Höhepunkt verschafften und (iii) der „Kampf gegen das Alter“ (S. 533), dessen Ansätzen, Versuchen und (ersten) Erfolgen sich Bloch am ausführlichsten in diesem Kapitel widmet (S. 533-536).


Geschlechtsbeeinflussung:


Hier meint Ernst Bloch den patriarchalen Wunsch, „mehr Knaben als Mädchen“ zu gebären, um „männliche Stammhalter für Müller und Schulze ihn oben (S. 531) zu bekommen.


Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, weil die „Mädchen“ so begehrt würden, dass sie „aus dem Wechsel ihrer Geschlechtsteile“ (S. 531) gar nicht herauskämen.


Die chinesische Praxis der Ein – Kind – Familie indes zeigte, dass eine solche Politik durchaus möglich ist, wenn es auch nicht das Ziel war, mit dieser Politik nur die Gebote von Jungen zu befördern. In Wechselwirkung dieser Politik mit der strukturell – patriarchalischen Kultur in China war es jedoch genau dieses Ergebnis, welches dann erheblich demographische Probleme und Nebenfolgen zeitigte (Joas 2021). Daher ist die chinesische Familien- oder besser: Biopolitik mittlerweile von dieser Prämisse und Politikmaßnahme abgerückt.


Die heutige reproduktive Medizin ist weiter, als Ernst Bloch s sich jemals vorstellen konnte. Sie kann nicht nur einen natürlich vorbehalten Kinderwunsch zur Realität werden lassen, sondern sogar vorgeburtlich das Geschlecht des Kindes feststellen.


Mehr noch: es ist möglich, vorgeburtlich, mit der so genannten Präimplantationstechnik, über mögliche erbliche, in der Zukunft erst auftretende, Erkrankungen und Erkrankungswahrscheinlichkeiten aufzuklären (und entsprechend abtreibend zu handeln; die aktive Beeinflussung der fötalen Physiologie, von der Genetik ganz zu schweigen, ist immer noch (Gott sei dank?!) begrenzt: siehe aber die Möglichkeiten des (theoretischen) Missbrauchs der sog. „Stammzellentherapie“). Hier ist dann der Übergang zur liberalen Eugenik gegeben (siehe den nächsten Abschnitt über die „rationelle Züchtung“), der schwierige und durchaus problematische ethische und gesellschaftspolitische Fragen aufwirft (Habermas 2001; Bogner 2004; s.a. den Real-Dystopie-Roman „Helix“ – Sie werden uns ersetzen“ von Marc Elsberg [2016]).


Schließlich beinhaltet der Aspekt der Geschlechtsbeeinflussung heutzutage noch die Möglichkeit, nachgeburtlich (und zwar praktisch das ganze Leben lang) das biologische Geschlecht mittels der so genannten Techo-Gender-Medizin zu verändern (wenn auch nur gegrenzt, insofern die Gebärfähigkeit zwar ausgeschaltet, aber nicht übertragbar ist). Die technischen Möglichkeiten der Medizin zur Beeinflussung physiologischer und auch genetischer Prozesse der biologischen Geschlechtsmerkmale  sind weitaus größer als Ernst Bloch es seit der Zeit seiner Niederschrift des „Prinzips Hoffnung“ denken konnte (1938-1947 id USA). Daher ist die ethische Schlüsselfrage an seine konzeptive Idee zu richten, ob seine progressive Sichtweise auf die realen Utopie in der Medizin tatsächlich seine auf die Zukunft gerichtete optimistische Utopie-Ethik begründen können oder ob nicht eine weitaus kritische Betrachtung medizinisch – technologischer Innovationen im Zeitalter invasiver Biotechnologie nötig ist (s. Jonas 1973, 1979). Doch dabei darf nicht übersehen werden, dass Ernst Bloch durchaus die Fallstricke, Verbindungen und Fehlentwicklungen einer technisierten Medizin gesehen hat, wie er es vor allem im folgenden Abschnitt beschreibt. Sein Diskursbeitrag bleibt dialektisch geöffnet, ohne unter normativer Beliebigkeit zu zerfallen, auch wenn seine gesellschaftliche Vision, der Realsozialismus nicht mehr unter uns ist; mehr noch: selbst nicht unproblematisch gewesen ist – doch eine solche kritische Reflexion war zu seiner Zeit und vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und ihrer Wirklungen sowie besonders der nationalsozialistischen Weltkriegs- und Vernichtungspolitik nicht Bestandteil der (retrospektiv verständlichen) intellektuellen Begeisterung für die „Sowjetunion“ (s. Deppe 1999; s.a. Hobsbawm 1994).




Rationelle Züchtung


Dieser Abschnitt handelt von den herrschaftlichen und menschenverachtenden Zielen und Plänen der rationellen Züchtung der „Nazis“ und des „gehemmten Bürgertums“ (S. 532), mithin auch des „Adels“ (ebd.), die auf gesellschaftliche Herrschaftsumstände zurückgeführt werden können, und vom Spannungsverhältnis, mit modernen Worten ausgedrückt, zwischen der Bedeutung der Umwelt und der Anlage hinsichtlich der Leiblichkeit, der Krankheit und des (sozialen) Genies. Wobei der Punktsieger und das gesellschaftspolitische Primat eindeutig zunächst die Sozialmedizin ist, auch wenn Bloch nicht kategorisch ausschließt, den „Weg organischer Züchtung“ (S. 533) zu beschreiten. Aber zunächst muss erst die „züchtende Gesellschaft […] gezüchtet werden, damit der neue menschliche Mehrwert nicht nach den Anforderungen der Menschenfresser bestimmt wird.“ (S. 533) Wie ist das möglich? Ernst Bloch droht recht materialistisch: der Kapitalismus (und seine herrschaftlichen Ungleichheiten) gehört abgeschafft (S. 532).


Die Übertragung der Gesetze der Vererbung durch Mendel auf den Menschen führt zu skurillen Erwartungen an die Beeinflussung von „Keimzellen“ (S. 531) vor der Geburt an und das Überleben der geborenen Menschen, welches die Nazis massenhaft im „Mord“ (S. 532) beendeten. Die nationalsozialistische Eugenik vernichtete in böser Manier von ihr ideologisch gehasstes Leben und ein „Beethoven, der Sohn eines unheilbaren Trinkers, wäre nach ihr nie geboren worden“ (ebd.). Selbst der Adel versuchte das Blut rein zu halten und praktizierte doch nur Inzucht. Was den Adel gewissermaßen adelte, war nicht das Blut, sondern der Standeskodex, „der ihm Verpflichtung und Halt gab“,wenn auch „primär durch die gute Kinderstube“ und nicht durch „Vererbung“ (S. 532).


Der Wahn der „rationellen Züchtung“ ist folglich auf Sand gebaut: „Die Blutmischung, welche große Begabung macht, liegt also noch zu sehr im Dunkeln, um sie mit einiger Aussicht physiologisch zu befördern und zu ermuntern.“ (S. 533)


Kehrt der Wahn heute wieder? Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms führt nicht nur zur Wiederbelebung physiologischer Wunder Maßnahmen, sondern in manchen Ecken der Medizin zur Wiederkehr rassifizierter Diskurse. So sollte man nicht vergessen, dass der maßgebliche Genetiker dieses Programms ein ausgesprochen Rassist gewesen ist. Doch das Urteil seriöser Humangenetiker ist eindeutig. Weder gibt es genetifizierte „Rassen“, noch determiniert die Genetik irgendetwas (bis auf sehr seltene Krankheitsmuster): es ist stets ein Dialog und eine Dialektik von Umwelt und genetischer Anlage. Wahrscheinlichkeiten, nicht Determination beherrscht die Medizin.


Die Sozialmedizin, die „soziale Hygiene“, von der Bloch spricht, ist der dominante Faktor humanen Verhaltens und von Ursachen von Erkrankungen, wie man heute sagen würde: „Die Beherrschung des individuellen – biologischen Habitus und die Abschaffung seiner als eines ‚Schicksals‘ sind gewiss ein Ziel, doch erst wird diese Planung die wirklichen Slums niederreißen, bevor sie den Slum des schwächlichen Leibs nahetritt.“ (S. 533)


Mit anderen Worten: Weder das Verhalten, noch die Gene des Einzelnen sind maßgeblich für humane Charakterentwicklungen wie auch Erkrankungen und umgekehrt Gesundheit, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen. Mit dieser These bewegt sich Bloch auf der Grundlage sicherer gesundheitswissenschaftlicher Erkenntnis. Die bürgerliche Übersteigerung des: sorge für dich selbst! kann für alle nur gedeihen in einer Gesellschaft, die weniger (vertikale) Ungleichheiten zulässt. Das ist ein gesundheitswissenschaftliches Gesetz, das jedoch selten in der tatsächlichen Gesundheitspolitik berücksichtigt wird, obwohl es allenthalben als solches – in Sonntagsreden zumeist – anerkannt ist. Für Bloch besteht die Grundlage dieser ansetzenden  Gesundheitsförderung in einer Gesellschaft, die den Kapitalismus bzw. die kapitalistische Produktionsweise hinter sich gelassen hat.




Der Kampf gegen das Alter


Dies ist der längste Abschnitt in diesem Unterkapitel, zudem der detaillierteste, aber auch – in Preisung des korrekten bzw. humanen Umgangs mit dem Alter in der Sowjetunion seiner Zeit – wohl auch der kontroverseste.


Zunächst konstatiert Bloch, dass der Kampf gegen das Alter früh anfange, bei Frauen (wohl Kultur bedingt betrachtet) besonders früh, aber dass dieser Kampf im Vergleich mit anderen Tieren vor allem darin Gründe, dass Verluste von Organen und physischen Teilen bei Menschen im Gegensatz zu zum Beispiel Regenwürmer oder Molchen ein eherner, ewiger Verlust sei. Dieses organische Defizit sei die Eintrittspforte zum Wunschtraum des ewigen Jungseins: „Auf dieses Feld wurde der Wunsch Traum vom Jungbrunnen gelegt, und die Linie darauf zu fand, kurpfuscherrisch oder nicht, dauernd Anpflanzung.“ (S. 534)


Im Folgenden beschreibt Bloch zunächst die verschiedenen Versuche („kurpfuscherrisch oder nicht“), ewiges Leben oder Jungsein zu erlangen. Dabei macht er die Entdeckung, dass die verschiedenen Versuche (Tee, Bett, Atemtechnik oder Atembeherrschung) letztendlich zu Entdeckung der Bedeutung von Keimdrüsen, durch die Chinesen, geführt haben (ebd.). Trotz aller Irrwege jedoch trog die Hoffnung auf die Keimdrüse nicht völlig: es wurden Stoffe gefunden, „welche aus Drüsenorganen selbst ausgezogen werden […und…]  Krankheiten aus der Unterfunktion dieser Drüsen wenigstens erfolgreich behandeln“ (ebd.) lassen. Die Erkenntnisse der Medizin fasst er so zusammen: „Alle Krankheiten, die auf Unterfunktion der endokrinen Drüsen beruhen (Hypophyse, neben Schilddrüse, Schilddrüse, Nebennieren, Eierstöcke und anderen), können in der Tat durch Präparate aus diesen Drüsen behandelt werden.“ (S. 534f.) Insulin nicht zu vergessen.


Nur gegen das Alter wurde – zunächst – keine Drüse identifiziert. Erst später entwickelten sich „Träume um die Thymusdrüse“ (S. 535). Als Wachstumsdrüse, die sich im Verlauf der Pubertät aufbraucht, wurde danach gestrebt, sie bis ins hohe Alter aufrecht zu erhalten. Doch umsonst: „Der utopische Apfel der Verjüngung hängt trotzdem noch in ziemlicher Ferne, und – was Prüfung auf Herz und Nieren angeht – bleibt das Alter fast wie zu Großvaters Zeit auch. Geändert hat sich die Weise, es zu nehmen, nämlich nicht mehr hypochondrisch, nicht mehr übertrieben.“ (Ebd.)


Nur in der Sowjetunion, so Bloch weiter, werde gegen die „herabwertenden Wirkungen des Alters“ (ebd.) wirklich gekämpft, in dem es „zu einer sozial besonders nützlichen Periode der Arbeit“ (Metschnikow, zit.n. Bloch 1985: 535) geformt werde. Hier durch verändere der Sozialismus die Bedeutung des Alters, dass in früheren Gesellschaften und auch im Kapitalismus seiner Zeit vor allem eine „überflüssige Belastung für die Gemeinschaft“ (ebd.) gewesen sei.


Diese positive Sichtweise auf den Umgang mit dem Alter im Realsozialismus wirft freilich die Frage auf, ob es sich hier nicht nur um eine Variante des von Stephan Lessenich (2004, 2008, 2009) beklagten „Ökonomismus oder Produktivismus zum Wohlfühlen“ handelt, das den ethischen Anspruch auf menschliche Autonomie und Individualität des einzelnen Subjekts nach seinem gesellschaftlichen Nutzen bewertet und maßgeblicher Aspekt einer um sich greifenden „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) und „Ökonomisierung der Sozialpolitik“ (Evers/Heinze 2008) im neoliberalen Zeitalter geworden ist (Mosebach 2011; Lessenich 2012).


Dieser kritische Gedanke an die positive Bewertung des gesellschaftlichen Nutzens des Alters kann hier nicht weiter ausgeführt werden, sollte jedoch vor dem Hintergrund der Perversionen des sozialistischen Gedankens im weiteren Verlauf des Stalinismus und des Zusammenbruch des Realsozialismus 50 Jahre nach dem hier niedergeschriebenen Gedanken Ernst Blochs doch zu denken geben. Oder anders formuliert: kehrt in der Ideologie des „aktiven Alterns“ (Lessenich 2008) nicht dieser von Bloch irritierenderweise ‚gefeierte‘ (KM) „Ökonomismus zum Wohlfühlen“  in kapialistischem Mantel zurück? Ist das dann noch progressiv? Oder einfach nur Ideologie ohne jeden Realitätsgehalt? Ich denke Letzteres, denn nicht jedes Alter, nicht jeder Alte und jede Alte, zählt. Es scheint indes ein kurzer Weg zu sein von der sowjetischen „Rettung“ des Alters aus seiner gesellschaftlichen Belastungsidentifikation zur sozialdemokratischen Strategie des aktiv Alterns – das gut gemeint, aber als Ideologie nicht mehr ist als ein alternativer „Produktivismus zum Wohlfühlen“ (Lessenich 2004; siehe Stichpunkte zu einem sinnvollen Umgang mit dem „Alter“ im demographischen Übergang: Scherrer et al. 2000: 92ff.).


Ernst Bloch resümiert seine Reflexion über das Alter als Grenze indes mit den zutreffenden Worten: „Das Leben über seine bisherigen Grenzen hinaus zu treiben, über die für unsere Fähigkeiten, ungetanen Arbeiten, Zweckreihen viel zu engen, das ist der Wunsch, der den nach Heilung einschließt und ersichtlich überbietet.“ (S. 536)





Zögerung und Ziel im wirklichen leiblichen Umbau


In diesem Unterkapitel, dem zweitlängsten und differenziert-konkretesten hinsichtlich gesundheitssoziologischer Fragestellungen, werden die maßgeblichen gesundheitswissenschaftlichen, oder besser: medizinsoziologischen Begriffe erörtert: der Kranke, der (praktische) Arzt und der Begriff des Krankseins bzw. der Gesundheit. Die Hauptthese ist: Die „eingeborene ärztliche[n] Utopie“ ist: der „schließliche[n] Umbau des Leibs“ (S. 538) des Kranken. Diese praktische Utopie hält sich fern von jenen weitschweifigen Utopien, die vorher genannt und von Bloch als gesellschaftsweite, ja geradezu anthropologische Utopien betrachtet wurden, namentlich die rationelle Züchtung, der Kampf gegen das Alter oder die Beeinflussung des Geschlechts.


Die praktisch-ärztliche Utopie des Umbaus des Leibes an den Grenzen zur Abschaffung des Tods: Zögerung und Ziel bis zur industrialisierten Medizin


Die im Unterkapitel-Titel genannte Zögerung im wirklichen leiblichen Umbau durch den praktischen Arzt leitet sich, Bloch zufolge, aus der „Herkunft der europäischen Heilkunde“ (S. 537) her, nämliche der Stoa, mithin also Galen. Bekanntlich ist demnach Gesundheit „die rechte Mischung der vier Hauptsäfte des Körpers (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim), Krankheit dagegen Störung dieses Gleichgewichts.“ (S. 537) Ruhend in der antiken Naturphilosophie, war und ist es das Prinzip der stoischen Medizin, auf die Natur zu vertrauen: „Ein guter Arzt folgt der Natur, unterstützt sie, widerspricht ihr niemals: das ist stoische Erbe.“ (S. 538)


Ab der Neuzeit indes, genauer ab dem 18. Jahrhundert, ändert sich der „ärztliche Blick“ (Foucault 1969). Die Intervention des Arztes in den menschlichen Leib des Kranken, beliebt sind hier „Klystiere“ (S. 538), bringt den empirisch mutigen, sogar „utopistisch übermütigen“ (ebd.) Arzt auf die Bühne. Das Ziel der ärztlichen, eingeborenen Utopie, der Umbau des Leibes betritt die Bühne. Zunächst ist es sogar die Naturheilkunde, die jedoch die schlechteste utopische Idee voran bringt, dass unwissende „wishful thinking“ (ebd.).


Der „empirische Arzt“ bleibt an Erkenntnisse, Wissen gebunden; der erfolgreiche leibliche Umbau am Kranken ist von dessen Bedingungen abhängig. Ernst-Bloch-Zentrum ist sich sicher: „Verantwortung und stoisches Erbe hielten den Anschluss ans objektiv Mögliche; anders als oft bei der Eugenik und dem Kampf gegen das Alter.“(S. 539)


Dennoch schwingt im Hintergrund der Tätigkeit von praktischen Ärzten, d.h. wirklich tätigen Ärzten „am Kranken“ (KM), Eine weitergehende Utopie, ein atemberaubender Plan mit. Ernst Bloch schreibt: „Der Satz darf letzthin gewagt werden: gerade weil der Arzt, auch am einzelnen Krankenbett, einen fast wahnwitzigen utopischen Plan vor sich latent hat, weicht er ihm scheinbar aus. Dieser endgültige Plan, der letzte medizinische Wunschtraum, ist nichts Geringeres als [die, KM] Abschaffung des Tods.“ (S. 539)


Verantwortung und stoisches Erbe verzögern demnach die Dynamik und Intensität des ärztlichen besorgten leiblichen Umbaus des Patienten. Vor dem Hintergrund der nach dem zweiten Weltkrieg begonnen Explosion medizinischer Errungenschaften, stellt sich freilich die Frage, ob sich nicht diese Zurückhaltung verändert hat. Hinzuweisen ist auf die Kritik der Gesundheitsbewegung in den 1970er und 1980er Jahren an einer industrialisierten Medizin, die scheinbar oder möglicherweise tatsächlich jedes stoische Erbe hinter sich gelassen hat und sich symbolisch in eine Medikalisierungskritik an der Medizin (Illich 1984) verdichtet hat (Mosebach 2010; Mosebach/Walter 2021).


Desweiteren kann Ernst Bloch nicht antizipiert haben, dass sich die zunächst wohlfahrtsstaatliche ausgebreitete industrialisierte Medizin im Zuge der „neoliberalen Konterrevolution“ (Altvater 1981) in eine globale, mit Wachstumshoffnungen behängte (Nefiodov 2006) und hochgradig kommerzialisierte Industrie- und Dienstleistungsbranche  verwandelt hat (Tritter et al. 2010; Mosebach 2010). Wenn es ein Prinzip in der kapitalistischen Produktionsweise gibt, ist es das der profitgetriebenen Logik der Ausweitung von produzierten Waren und Dienstleistungen zum Zweck der Kapitalverwertung (G-G‘), die – angewandt auf medizinische Leistungen – unzweifelhaft zu einer Ausweitung des „leiblichen Umbaus“ führen; nicht immer zum Nutzen der Patienten, wie schon lange bekannt, aber kaum noch erforscht wird (s. z.B. SVR-KAiG 200/2001).


Mit anderen Worten: meines Erachtens kann von einer Zurückhaltung der Medizin, wie sie noch Ernst Bloch identifiziert hat, unter kapitalistischen Bedingungen nicht mehr gesprochen werden. Das schließt nicht aus, dass es zu Unterversorgung kommt, wenn sich die Profitlogik bei der Bereitstellung von Leistungen nicht rentiert (Kühn 1993; 2004). Die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens ist schlecht für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und die Heilkunst selbst (Deppe 2011; Maio 2014).


Abhilfe schaffen kann hier – wenn überhaupt – nur eine strikt angewandte und neutral umzusetzende evidenzbasierte Medizin und Versorgungsforschung. Diese ist zwar leicht zu fordern, aber im allgemeinen Interessenskampf im Gesundheitswesen um „Lebenschancen von Organisationen“ (Alber 1992) nur schwierig umzusetzen (vgl. aber: Schmacke 2005; Gerhardus et al. 2010; Gerlinger/Rosenbrock 2024; Pfaff et al. 2024). Ein systematisches Problem ist in diesem Zusammenhang ist, dass sich die Kämpfe um die Verteilung von Einfluss und Geldmittel im Gesundheitssystem mittlerweile im Rahmen des Diskurses jener hier als Lösung genannten evidenzbasierten Medizin und Versorgungsforschung bewegen. Folglich ist es nicht mehr so einfach möglich (wie beim Aufkommen der EbM-Bewegung), wissenschaftliche Evidenz von der Verfolgung ökonomischer Interessen zu trennen, weil die Letzteren in der Sprache der wissenschaftliche Evidenz formuliert und damit tendenziell eskamotiert werden (können) (vgl. zu diesem wissenschaftssoziologischen Grundproblem zur wünschenswerten Autonomie des Wisssenschaftlichen und des Schutzes korrumpierender politischer und wirtschaftlicher Intrusion und Vernetzung: Weingart 2011). Es existieren hier unterschiedliche, konfliktive, Rationalitäten im Gesundheitswesen (Vogd 2011; Vogd et al. 2019).




Der Gesundheitsbegriff: eine historisch-gesellschaftliche Kategorie


Gesundheit ist, das macht Ernst Bloch unmissverständlich deutlich, ein historisch wie gesellschaftlich relativer Begriff. „Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff.“ (S. 539) Gesundheit ist folglich in unterschiedlichen Gesellschaften Unterschiedliches: „Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit, unter Griechen war sie Genussfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit.“ (S. 540)


Folglich ist die Rolle des Arztes ebenso relativ in Bezug auf gesellschaftliche Kontext. „Gesundheit wiederherstellen, heißt in Wahrheit: den kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannt ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde. Also sind selbst für die bloße Absicht der Wiederherstellung die Ziele des Wieder wechselnd, mehr: Sie werden selber erst von der jeweiligen Gesellschaft als ‚Norm‘ gesetzt.“ (S. 539)


Diese Aussagen von Ernst Bloch Treffen sich mit dem soziologischen Gesundheitsbegriff, selbst eines Talcott Parsons, der Gesundheit dadurch definiert, dass man gesellschaftliche Rollen übernehmen kann, für die man sozialisiert worden ist. Ebenso geht der Blog Gesundheits Begriff konform mit jener neuen Forschungsrichtung der medizinischen Anthropologie, die aufzeigt, dass Bedeutungsinhalte von Krankheit und Gesundheit ebenso wie die ärztliche Praxis nicht nur historisch wandelbar sind, sondern auch in kulturelle Bedeutungsysteme Eingebettet werden (Herzberg; Duden, Armstrong).


Nach der Skizze der Gesundheitsverständnisse von der Antike bis zum Mittelalter schlussfolgert Ernst Bloch daher konsequent: „Eine vorgegebene, gleich bleibende Gesundheit ist derart nirgends vorhanden; es sei denn in der allgemein – materialistischen und nur darin ewig jungen Formel: Auf einem vollen Bauch sitzt ein fröhlich Haupt. Doch jeder weitergehende Text von mens sana in corpore sano ist keine Erfahrung, sondern ein Ideal, und zwar ein in der jeweiligen Gesellschaft verschiedenes. Also gibt der Arzt jeder jeweiligen Gesellschaft, statt uranfänglich allgemeine Gesundheit wiederherzustellen, dem Kranken viel mehr eine hinzu. Er baut eben jedes Normale wieder auf, das sozial jemals im Schwange ist, und: er kann es wieder aufbauen, weil eben auch der Leib des Menschen im Stande ist, sich funktionell zu verändern, gegebenenfalls zu verbessern.“ (S. 540f.)


Was damit offenbleibt, ist freilich die Frage, ob es etwas allgemeines gibt, dass Gesundheit ausmacht und an dessen Erziehung der Arzt Anteil hat beziehungsweise sich ab arbeitet? Auf einer abstrakten Ebene gibt es das. Es ist das, was ernst Bloch als organischen Wunschtraum (des Kranken, des Arztes) bezeichnet, einen Leib zu haben, „auf dem nur Lust, nicht Schmerz serviert wird und dessen Alter nicht Hinfälligkeit, als Schicksal, ist. Es ist also dieser Kampf gegen das Schicksal, der medizinische und soziale Utopie ihn trotz allem verbindet.“ (S. 541; Hervorhebung: i.O.)


Real-utopisches Handeln als sozialphilosophische Kategorie findet somit auch im Bereich der Gesundheit, der Zurückdrängung von Schmerz und im Wunsch nach dem verdrängen von Alter, statt. Aber wie es für soziales Handeln bekannt ist, bleibt dieses real-utopische Handeln an die Gesellschaft und ihre historische Wandelbarkeit sowie die kulturelle Unterschiedlichkeit bestehender Gesellschaften im Weltzusammenhang gebunden. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Form gesundheitlichen Handelns eingefordert beziehungsweise verfolgt wird: die gesundheitliche Sorge um sich selbst, die permanente und erwünschte Prävention von Krankheit und Risiken zur Sicherung der „Erwerbsfähigkeit“ (neudeutsch: Employability), mit einem Wort: New Public Health (Petersen/Lupton 1992; Brunnett 2009; Lupton 2010; Mosebach 2010; Hehlmann/Schmidt-Semisch/Schorb 2018; Mosebach/Walter 2021)






Malthus, Geburtenziffer, Nahrung: das Versagen einer reduktionistischen Individualmedizin


In diesem kurzen Kapitel erhebt Ernst Bloch die schärfster Kritik an der, mit heutigen begriffen, Individualmedizin. Er stellt sie in den Kontext und die Tradition der Malthus’schen Bevölkerungstheorie. Diese behauptete bekanntermaßen, dass der Grund des Elends der Massen im entstehenden Kapitalismus im Widerspruch begründet sei zwischen „dem grenzenlosen streben des Menschen nach Fortpflanzung und der beschränkten Zunahme der Nahrungsmittel.“ (S. 542)


Ernst Bloch weißt diese Identifikation der Ursachen das Massenelends zurück. Es ist nicht die „proletarische Geilheit“ (ebd.), die das „soziale Elend“ (ebd.) produziert, sondern die kapitalistische Produktionsweise. Hier bezieht sich Ernst Bloch eindeutig auf die Kapitalismusanalyse von Karl Marx, der zufolge der Prozess der kapitalistischen Akkumulation jene überschüssige Bevölkerung hervorruft, die Malthus und seine Konsorten selbstverschuldet zu Ursache ihres eigenen Elends machen.


Bloch bezeichnet die Kriegshetzer im „Zeitalter der Katastrophen“ (Hobsbawm 1994) der beiden Weltkriege als Neo-Malthusianer, die „den Krieg“ rechfertigen, indem die „Verschrottung der ‚überzähligen‘ Arbeitslosen, die faschistische Ausrottung ganzer Völker, und zugleich [… all] jene[r] Proletarier“ gefeiert werde, „denen das Dasein, nach dem numerus clausus des Profitinteresses an ihnen“ (alle Zitate: S. 543) verwehrt werde.


Doch – wie bereits angedeutet – teilt die Individualmedizin, wenn nicht die Menschen verachteten Praktiken, so doch die methodologische Grundlage des Malthus’schen Denkens: „Das Malthussche, als abgelenkte Diagnose auf unzureichende, gesellschaftlich isolierte Ursachen, ist daher nicht nur Überbevölkerungslehre und darauf beschränkt. Denn auch in Kreisen, die von Klopffechterei nichts wissen oder wissen wollen, ersetzt oder verdrängt der lediglich medizinische Rückgriff jenen auf die sozialen Ursachen des Elends.“ (S. 543) Ernst Bloch formuliert hier eine Kritik an einem medizinischen Reduktionismus hinsichtlich der Erklärung sozialen und gesundheitlichen Elends, welche zu seiner Zeit und auch heute noch kumulativ zusammenhängen.


In einer Formulierung, die an die literarische Figur des Sherlock Holmes erinnert, der nach seinem Erzähler (d.h. dem kleinbürgerlichen John Watson bzw. seinem Erfinder: Sir Arthur Conan Doyle) bekanntlich aus einem einzelnen Morgenpantoffel die gesamte Geschichte des Orients ableiten konnte, hinterfragt Bloch jenen „ahnungslose[n] Schmalblick, der aus einem Tropfen Blut sozusagen, ins Laboratorium geschickt, die ganze Krankheit der Menschen zu erkennen glaubt.“ (S. 543f.) Der methodologische Sündenfall besteht im folgenden: „vom lebendigen ganzen Leidträger wird weg gesehen, besonders aber von den Umständen, worin er sich befindet.“ (S. 544) Die Folgen für die medizinische Erkenntnis sind gravierend: „von daher die Übersetzung der Bazillen, als die einzigen Seuchenerreger; die Mikrobe verdeckte vor allem andere Begleiterscheinungen der Krankheit, schlechtes Milieu und dergleichen; so enthob sie von der Pflicht, auch dort die Ursachen zu suchen.“ (Ebd.) Die Schwindsucht zu überwinden, so schlussfolgert Ernst Bloch in über Einstimmung mit modernen sozial eprimo logischen Erkenntnissen, bedeutet die Armut zu bekämpfen, also jenen sozialen Zustand, der eine so hohe Empfänglichkeit für die Schwindsucht hatte. Eine reduktionistische individualmedizin, selbst präventiver Art, bekämpft die Armen und nicht die Armut. Die Folgen eines sozial inkompetenten oder schlicht unverantwortlichen Arzt sind gravierend: „Einseitig ärztlicher Abtreibung der übel ist dergestalt oft nur ein absichtlich oder unabsichtlich gewähltes Mittel, um die wirklichen Übel nicht beheben zu müssen.“ (S. 544) Und noch schärfer: „so bezeichnet das gesamte Malthus Wesen, auch abgesehen von dem Mann selbst und seiner Lehre, ein ganzes Feld der Verdrängung. Bloße mechanistische Pflasterkasten, ohne Primat des sozialen Milieus und ohne Plan seiner Veränderung, ohne Pawlow und Kenntnis des ganzen Menschen als eines cerebral – sozialgesteuerten Wesens, – das verhindert die Zusammenarbeit von Arzt und rote Fahne, unter voran tritt den Letzteren.“ (S. 544)


Die Lösung des sozialen Elend, dass mit Krankheit und frühzeitigen Tod ein hergeht (wie bereits Friedrich Engels in seinem lesenswert Bericht über die Lage der arbeitenden Klassen in England feststellte), sieht Ernst Bloch in einer Umgestaltung der kapitalistischen Produktionsweise und einer bedingten Geburtenkontrolle. Er schreibt abschließend: „Solange es nämlich kapitalistische Gesellschaft gibt und das Leben in ihr so prekär ist, dass sie dergleichen Einschränkung [d.h. Geburtenkontrolle, KM] oder Abtreibung braucht. Solange sie in dem Zustand bleibt, den sie heute hat: nämlich ihre Sklaven nicht mehr füttern zu können. Raum für alle hat die Erde, oder sie hätte ihn, wenn sie mit der Macht der Bedarfsdeckung statt mit der Bedarfsdeckung der Macht verwaltet wäre.“ (S. 544)




Die Sorge des Arztes


In diesem letzten Unterkapitel des zentralen 35. Kapitels beschreibt Bloch nichts weniger als eine ärztliche und medizinische Utopie für die nachkapitalistische Gesellschaft. Im direkten Anschluss an die Strategie der „Macht der Bedarfsdeckung“ (S. 544) schlussfolgerte er: „Dann erst finge auch die ärztliche Arbeit wirklich sauber an.“ (S. 545)


Doch hierzu müsse, nochmals, die Gesellschaft jene klinische Aufmerksamkeit und Planung erfahren, die sonst im Kapitalismus nur der individuelle Einzelne erfährt. Das könnte der Arzt auch selbst erfahren, wann immer er Slums betritt. Und auch während der Behandlung spricht alles seinem medizinischen Gewissen Hohn: der arme Teufel mit kranker Niere fährt, um seinen Verdienst nicht zu verlieren, auf dem ratternden Lastwagen, die Zähne vor Schmerz zusammen gebissen, während er Reiche unter der Steppdecke ruht.“ (S. 545) Der „Kapitalismus ist ungesund – sogar für die Kapitalisten.“ (Ebd.)


Was wäre das Ziel einer nachkapitalistischen Medizin, einer nachkapitalistischen ärztlichen Praxis? Bloch zitiert einen Kinderarzt, der einen Gemeinplatz formuliert, aus dem sich gewisse nicht bürgerliche Forderungen aufstellen diesen: „Kurieren, curare, Sorge für jemanden tragen, heißt vermeiden, dass seine Gesundheit überhaupt gestört wird. Ist dies trotzdem geschehen, so soll die cura des Arztes darauf gerichtet sein, den erkrankten in Verhältnisse zu bringen, die für ihn möglichst günstige sind.“ (S. 545) Ein schönes Ziel, so meint Bloch, aber erst im Sozialismus erreichbar.


Er geht mit seinen Visionen von einer sozialistischen oder sogar marxistische Medizin noch weiter. Ist erst einmal die krankmachende kapitalistische Produktionsweise überwunden, so kann auch „in das Vorbedingende“ (Hervorhebung: i.O.) eingegriffen werden: „Das ist ihr da sein im Mutterleib, weiter der Ihnen von daher mitgegeben körperliche Zustand.“ (S. 545) Das Ziel einer solchen, gewissermaßen progressiven, Eugenik wäre, den organischen Start nicht viel ungehinderter zu machen als den sozialen. Das hieße konkret, „den Leib vor der Geburt bereits in seinen Anlagen richten zu wollen“, um ihm „nach der Geburt bewusst, gegebenenfalls verändert, vital fortzuformen, von der beherrschten inneren Sekretion her oder aus noch unbekannten Bindekräften.“ (S. 546)


Doch die „sichtbarste Hoffnung“ einer sozialistischen Gesellschaft „bleibt bei alldem der zentral steuernde Einfluss des Lebens in einer gesund gewordenen Gesellschaft auf die Krankheiten des Geboren – und Erwachsenseins selber, vorzüglich auf deren Verhütung, und auf die Lebensdauer.“ (S. 546)


Bloch Weiß selbst, dass es ein weiter Weg bis dorthin ist. Er ist überzeugt, dass im kapitalistischen Betrieb dies nicht erreichbar ist, „denn Gesundheit ist etwas, das genossen, nicht verbraucht werden soll.“ Und im Kapitalismus wird Gesundheit als materieller Bestandteil der leiblichen Arbeitskraft verbraucht (Engels, Polanyi, Mosebach 2017).


Im letzten Absatz des 35. Kapitels fasst Bloch nochmals die Quintessenz der Bedeutung von Gesundheit in Prinzip Hoffnung markant zusammen: „Schmerzloses, langes, bis ins hohe Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Lebens steht aus, wurde stets geplant. Wie neugeboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was den Leib angeht. Die Menschen haben aber keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schief liegt.“ (S. 546; Hervorhebung: i.O.)






 
UND: was bleibt als (aktualisierte) Kritik an Bloch’schen Thesen?


Ernst Bloch heute: immer noch Kapitalismus?


Seit der Niederschrift von „Das Prinzip Hoffnung“ (1938-1947, durchgesehen 1959) hat sich der Kapitalismus gewandelt. In den Sozialwissenschaften spricht man in Bezug auf die Länder des „atlantischen Fordismus“ (van der Pijl 1984, Jessop 2002) vom so genannten Wohlfahrtskapitalismus. Dieser ist ein Kind des Zweiten Weltkriegs und der nach dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Kommunismus (oder auch: Realsozialismus). Dem britisch-österreichischen Historiker Eric J. Hobsbawm wird das Wort zugeschrieben, dass der Kommunismus für die Menschen in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten nicht immer förderlich war, aber dass er für die Zugeständnisse des Kapitals, der Unternehmer, an die Gewerkschaftsbewegung und sozialdemokratische Linke in West-Europa von nicht unterschätzen der Bedeutung gewesen ist. Ohne die Drohung des Kommunismus aus dem Osten, kein Klassen Kompromiss im Westen, und damit auch kein Ausbau des Wohlfahrtsstaates bis zu seiner Krise in den 1970erJahren; auch wenn die Sozialstaaten höchst unterschiedlich aufgestellt waren (Esping-Andersen 1990).


Seitdem gibt es eine globale „neoliberale Konterrevolution“ (Altvater 1981) oder auch einen „Wiederaufstieg des Kapitals“ (Dumeníl/Levy 2004), die beziehungsweise der dem Ausbau des Wohlfahrtstaates ein Ende gesetzt hat. Stichworte sind: finanzielle Austerität und wohlfahrtsstaatlicher Umbau und Rückzug (Pierson 1994; Blyth 2002, 2013; Hay/Wincott 2012; Streeck 2015, 2020) und wettbewerbsbasierte Kostendämpfung im Gesundheitswesen (Deppe 1987; Gerlinger 2002; Gerlinger/Mosebach 2009; Mosebach/Schwartz 2023). Der mit der Krise der 1970er und 1980 Jahre entstandene flexible Kapitalismus (Bieling/Deppe 2001; Lessenich 2009) näherte sich, nicht vom Niveau, aber von der Strategie her (Deregulierung, Liberalisierung und Flexibilisierung durch Globalisierung, vgl. Hirsch 1995) den Prinzipien der kapitalistischen Produktionsweise an, von der Ernst Bloch in mitten des Zweiten Weltkriegs gesprochen hatte. Die Folge der Arbeitsmarktflexibilisierung ist zum einen die Aufstieg von „Unsicherheitszonen“ in der Arbeitsgesellschaft und der Wiederkehr der Prekarität (Castel 2005) und zum anderen die Kriminalisierung von Menschen in der „neuen Arbeitsgesellschaft“ als staatlich vermitteltem „Lohn der Angst“ (Bourdieu 2007)


Insofern lässt sich die eingehende Frage in Bezug auf die führenden Industrieländer mit einem klaren Jein beantworten (für viele ärmere Länder, die nichtsdestotrotz in den kapitalistischen Weltmarkt einbezogen sind, ist die Antwort zweifellos: ja!). Ja, es ist immer noch Kapitalismus und nein, es besteht eine große wohlfahrtstaatliche Infrastruktur, die in manchen Ländern, nicht allen!, die Gleichsetzung der Bloch’schen Rahmenbedingungen mit den heutigen Kontexten zu verbieten scheint. Allerdings befinden wir uns in einer Zweiten Großen Transformation (Blyth 2002; Dörre et al. 2019), die mit dem Aufstieg der Globalisierung die Wiederkehr und Ausbreitung kapitalistischer Produktionsformen hervorgebracht hat. Wie einst der leider viel zu früh verstorbene Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, nach der Finanzkrise von 2007ff bekannte, dass er glaube, dass die politische Linke mit ihrer Kapitalismuskritik und damit Marx recht gehabt hätten (siehe auch: Eagleton 2012). Also: trotz eines zunächst unentschiedenen Jeins zur Frage, ob Ernst Blochs Analyse der Wirkung des Kapitalismus auf die Gesundheit immer noch zutrifft, gilt zu konstatieren, dass der Aufstieg des globalen Neoliberalismus im Allgemeinen und der wettbewerbsbasierten Kostendämfpungspolitik im Gesundheitssystem im Besonderen die Bejahung der Frage mittlerweile zunehmend nahelegen.


Das bedeutet, dass – in der Tendenz, nicht en Detail – die Kritik von Bloch an der Medizin im Kapitalismus und der kapitalistischen Gesellschaft noch immer zutrifft ist. Wenn auch berücksichtigt sein muss, dass das Medizinsystem sich ausgeweitet hat, es einen Paradigmen Wandel in Richtung Prävention und Gesundheitsförderung gibt und die Gesundheit beziehungsweise das Gesundheitswesen mittlerweile sogar als globaler Wachstumsfaktor identifiziert worden ist. Die Kommerzialisierung der Medizin und des Gesundheitswesens, die Veränderung der Krankenversorgung in eine Situation, in der „Gesundheit als Geschäftsmodell“ (Maio 2014) betrachtet wird, war für Ernst Bloch noch jenseits des Denkens und der Erfahrung. Mit der Verwandlung des Patienten in einem Kunden ändert sich jedoch die Grundgrammatik der Kranken – und Gesundheitsversorgung, freilich nicht immer zum Guten (Mosebach 2010; Deppe 2011; Tritter et al. 2011).




Ernst Bloch, die sozialistische Linke und die Eugenik: Aktualisierungsnotwendigkeiten


Der „neue?“ Mensch als Produkt der Korrektur biologischer Defizite durch die Medizin (Eugenik) war unter Sozialisten weit verbreitet (z.B. auch: Salvador Allende); allerdings ist nicht ganz klar, welche Maßnahmen befördert wurden (Bloch spricht von „guten Lebensbedingungen“; S. 532, die eigentlich nicht biomedizinisch, sondern eher sozialmedizinisch begründet sind).


Ethisch aber problematisch, weil es einen (progressiv gemeinten) „Technikutopismus“ gebiert, dem man sehr wohl fundamental-kritisch sehen kann (–> Hans Jonas, 1973, 1979)


In der Folge kann es m.E. keinen „linken“ Eugenik-Diskurs geben: Heute –> Präimplantationsdiagnostik und die Folgen, Wiederkehr einer „liberalen Eugenik“ (Habermas 2001; Bogner 2004)?


Technologisierte Medizin („Medikalisierung“) als Gefahr: Ivan Illich 1976; Bewegung der evidenzbasierten Medizin (Sachs…); sieht Bloch auch so: „Und die Behandlung kann in der Tat nicht nur scherzhafter, sondern gefährlicher, auch länger andauernd sein als die Krankheit selbst.“ (S. 530)


Situation heute: „Ausweitung der Diagnose- und Behandlungszone“ (kommerzialisierte Medikalisierung).  




Präventionspolitik, Früherkennungsprogramme und die Gefahr einer kommerzialisierten Präventionsversorgung


Ernst Bloch hat den Wiederaufstieg von Prävention und erst recht die Gesundheits Bewegung gegen die industrialisierte Medizin und für die nicht–medizinische Gesundheitsförderung nicht erlebt. Dennoch war in der Gedanke der Prävention, und vor allem der Primärprävention, zumindest dem Sinn nach nicht fremd. Denn die Idee der sozialen Hygiene beruht auf dem Gedanken, dass „die besonderen Gesundheits Gefährdungen beziehungsweise Gesundheitsgefahren einer nach sozial wissenschaftlichen Parametern definierten Gruppe“ (Labisch/Woelk 1998: 66) zu gewiesen werden können. Das auftreten insbesondere von Infektionskrankheiten, Geschlechtskrankheiten, Alkohol Missbrauch oder Geisteskrankheit in diesem besonderen sozialen Gruppen beschrieben erstmalig die soziale Verteilung von Krankheiten jenseits biologischer oder rein umweltbezogener Faktoren. 


Die praktizierte soziale Hygiene war jenseits der Beschreibung jener Problemgruppen in ihrer konkreten praktischen Gesundheitsfürsorge durchaus ambivalent. „Als Interventionsformen der Gesundheitsfürsorge bildeten sich nach und nach die dauernde ärztliche Beobachtung gesundheitsgefährdeter/– gefährdenden Bevölkerungsgruppen, die frühzeitige Feststellung von Krankheitsanlagen und Krankheitsanfängen und schließlich hygienische Aufklärung, Beratung und Erziehung heraus.“ (Ebd.) Ernst Bloch intoniert jedoch eine mehr strukturmarxistische oder, in moderner Diktion, verhältnisorientierte Vorstellung von sozialer Hygiene als die wirkliche Praxis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sie verfolgte. Insofern orientiert er sich viel mehr an jener Sozialmedizin, die der bekannte Arzt und Revolutionär der 1848er Revolution, Rudolf Virchow, vertrat, der die Aufhebung von Armut (und damit Ungleichheit) zur Beseitigung von Krankheit und damit verbundenen sozialen Elend einforderte.


Die epidemiologische Transformation (der Aufstieg der chronisch – degenerative Erkrankungen) als hauptsächlichen Ursachen von Mobilität und Brutalität statt ebenfalls erst nach der Niederschrift des Bloch’schen Werkes im Mittelpunkt der Realität. Auch die Forderungen der sich bildenden Mittelklassen im Zuge der Expansion des Wohlfahrt Staates nach einer stärkeren Beteiligung an Entscheidungen über Faktoren von Gesundheit und Krankheit, konnte Ernst Bloch in dieser expressiven Dynamik nicht vorher sehen. Der Aufstieg von Prävention und Gesundheitsförderung seit den 1970er Jahren ist folglich an eine gesellschaftliche Transformation gebunden, die sich anhand eines Zitats aus einem von uns verfassten Aufsatzes wie folgt beschreiben lässt (s. Mosebach/Walter 2021: 108f.):
 
„Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederschlagung des Nationalsozialismus einigten sich Kapital und Arbeit auf eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die neben dem privaten Wirtschaftssektor eine gemischte Wirtschaft etablierte, in der ein öffentlicher Unternehmenssektor, ein korporatistischer Sozialstaat und (über-)betriebliche Mitbestimmung realisiert wurden (Simonis 1998; Streeck 1999). Gesundheitspolitik war Sozialpolitik, indem die „Sozialpartner“ (Kapital und Arbeit) maßgeblich an der Politikformulierung des Staates beteiligt waren und die Krankenkassen via Selbstverwaltung steuerten (Korporatismus) (Alber 1992). Prävention und Gesundheitsförderung als systematische Politikansätze zur Verhinderung chronisch-degenerativer Erkrankungen waren de facto kaum vorhanden. Prävention war hauptsächlich auf die Vermeidung und Eindämmung von Infektionen durch öffentlichen Infektionsschutz und individualisierte Sozialmedizin fokussiert (Stöckel und Walter 2002).
 
Der Aufstieg von Prävention und Gesundheitsförderung seit den 1970er-Jahren verdankt sich daher auch der Krise jenes „Traumes immerwährender Prosperität“ (Lutz 1989), der im „Wirtschaftwunder“ blühte und in der Weltwirtschaftskrise der 1970er-Jahre schließlich zerplatzte. Zugleich ging diese Wirtschaftskrise mit der Restrukturierung der industriellen Arbeiterklasse und dem Aufstieg postmateria- listischer Milieus von Angestellten in neu entstehenden Dienstleistungsbranchen einher (Crouch 1998; Therborn 2000). Diese neue(n) Mittelklasse(n) forderte(n) aufgrund der (demokratischen) Bildungsexpansion zu Beginn der 1970er-Jahre mehr Beteiligung und Mitsprache bei – nicht nur – gesundheitlichen Entscheidungen ein (Moran 1999). Die hiermit einhergehende Individualisierung von Lebens- entwürfen verband sich schnell mit einem neuen (post-) modernen Konsumstil, der durch neue flexible Produktions- methoden von Konsumgütern möglich wurde. Der „alte“ Sozialstaat wurde im Kontext der ökonomischen Globalisierung als zu teuer und unflexibel kritisiert (Hirsch und Roth 1986; Beck et al. 1994).
 
Der relative Niedergang der industriellen Arbeiterbewegung und die zunehmende Wettbewerbsorientierung neuer Arbeitnehmergruppen im Zuge dieser neoliberalen Moder- nisierungsstrategie führte zu einem Wandel des korporatistischen Gesundheitssystems in Deutschland in Richtung auf ein wettbewerblich ausgerichtetes Gesundheitswesen (Gerlinger 2009; Gerlinger und Mosebach 2009). Gesundheits- politik war nicht mehr nur Sozialpolitik, sondern wurde zunehmend auch als Beschäftigungs-, Wachstums- und Wettbewerbspolitik für wichtig erachtet. Konträr dazu erwuchs aus der Ökologiebewegung eine Politik der Eindämmung vielfältiger Gesundheitsgefahren in einer Risikogesellschaft (Beck 1986). Die ökologisch vermittelte Sorge um die eigene Gesundheit verband sich bald mit der staatlichen Strategie, dass die Mittelklassen sich um ihre Gesundheit bemühen sollten (Kühn 1993; Petersen und Lupton 1996). Die eigene Gesundheit zu erhalten, wurde bald zur gesellschaftlichen, allerdings höchst ambivalenten Pflicht für alle Bürger (Brunnett 2009; Kickbusch und Hartung 2014).“


 




Gesundheit als sozialtheoretische Problem: Ernst Bloch als Stichwortgeber für eine erneuerte Kritik der Gesundheitsgesellschaft?


 
 
Literaturverzeichnis (noch aufzustellen…)
 
 
 
Stand: 05.06.2024

Review von Petersen/Lupton, New Public Health – eine Generation später

Alan Petersen/Deborah Lupton (1996): The New Public Health. Discourses, Knowledges, Strategies, London: Sage.

Nachzu vierzig Jahre nach der Verabschiedung der Ottawa-Charta und fast dreißig Jahre nach dem Erscheinen eines der ersten kritischen Erörterungen der neuen New Public Health-Bewegung aus einer an Michel Foucault anschließenden Perspektive ist es Zeit, sowohl die Erfolge (und Misserfolge) der Ottawa-Charta als auch die analytische Fruchtbarkeit der Governmentality-Studies im Anschluss an Michel Foucault im Hinblick auf eine kritische Bewertung und kritisch-konstruktive Weiterentwicklung des New Public Health-Gedankens einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Hierzu werde ich erstens die Grundthesen und -kritiken des pionierhaften Buches von Petersen/Lupton (im Folgenden mit PL abgekürzt) rekapitulieren, um dann vor dem Hintergrund der  institutionellen,  organisatorischen und diskursiven Weiterentwicklung (und Fortschreibung) der Ottawa-Charta in einem zweiten Schritt erörtern, ob die paradigmatische und originelle Kritik von PL an der New Public Health (NPH) immer noch lesenswert und (zumindest zum Teil) noch gültig ist.

Das Buch ist voller interessanter Sichtweisen und Kritiken, die hier nicht in umfassender Weise vorgetragen werden können. Ein Lektüre ersetzt dieser Review somit nicht, wenn die Tiefe und Detailliertheit der Argumentation interessiert. Allerdings lassen sich die grundlegenden Thesen zum Thema in einigen Punkten konturiert zusammenfassen. Was also ist zunächst der Gegenstand? Was ist, mit anderen Worten, New Public Health? PL beziehen sich auf eine autoritative Definition der beiden britischen Gesundheitswissenschaftler J Asthon und J Seymour. Diese definieren New Public Health in kritischer Abgrenzung zu biomedizinischen Konzepten und Ätiologien einerseits und in Fokussierung auf vor allem chronisch Erkankte andererseits. New Public Health ist also ein gesundheitspolitischer Ansatz, der von einer anderen epidemiologischen Situation ausgeht als jene Old Public Health im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, als es noch um die „Bekämpfung“ übertragbarer Krankheiten ging. Mitterweile stellen eben nicht-übertragbare Krankheiten das Gros der Krankheitslast in (post-)modernen Gesellschaften dar. Im Gegensatz zu individualistisch ausgeprägten medizinischen Ansätzen will New Public Health ein „blaming the victim“ verhindern, stellt jedoch den „lifestyle“ in den Mittelpunkt, der von Ashton und Seymour als soziales Konzept verstanden wird.  Der Gegenstand und Zugang von NPH wird von diesen beiden Autoren – in Übereinstimmung mit heute noch gültigen Zielsetzungen (vgl. zum Beispiel Rosenbrock 2001) – mit folgenden Worten beschrieben:

Many contemporary health problems are therefore seen as being social rather than solely individual problems; underlying them are concrete issues of local and national public policy, and what are needed to adress these problems are ‚Healthy Public Policy‘ – policies in many fields which support the promotion of health. In the New Public Health the environment is social and psychological as well as physical. (1988, p. 21). [zit.n. PL, P. 4]

Was kann gegen eine solche thematische Fokussierung, normative Fundierung und analytische Rahmung von New Public Health kritisch eingewandt werden? Petersen und Lupton wissen, dass ihre Kritiken den normativen Überzeugungen von NPH-Aktivisten einem gewissen Stress aussetzen. Ihre Kritik wendet sich weniger gegen die normativen Zielsetzungen von NPH per se wie sie in der obigen Definition zum Ausdruck kommen, sondern mehr gegen ihre gesellschaftliche Realität und politische Umsetzung. Ihr Hauptkritikpunkt besteht darin, dass NPH an den bestehenden gesellschaftlichen Machtbeziehungen, sozialen Werten und diskursiv durch Experten konstituierten Wissensregimes nichts ändert und sich mit der neoliberalen Gesellschaftlichkeit, deren Kern im Umbau der politökonomischen Grundlagen (neoliberaler Globalkapitalismus) und institutionellen Fundamante des Wohlfahrtskapitalismus (Flexibilisierung) – beginnend im anglo-amerikanischen Raum – ist, arrangiert. Das theoretische Fundament ihrer Kritik an NPH sind die in den 1990er Jahre aufkommenden Erkenntnisse der Governmentality-Studies, einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Lemke 1997, 2000), über deren Implikationen und Auswirkungen auf die Implementierung der neuen gesundheitspolitischen Strategie sich die Befürworter von NPH (in den angloamerikanischen Ländern) entweder keine  Gedanken gemacht oder aber sogar begrüßt haben. Sie haben eine dezidiert diskurstheoretischen Zugriff auf ihren Gegenstand, der Fragen nach den „wirklichen Ursachen“ zunächst einmal ausschließt (vgl. hierzu die Beiträge in Petersen/Bunton 1997 sowie die groß angelegte Einführungen in die Foucault’sche Historische Soziologie von Dean 1994, 2010).

THEORETISCHE BAUSTEINE: NEOLIBERALISMUS, POLITISCHE MACHT UND NEOSOZIALE MORALITÄT

Im ersten Kapitel (PL 1996: 1-26) entwerfen Petersen und Lupton das Grundgerüst ihrer Argumentation. Sie kritisieren, dass die Konzeptionen und die Praxis von New Public Health eine „neue Moral“ begründe, in einen Diskurs über Pflichten eingebettet sei. Vermeintlich ihre Freiheit verfolgende Individuen orientierten sich via eingeübter Selbsttechnologien und staatlichen Herrschaftstechniken an diesen konstituierten Normen und werden, die nicht nur von Expertenwissen und Diskursen über „Gesundheitsrisiken“ maßgeblich geprägt werden, sondern auch zu einer Einpassung der individuellen Strategien in einen überindividuellen Herrschaftszusammenhang führten. Die Grundauffassung jener als „Neoliberalismus“ bezeichneten wohlfahrtsstaatskritischen Philosophie und Praxis fassen PL (1996: 10f.) in Anlehnung an Burchell et al. (1991) sowie Rose/Miller (1992) paraphrasierend wie folgt zusammen:

The emphasis on individual and collective entrepreneurialism in health and welfare, and the devolution of responsibility for health care and other social services to ‚communities‘ […]. Briefly put, neo-liberalism reinstates liberal principles, including the notion that individuals are atomistic, rational agents whose existence and interests are prior to society; scepticism about the capacities of political authorities to properly govern; vigilance over attempts of such authorities to govern; an emphasis on markets over planning as regulators of economic activity […]. Neo-liberalist rule operates not through imposing constraints upon citizens but rather through the ‚making up‘ of citizens capable of exercising regulated freedom (Rose & Miller 1992, p. 174). Personal autonomy, therefore is not antithetical to political power, but rather is part of its exercise since power operates most effectively when subjects actively participate in the process of governance.

Neben dieser Inklusion bzw. aktiven Mitkonstitution von (vermeintlich) frei handelnden Individuen in eine bzw. der neoliberale(n) Herrschaftsstrategie sticht vor allem der Mechanismus des Marktes  hervor. Neoliberalismus ist im Verständnis des gouvernementalitätstheoretischen Ansatzes sowohl mit Staatlichkeit als auch der (selbststilisierten) persönlichen Autonomie des Einzelnen, zum Teil auch eben gegen den Staat vereinbar. Neoliberalismus bedeutet nicht das Ende des Staates, sondern – wenn überhaupt – eine theoretische wie praktische Kritik des Wohlfahrtsstaates, die zu seiner Transformation führt (vgl. ausführlicher: Lessenich 2012, 2013).

Neo-liberal government, then, is dependent upon technologies for ‚governing at a distance‘, seeking to create localities, entities and persons able to operate a regulated autonomy (Rose & Miller 1992, p. 173). One of the chief mechanisms of neo-liberalism is the attempt to create and sustain a ‚market‘. Although the state ist still seen to have a role in defending the interests of the population in the international sphere and in creating a legal framework for social and economic life, the emphasis is on “autnomization‘ of the state from direct controls over, and responsibility for, the actions and calculations of business, welfare organisations, and so forth‘ (Rose & Miller 1992, p. 199). (PL 1996: 11)

In Bezug auf New Public Health bedeutet diese theoretische Grundierung, dass die mit ihr verbundenen Strategien der Gesundheitsförderung (‚health promotion‘), des sozialen Marketing (’social marketing‘), aber auch der Epidemiologie, Biostatistik, dem diagnostischen Screening, Immunisierung sowie der gemeindebezogenen Partizipation, umfassender Gesundheitspolitik (‚healthy public policy‘), intersektoraler Zusammenarbeit, Anwaltschaft (‚advocacy‘) und Gesundheitsökonomie (‚health economics‘) in einem anderen Licht  betrachtet werden (müssen). Die neue Moralität oder – wie Stephan Lesssenich (2008: 84) es ausdrückt – die „neosoziale Gouvernementalität“ in diesem New Public Health-Diskurs „…seek[s] to transform the awareness of individuals in such a way that they become more self-regulating and productive both in serving their own interests and those of society at large.“ (PL 1996: 12).

Diese sowohl herrschaftlich ‚verordnete‘ als auch sozial ‚erwartete‘ neosoziale Moralität, die sich in gesundheitlichen Imperativen des ‚Beweg dich!‘, ‚Iss weniger Fett!‘ und ‚Reduziere Deinen Stress!‘ ausdrückt, liegt – so die These von Petersen und Lupton – nicht nur in der faktischen Praxis des NPH begründet, sondern eben auch schon in der konzeptionell-theoretischen Anlage. Obwohl oder – wie PL womöglich sagen würden – gerade wegen der Absage der „Bewegung“ für NPH an modernistische Konzepte wie Medizin, Krankenhauskasernierung und trotz des Einsatzes von NPH-Aktivisten für multisziplinäre, intersektorale und partizipatorische Prozesse der Gesundheitsförderung, verharre die NPH-Konzeption in zutiefst modernistischen Rationalitätsansprüchen, gegen deren Wahrheitsansprüche gerade die poststrukturalistische Kritik im Sinne von Foucault und anderen angegangen sei (vgl. zu einem prägnantem Überblick über Postmoderne/Poststrukturalismus: Ritzer 2008: 600ff.; Moebius 2009: 419ff.).

It is not only the strategy of health economics that privileges evaluation; for example there is currently an emphasis upon evaluation, using rational strategies, in all activities of the new public health, including those involving community participation, to see whether they ‚work‘ successfully. Medical, scientific, epidemiological and social scientific knowledges are routinely employed as ‚truths‘ to construct public health ‚problems‘ and to find solutions for dealing with them. (PL 1996: 8)

Eine besondere Rolle bei diesen in rationalistische Konzepte von Ursache, Wirkung, Evaluation eingebetten NPH-Strategien nehmen dabei institutionell und organisatorisch ausgewiesenen ‚Experten‚ und entsprechend rationalistisches ‚Expertenwissen‘ ein. Insbesondere von Bedeutung seien hier die vermittels des (bisweilen sozioökologisch erweiterten) Risikofaktorenmodells erarbeiteten wissenschaftlichen Expertisen über „schädliche Lebensstile“ (‚lifestyles‚), die als – mehr oder wenig verbrämtes – Ergebnis einer individuellen Wahlhandlung betrachtet würden: „Lifestlye theory posits the individual subject as a rational, calculating actor who adopts a prudent attitude in respect to risk and danger.“ (PL 1996: 15). Eine besondere Bedeutung komme bei diesen Expertisen der gesamte WHO-Komplex der „Health-For-All“-Strategie zu, die PL im weiteren Verlauf des Buches noch genauer betrachten. Die Bedeutung der Expertise und der zugehörigen Expertinnen und Experten breche sich daher an der (vermeintlichen) Bedeutung von Empowerment und Partizipation im Diskurs der New Public Health.

Professional expertise remains privileged over lay expertise, as is highly evident in health educational advise to populations on how they should regulate their lives to achieve good health. Thus, while the new public health may draw on a ‚postmodernist‘ type of rhetoric in its claims, it remains at heart a conventionally modernist enterprise. (PL 1996: 8)

Vor diesem (meta-)theoretischem Hintergrund identifizieren Petersen und Lupton im weiten Verlauf ihres Buches zahlreiche Ambivalenzen, Verkürzungen und Blindflecken zentraler NPH-Strategien, die sie im Sinne der Erarbeitung einer „reflexiven Praxis“ (PL 1996: 181; meine Übersetzung) für nötig erachten, um nicht in die ‚NPH-Falle‘ (KM) unsichtbarer Herrschaft und gut gemeinter Strategien zu tappen, denn bekanntlich gilt: „The road to hell is paved with good intentions …“

KRITIK DER EPIDEMIOLOGIE: DER MYTHOS WISSENSCHAFTLICHER ‚FAKTEN‘ UND DIE SOZIALE KONSTRUKTION DES ‚RISKANTEN SELBST‘

Epidemiologie (=Lehre von der Verteilung der Gesundheitszustände und deren Determinanten in der Bevölkerung) gilt als die methodologische Basis der Gesundheitswissenschaften und beruht auf der grundlegende Annahme der statistischen Berechenbarkeit des (Krankheits- und Sterbe-)Risikos und der experimentellen Bewertung der Wichtigkeit und (potentiellen) Kausalitätspotenz von Risikofaktoren (vgl. Klemperer 2015: 157ff.; Razum/Breckenkamp/Brzoska 2017; Egger/Razum 2018: 31ff.). PL (1996: 27ff.) kritisieren die dominante Stellung der Epidemiologie in zweifacher Hinsicht. Zum einen unterstelle die Epidemiologie die im Prinzip unproblematische Kreation von ‚epidemiologischen Fakten‘ und suggeriere damit die Erreichung einer (quasi-naturwissenschaftlichen) objektiven Wahrheit über das ‚Wesen‘ und die Ursachen von Krankheitszuständen. Diese oftmals in der Praxis epidemiologischer Forschung unreflektierte Prämisse halten Petersen und Lupton aus wissenschaftstheoretischer Perspektive für unhaltbar. Zum anderen werfen sie in der Folge dieser wissenschaftstheoretischen Infragestellung objektiver Wahrheiten die Frage nach der Art und Weise sowie den Folgen der sozialen Konstruktion von Wahrheiten oder (um mit Foucault zu sprechen) ‚Epistemen‘ durch epidemiologische Forschung auf.  Die ‚governing by numbers‘ (PL 1996: 27) durch staatliche Bürokratien sei mit dem Aufstieg der Epidemiologie zur Kontrolle und Disziplinierung der ‚Bevölkerung‘, dem Beginn der liberal-gouvernementalistischen ‚Bevölkerungspolitik‘ (vgl. Lemke 2007; Poczka 2017), eng verbunden und führe im Kontext neoliberaler Gesellschaftlichkeit zu Normalisierungsprozessen und der sozialen Konstitution und Moralbedürftigkeit des ‚riskanten Selbst‘.

‚Epidemiologische Fakten‘ sind – wie Petersen und Lupton (1996: 30ff.) zeigen – sozial konstruiert. Im epidemiologischen Selbstverständnis werden unabhängige und abhängige Variablen auf statistisch signifikante Assoziationen untersucht. Während es sich in der Regel bei abhängigen Variablen um (scheinbar) klar operationalisierbare Krankheitszustände handelt, können die unabhängigen, potentiell determinierenden Variablen aus einer ganzen Sammlung von Daten stammen: „…variables as gender, age, social class, race, ethnicity and place of residence are relatedto such ‚outcomes‘ as longevity, heart disease, cancer, respiratory, alcohol consumption, smoking behaviour, and so on.“ (Ebd.: 32) Doch weder die unabhängigen noch die abhängigen Variablen seien so objektiv und klar, wie es epidemiologische Forschung benötige und gern – kontrafaktisch – unterstelle.  So seien weder Begriffe wie „social class“ oder „race“ (ebd.) in ihrer theoretischen Begründung und Operationalisierung unproblematisch; noch sei die „Quantifzierung“ von Todesfällen via ärztliches Attest frei von systematischen und sozial bedingten Fehlern (ebd.: 38f.). Das kausaltheoretische Modell, welches – immer noch – in der epidemiologischen Forschung gültig sei (vgl. zum Ur-Risikofaktorenmodell und seiner biopsychosozialen Weiterentwicklung: Klemperer 2015: 50ff.), basiert auf der Idee eines „‚web of causation'“, wie PL in Anlehnung an die Harvard-Epidemiologien Nancy Krieger (1994) betonen. Zwar lehnten Befürworter dieses „Netz-Modells“ einfache Verursachungsmodelle  ab und akzeptieren multifaktorielle Kausalbedingungen (insbesondere) von chronisch-degenerativen Erkrankungen, aber die empirische Fokussierung auf zentrale Faktoren ist keineswegs „neutral“. PL (1996: 32f.) paraphrasieren zustimmend Nancy Kriegers (1994) Kritik an der theorielosen Epidemiologie der Datenfriedhöfe:

While it [the ‚web-of-causation‘-model, KM] is typically described as ’non hierarchical‘, the ‚web‘ construct tends to privilege some explanations over others, focusing particular attention on the risk factors that are relatively contained and closest to the outcome under investigation (Kriegler [SIC!] 1994, p. 890). Thus, although ‚fuzzy‘ factors such as socioeconomic status will often be included as potential risk factors, few solutions for how to ‚eradicate‘ these risks will be offered, simply because they are complex societal structural features compared with more discrete and therefore more approachable risk factors such as contaminated water supply. The ‚web‘ model also tends to be temporally unidimensional, losing sight of historical changes in disease causation. While the ‚web‘ model acknowledges there is often no single cause of  illness, it still emphasises the ways in which multiple causes combine to have an impact upon a socially atomised individual, often ignoring or playing down the social context (Kriegler [SIC!] 1994, p. 892).

Epidemiologische und biostatistische Daten sind jedoch keine ‚Fakten‘, sondern sozial konstruierte Quantifizierungen, welche im gleichen Atemzug als „Probleme“ konstituiert würden (ebd.: 33). Bezugnehmend auf den Wissenschaftshistoriker Ludwig Fleck unterstreichen sie, dass „Fakten“ nicht nur durch das (Vor-)Wissen und Weltanschauungen („belief systems“) der involvierten Wissenschaftler, sondern auch im Kontext professioneller Eigeninteressen, Machtbeziehungen und Ressourcenallokationen auf dem Feld der Wissenschaft geprägt werden (ebd.). Die quantifizierende Bestimmung von unabhängigen und abhängigen Variablen, also ihre Operationalisierung, ist in theorielosen und unreflektierten Studien oftmals nur eine Bestätigung bereits vorhandenen ‚impliziten Wissens‘, die Auswahl besonders politisch beeinflussbarer Faktoren kein Ausweis neutraler Wissenschaft, sondern gesellschaftlich geprägt. Im Neoliberalismus – so ließe sich die Argumentation von PL zuspitzen – werden vor allem (individualistische) Risikofaktoren als sinnvolle Ansatzpunkte von Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention betrachtet  (die beiden deutschen Gesundheitswissenschaftler Hagen Kühn und Rolf Rosenbrock [1994: 39ff.] haben in treffender Weise für diesen Zusammenhang das „Darwinsche Gesetz der Präventionspolitik“ formuliert). Epidemiologische ‚Fakten‘ und ‚Wahrheiten‘ sind daher kontextsensibel und überschnelle Generalisierungen universellen Wahrheitsanspruchs sind kritisch zu betrachten. Allgemein gilt: „It is clear that pre-established assumptions about the cause of a disease may shape the manner in which research is carried out to then ‚prove‘ this causal link.“ (PL 1996: 45). Daher plädieren wissenschaftstheoretisch reflektierte Epidemiologinnen, wie zum Beispiel die US-amerikanische Wissenschaftlerin Nancy Krieger (2011), zu einer bewussteren theoretischen Reflexion epidemiologischer Forschung. Petersen und Lupton (1996: 39) fassen ihre Skepsis gegenüber epidemiologischen ‚Fakten‘ präzise zusammen:

The very choice of what phenomena require measurement and surveillance is a product of sociocultural processes, related to such factors as the research interest of the epidemiologists involved, current knowledges systems about the links between human behaviours or embodied characteristics and illness and disease, access to resources to fund research and surveillance strategies, the interests of the organisations in which epidemiologists are located, feasibility of measurement, and ethical and political considerations.

Durch die soziale Konstruktion von „Risikofaktoren“ bzw. „Risikoverhalten“ als gesellschaftlichen Problemen werden die „Abweichler“ von Normierungen und Normalisierungsprozessen zum „Problem gemacht“ (Hacking 1990). Zudem treten die Erkenntnisse und Wissenssysteme von Laien und Epidemiologen auseinander, mit der Annahme, dass Laien-Ätiologien weniger wert sind als diejenigen von „Experten“. Das mit Hilfe epidemiologischer Instrumente sozial konstruierte Verständnis von Gesundheitsrisiken reduziere sich allzuoft auf die individuelle Ebene, etwa Rauchverhalten, ohne dass soziale Gründe für dieses „Risikoverhalten“ überhaupt konzeptionell in den Blick genommen würden. Der Kampf gegen „unhealty lifestlyes“ (PL 1996: 49) im New-Public-Health-Diskurs beinhalte ein „…strong element of moralism and emphasis on personal responsibility.“ (Ebd.: 48) Die Kehrseite dieser neosozialen Moralität – wie ich sie oben benannt habe – ist PL zufolge freilich die abgrenzende und stigmatisierende Konstruktion des „Anderen“ bzw. „Andersartigen“ der von der Norm(alisierung) abweicht, wie Petersen und Lupton anhand Alkohol- und Drogensüchtigen sowie des (rassistisch geprägten) HIV-Verdachts ausgesetzten Menschen anderer Hautfarben beschreiben (ebd.: 55ff.). Die Kritik von PL (1996: 60) an der (unreflektierten) Epidemiologie fällt vernichtend aus:

Epidemiology is thus one of the central strategies in the new public health used to construct notions of ‚health‘ and, through this construction, to invoke and reproduce moral judgments about the worth of individuals and social groups. What implications does this have for the conduct of oneself as a citizen?

KRITIK DES GESUNDHEITSFÖRERLICHEN REDUKTIONISMUS: DIE KONSTRUKTION EINES ‚GESUNDEN BÜRGERS‘ UND DIE WANDLUNGEN DER GENDERASPEKTE

Das Konzept des Staatsbürgers („citizenship“) hat sich im Prozes der Zivilisation seit der Renaissance herausgebildet und war eng mit der Entstehung des Selbst-Konzeptes (’selfhood‘) verbunden (vgl. Elias 1997). Petersen und Lupton schreiben diesem bürgerlichen Selbst einige Kernmerkmale zu, dessen Verwirklichung historisch in seiner Zeit der Entstehung vor allem freien, besitzenden Bürgern (eben: männlichen Geschlechts) vorbehalten waren.

Civility is important to citizenship because participation as a citizen in participatory democracy involves self-control of the body and the emotions, the regulation of one’s demeanour and the cultivation of patience, enthusiasm and interest (Minson 1993, p. 203, zit.n. PL 1996: 63)

Im 20. Jahrhundert habe sich die soziale Normierung des Staatsbürgers im ‚Westen‘ zunächst im Zuge des Ausbaus der Sozialstaates – vor allem – nach dem Zweiten Weltkrieg inhaltlich in die Aufwertung von sozialer Verantwortlichkeit und kollektiver Solidarität entwickelt (ebd.), bevor im Zuge der 1980er Jahre und vor dem Hintergrund des (Wieder-)Aufstiegs neo-liberaler Philosophien der vorgängige passive und abhängige Staatsbürger sich erneut in einen aktiven und stark individualisierten verwandelt habe, dessen Kernidentität die Wahlentscheidung sei. Entgegen neoliberalen Freiheitsideologien unterstreichen PL jedoch, dass diese scheinbar freien Wahlentscheidungen mit einer Veränderung von Regierungsstrategien und -technologien einhergingen; jenem Kerngegenstand der von PL (1996: 63f.) favorisierten Gouvernementalitätsstudien:

…governmental programs and regulatory technologies have diversified still more, to construct an autonomous subject whose choices and desires are aligned with the objectives of the state and other social authorities and institutions.

Die gesellschaftliche Konstitution von Individuen als ‚Subjekte‘ gehorche einer – zugespitzt formuliert – Dialektik aus „techniques of governmental self-formation“ und „practices of ethical self-formation“ (ebd.: 64). Die bereits begrifflich eingeführte ’neosoziale Moralität‘ bewirkt eine Parallelisierung des generellen neuen Staatsbürgers mit dem im NPH-Diskurs konstruierten gesunden Bürger, dem „healthy citizen“ (ebd.: 64ff.). Dessen Aufstieg verläuft – wie PL unter Verweis auf grundlegende Arbeiten von Foucault, Herzlich/Pierret und Duden zeigen – ebenfalls in historischen Kontinuitäten und Brüchen. Der Kern des ‚gesunden Bürgers‘ sei die Selbsterhaltung seines Körpers, zum Zweck seiner (produktiven) Teilnahme an und (präventiven) Abwehr gesundheitlicher Gefahren für die Gesellschaft (vgl. zur Bedeutung des ‚Body‘-Konzepts in der Gesundheitssoziologie: Turner 1995: 204ff.; Lupton 2000: 50ff.; Turner 2004: passim; Nettleton 2006: 104ff.). Beginnend in der Aufklärungszeit „…governmental means of regulating the body began to shift from overtly coercive methods to those of self-regulation.“ (PL 1996: 66) Im Zuge der Neoliberalisierung und der zunehmenden Kommodifizierung kollektiver Güter – über den „Fordismus“ wird diesbezüglich recht wenig von PL geäußert; ggf. wegen der höheren Bedeutung der Medizin für die Passivierung des Patienten (Lupton 2012); die Sozialdemokratie als politisch-ideologische Verkörperung des Fordismus (Buci-Glucksmann/Therborn 1981) verstand sich ja auch als ‚kurierender‘ Arzt am Bett des Kapitalismus – verwandelt sich das liberale Normideal der Freiheit in das der gesundheitsbewussten Wahlentscheidung gesundheitsförderlicher Güter für jede Einzelne, ihre Familien und die ganze Gesellschaft:

Ideal ‚healthy‘ citizens have their children immunised according to state directives, participate in screening procedures such as cervical cancer smear tests and blood cholestrol tests (but only when they are deemed to be in the appropriate target group), control their diet according to dietry guidelines and take regular exercise to protect themselves against such conditions as coronary heart disease and osteoperosis. Not only do they take steps to protect their own health but their are also concerned about the health of others. (PL: 1996: 69)

Die Kehrseite solcher Regierungsprogrammen und liberaler Selbstverständnissen zur ‚Förderung‘ gesunder Bürger ist PL zufolge freilich die letzinstanzliche autoritative Durchsetzung der Verhaltensmerkmale der gesunden Bürgerin gegenüber stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen in der Gesellschaft, die nicht in der Lage sind oder –  aus der Perspektive neosozialer Moralität noch schlimmer – sich den staatlichen Programmen und sozialen Moralanforderungen gar widersetzen.  Trotz der Rhetorik der Freiwilligkeit und der freien Wahlentscheidung liege im Kern der Idee des NPH strikt die staatliche Durchsetzung sozialmoralischer Gesundheitsverhältnisse.  Von der (neo-)liberalen Wahlfreiheit bleibe folglich nur ein ideologischer Schein, sie werde , abweichendes Verhalten im Zweifelsfall staatlich erzwungen zu normalisieren versucht:

The state still takes a largely paternalistic approach to the task of monitoring and regulating its ‚citizens‘ health, albeit cloaked in the discourse of individual and community ‚voluntary participation‘. Public health represents the state as the agency responsible for guarding and ensuring the health of the populace. (PL 1996: 71)

Im weiteren Verlauf ihres Buches beschreiben Petersen und Lupton (ebd: 72ff.) den Genderaspekt des gesunden Bürgers (SIC!), indem sie darauf hinweisen, dass Frauen wesentlich stärker als Männer den Herrschaftstechniken des Staates unterworfen werden und sich als selbstverantwortliche (Mittelklasse-)Subjekte selbst in dieser Weise konstruieren. Diese besonders starke Regulierung des weiblichen Körpers geht auch einher mit der historisch zunächst begrenzten Zuweisung des Staatsbürgerstatus auf (weiße) Männer und der Zuweisung der (betreuenden) Mutterrolle von Frauen in den Familien der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Bewahrung gesunder Familienverhältnisse durch Kontrolle des weiblichen Körpers im Hinblick auf häusliche Sauberkeit, soziale Attraktivität, eheliche Sexualität und risikoaverses Verhalten (für Kind, Mann und – in dieser Reihenfolge – für sich) ziehe sich als moralische Anforderung an Frauen durch die gesamte Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und sei gegenüber weniger selbstkontrollierten Gruppen von Frauen (z.B. englischen Arbeiterfrauen) entweder staatlicherseits oder durch freiwilligen Dienst von Mittelklassefrauen eingefordert worden. Entsprechend den gesundheitsmoralischen Anforderungen an Frauen seien sie auch als besonders kontrollnotwendig (Risiken!) und kontrollbedürftig (geringe Selbstkontrolle, affektiv determiniert) angesehen worden. Im NPH-Diskurs habe sich trotz punktueller Variationen und neuartiger Risiken daher lange Zeit nichts Grundsätzliches am kritischen Verhältnis zu Frauen im Sinne  „liberaler Gouvernementalität“ (Poczka 2017: 421ff.)  geändert:

In the new public health discourse women are encouraged to monitor the shape and size of their bodies so as to maximise their sexual attractiveness and desirability, and to avoid practices such as smoking because men will find their breath unattractive or because it causes premature wrinkling. The feminine ‚healthy‘ citizen, it is suggested, should seek both soundness of body and physical allure through the self-care techniques proferred by the new public health. In these discourses there is an elision between the ideals of commodity culture and public health, for both promote the slim, attractive, healthy, physically fit, youthful body as that which women should seek to attain. (PL 1996: 80)

Der ‚gesunde Mann‘ war und ist in vielerlei Hinsicht konträr zu den moralischen Anforderungen, die an Frauen gestellt werden, konstruiert: „The male body is dominantly culturally represented and understood as ‚contained‘, dry and controlled compared with the soft, viscous body of a woman.“ (Ebd.: 81) Wenn die in Anklang an griechische Ursprünge oft muskulär geprägte männliche Körperlichkeit außer Kontrolle gerate – in Krankheitsepisoden etwa – werde die körperliche Identität des Mannes außer Kraft gesetzt; hier liegt gewissermaßen die identitätstheoretische Begründung für den sprichwörtlichen „Männerschnupfen„. Die Sorge des Mannes um seine Gesundheit, die Vermeidung exzessiven und risikobehafteten Verhaltens, welche seine ‚Kraft‘ demonstrieren soll, werde oft – so PL – mit (sozial und individuell abgewerteter) Homosexualität identifiziert.  „By contrast, engaging in activities that treathen one’s health, endanger one’s body, are often coded as masculine.“ (Ebd.: 83)

Diese Einschätzung von PL mag heute ein wenig veraltet erscheinen, doch ist es durchaus fraglich, ob die ‚Männlichkeit‘ heute, zwanzig Jahre später, trotz zunehmenden ‚verordneten‘ Gesundheitsbewussteins von Männern (z.B. Klotz/Hurrelmann/Eickenberg 1998 ; Altgeld 2004; Merbach/Bräler 2014) in gleicher Weise reguliert wird wie die weiterhin stark regulierte ‚Weiblichkeit‘. Aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive beispielsweise, die –  in positiver Weise – an die neo-liberalen Anforderungen der Subjektaktivierung und neosozialen Moralität anschließt (vgl. Lesssenich 2008: passim), wird eine Transformation von Geschlechterrollen identifiziert und in deren Folge soziale Anforderungen an diese gestellt, die nicht nur die Risikoneigung und überkommenden (gesundheitsrelevanten) Männlichkeitskonzepte, sondern auch traditionelle Weiblichkeitsrollen als sozialisationsbedingte Defizite identifizieren, mit denen eine erfolgreiche Integration in die Erwerbswelt verhindert werde (Siegrist/Möller-Leimkühler 2012: 127ff.).  Petersen und Lupton (1996: 85ff.) haben jedoch bereits unter Hinweis auf die „men’s health“-Bewegung diese modernistische Differenzierung männlicher Gesundheitskonzepte antizipiert. Motiviert durch die durchschnittlich geringere Lebenserwartung von Männern ziele diese Bewegung auf eine Einübung ‚gesünderer‘ Lebensstile und aktiveren Nutzung bestehender Gesundheitsdienstleistungen.

The [healthy citizen, KM] discourse […] represents an even greater extension of the new public health strategies of continual monitoring and calculation of the population’s health status. The men’s health discourse, like that of women’s health movement that preceded it, underlines the ‚voluntary‘ nature of such surveillance, because the calls for the increased ‚medicalisation‘ of men’s bodies through greater access to health care services and medical screening technologies are not emerging from the state, but from community groups and individuals. (PL 1996: 87)

Obwohl PL hiermit eine gewisse Annäherung der Gesundheitskonzepte der ‚women’s-health“- und „men’s health“-Bewegungen suggerieren, bleibt die Frage ungeklärt, ob sich auch die Geschlechterrollen insgesamt anpassen. Ein flüchtiger Blick in die parallelen Zeitschriften ‚Men’s Health‚ und ‚Women’s Health‚ legt die Vermutung nahe, dass sich an grundlegenden Geschlechterrollen nicht viel geändert hat, außer mit der Qualifizierung, dass heutige Männer und Frauen sich entsprechenden den Anforderungen neosozialer Moralität gesünder zu verhalten suchen, dabei aber mutmaßlich immer noch soziostrukturelle Varianzen und Hierarchiemuster zu vermuten sind; Petersen und Lupton verfolgen leider diesen Gedanken nicht weiter. Eine klassentheoretische sensible Genderforschung hätte hier wohl anzusetzen. Zugleich stellt sich die Frage, ob diese neuen Strategien der gesundheitlichen Geschlechstkonstruktion wirklich mit traditionellen patriarchalischen oder gar sexistischen Reproduktionsformen brechen und wirklich eine doppelcodierte (bedingte) Maskulinisierung des Weiblichen sowie parallel eine (bedingte) Feminisierung des Männlichen stattfindet oder ob sie nur eine Transformation des Patriarchats darstellen (vgl. als Einstieg in und Überlick über die Gender-Studies: Abdul-Hussein 2014). Unabängig von diesen Gesichtspunkten wird der ‚healthy citizen‘  in gewisser Weise geschlechtsneutraler, gerade auch weil differente Aspekte von Gender bei der Konstitution von Gesundheit/Krankheit sowie gesundheitsförderlichem Verhalten berücksichtigt werden…

KRITIK DER SOZIAL-ÖKOLOGISCHEN GRUNDLAGEN VON NEW PUBLIC HEALTH: DIE MODERNISTISCHE KONSTRUKTION EINER ‚RISKANTEN UMWELT‘

Es ist ein weithin bekannter Truismus, dass der Aufstieg der politischen/sozialen Bewegungen für bessere gesundheitliche Verhältnisse unzweifelhaft mit einer Kritik an sozial-ökologischen Problemen und Auswüchsen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses einhergegangen ist (vgl. exemplarisch: Beck 1986; Trojan/Legewie 2001). PL unterziehen die sozial-ökologischen Grundlagen dieser Bewegungen für mehr Gesundheit einer kritischen Bewertung, wobei der Kern ihrer Kritik darauf zielt, dass die von diesen Bewegungen kritisierten Modernisierungseffekte auf halbem Wege stecken bleiben, weil sie – nun in ‚kritischer‘ Absicht – weiterhin dem rationalistischem Aufklärungsglauben der Moderne anhängen. Insbesondere behaupten sie aber, dass trotz der relativen Ähnlichkeit der „grünen“ Umweltbewegung und der NPH-Bewegung die letztere dazu tendiere vollumfänglich einen „neo-liberal approach“ (PL 1996: 90) zu verfolgen (siehe auch: Mosebach/Walter 2021), wobei eine grün-radikale Position innerhalb des umweltschutzbezogenen Diskurses noch zu erkennen sei (eine Kritik, die im Angesicht des unvermeidlichen „Green New Deal“ mittlerweile kaum noch zutreffen dürfte, sind doch radikale Positionen mittlerweile auch im Umweltschutz-Diskurs insofern marginalisiert (wenn nicht sogar kriminalisiert), als auch hier mittlerweile technologische Innovationen ein Weiter-So des Kapitalismus ermöglichen sollen; Neckel 2019; Mosebach 2022). Ihre Kritik ist mithin eine Kritik an rationalistischen Modellen von Wissenschaft und Politik, die nicht nur den Schutz der und vor der „natürlichen Umwelt“, sondern auch der „sozialen Umwelt“ und des Einzelnen vor schlechten Einflüssen aus dieser betrifft.  Ihre wissenschaftstheoretisch inspirierte Kritk lässt sich mit ihren eigenen Worten wie folgt zusammenfassen:

In environmental discourses the inevitable contingencies, indeterminacies and uncertainties, the socially constructed nature of scientific knowledge, tend to be glossed over for a reliance upon ‚objective facts‘ (Grove-White 1993, p. 22). In turn, most solutions constituted to deal with environmental problems draw upon science and rational action. It is not knowledge base of science per se that is challenged, therefore, but rather the effects of a ‚misused‘ science. (PL 1996: 118f.)

Diese resümierende Kritik soll im Folgenden in Bezug (i) auf die Figur des umweltbewussten Bürgers (ii) dem Begriff von Natur in diesen Diskurses und (iii) den sozial-ökologischen Gesundheitsrisiken etwas ausführlicher rekonstruiert werden, bevor die Grundthese von PL im Hinblick auf Kohärenz und Aktualität abschließende diskutiert werden wird.

Der sozialökologisch bewusste „healthy citizen“ errinnert PL an einen „rational consumer […] who engages as an autonomous individual in activities to prevent or reduce environmental damage and to protect herself or himself from health risks believed to be generated by the environment.“ (PL 1996: 90) Wobei im Rahmen des neoliberalen Diskurses anerkannt ist, dass diese Umwelt durchaus von Menschen „verunreinigt“ wurde, aber der Umgang mit diesen „Risiken“ bleibe individualistisch-neoliberal geprägt. Allerdings weisen PL darauf hin, dass der Umgang des Menschen mit „environmental hazards“ geradezu eine anthropologische Konstante ist und entgegen der erst in den 1950er Jahren entstanden globalen Umweltbewegung gegen die Industrialisierungsauswirkungen weit in die dokumentierte Geschichte zurückreicht. Die diskursive Auseinandersetzung mit den „Umweltrisiken“ bedient (sich) dabei stets binäre(r) und moralisch aufgeladenen/r Kategorien, wie z.B. „clean/dirty, pure/contaminated and rural/urban“ (ebd.: 91). Das 19. Jahrhundert – als die Geburtsepoche von Public Health – ist dabei von besonderen genealogischem Interesse für Peterson und Lupton (PL 1996: 91-94), denn es zeigt, wie unterschiedlich gesundheitsschädliche Umweltrisiken diskursiv konstituiert werden können.

Im 19. Jahrhundert – so ihre These – drehte sich alles um die „Sauberhaltung“ des unmittelbaren Wohn- und Lebensortes. Die Erhaltung der „domestic cleaniness“ war nicht nur eine Pflicht für alle „Bürger“, sie wurde vor allem jenen als Pflicht auferlegt, die als Arme, Mitglieder der Arbeiterklasse oder Immigranten in „dreckigen“ Gegenden wohnten und daher selbst persönlich als „Gesundheitsrisiko“ betrachtet wurden. Theoretisch wurde das gerechtfertigt durch die – noch heute bekannte – Identifizierung von „schlechter Luft“ oder schlicht: „Gestank“, die im Rahmen der sog. Miasma-Theorie kategorisiert wurde. Die „Überbevölkerung“ wurde als ursächliches Problem identifziert, welches aber kaum auf funktionale Anforderungen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses und der damit zusammenhängenden „ursprünglichen Akkumulation“ (MEW 23: 741ff. [Kap. 24]; Polanyi 1990) zurückgeführt wurde, sondern zumeist mit moralischen Kategorien über die „unzivilisierten“ und „charakterlosen“ Sozialgruppen einherging („wunderbar“ nachzulesen z.B. in den Geschichten über den Privatdetektiv Sherlock Holmes aus der Feder des britischen konservativen Literaten: Sir Arthur Conan Doyle). Folglich wurden „Städte“ und die dort befindlichen „Slums“ als Brutstätten von Erkrankungen und Krankheitsherden identifiziert. Die staatlich vermittelte „Public Health“-Politik in vordemokratisch-liberalkapitalistischen Zeiten zielte daher auf die soziale Kontrolle und den sozialen Aussschluss solcher „gefährlichen Klassen“, nicht nur in England, USA und Australien (der Raumbereich von PL; siehe darüberhinaus de Swan 1988; Labisch 1992; Porter 2005):

Therefore, in nineteenth-century public health the actions expected of citizens to protect their health in relation to the ‚environment‘, for the bourgeoisie at least, centred around avoiding those places and people that were singled out by the experts as ‚dirty‘ and potentially ‚contaminating‘. The importance of maintaining domestic cleaniness was also emphasied as a duty to all citizens, particularly those constructed as ‚dirty‘: immigrants, members of the poor and the working class. However, […] this duty was largely represented as the responsibility of women, as wives and mothers (PL 1996: 94)

Umweltgefährdungen im Zeitalter der Globalisierung sind dagegen global konnotiert, sie überschreiten das Lokale, Begrenzte, auch hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und Vernichtungsmöglichkeit. Der analytische Schlüsselbegriff im (post-)modernen Umweltdiskurs hierfür ist der Begriff des „Risikos“, den Petersen und Lupton in kritscher Reflexion der soziologischen Theorie der reflexiven Moderne (Beck 1986, Giddens 1996; Beck/Giddens/Urry 1996) anwenden. Der Begriff des Risikos beschreibt damit Gefährdungen (zu dieser Unterscheidung siehe Giddens 1996: 16ff), die aufgrund menschlicher Handlungen zurückführbar sind. Hierdurch werden sie, so Beck, „calculable and predictable“ (PL 1996: 96). Der Umweltrisikodiskurs zeige sich nun aber so, dass die Risiken von den Einzelnen nicht mehr kontrolliert werden können, da ihre – gewissermaßen – Vermittlungs- und Verursachungsprozesse weit über die lokale Begrenztheit von Risiken hinausgingen, die im 19. Jahrhundert vorherrschten. Umweltrisiken gehen auch in ihrer Folgenmächtigkeit über die beschränkten des vorangegangenen Jahrhunderts hinaus: sie begründen ein „greate magnitude [of risk], which treatens humans as a species.“ (PL 1996: 95) Petersen und Lupton illustrieren diese Katastrophenrhetorik des Umweltdiskurses mit zahlreichen Ereignisse und Studien, die eine solche Wahrnehmung nachvollziehbar machen (so z.B. der Reaktor-Unfall in Tschernobyl 1986). Desweiteren werden die Luftverschmutzung in Los Angeles und auch die globale Erwärmung als weitere Großrisiken für die Gesundheit von Einzelnen und größeren Gruppen bis hin zu Menschheit genannt, die im Umweltdiskurs artikuliert werden.

Dieses Risiko ist – Beck zufolge – selbstgemacht, denn es ist „a systematic way of dealing with hazards and insecurities induced and introduced by modernisation itself“ (1992, p. 21, zit.n. PL 1996: 96) Doch dieses Risiko ist nicht von allein da, es bedarf diskursiver Verstärker, wobei neben Umwelt-NGOs (z.B. Greenpeace als ein Pionierverein) vor allem wissenschaftliche Expertensysteme und im Hinblick auf die Umweltrisiken für die Gesundheit vor allem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Bedeutung sind. Alle Akteure bedienen sich freilich den Medien, die das Bewusstsein um Umweltkatastrophen und Risiken in den letzten Winkel der Erde transportieren. Die Folgen für die Menschen sind gravierend, denn – wie viele Studien gezeigt hätten – „risks engendered by industrialisation create ambivalance and anxiety because of their seemingly limitlessness spread and the difficulty in defining their effect.“ (PL 1996: 98) Der lokalen Bedrohung im 19. Jahrhundert konnte noch individuell begegnet werden vermittels der handlungsorientierten Kontrolle des lokalen Raums und des bewussten Vermeidens „gefährlicher Gebiete“ (so illusorisch das im einzelnen auch gewesen sein mag). In der Grenzenlosigkeit der globalen Umweltkrise(n) jedoch wird die Souveränität oder auch Autonomie des Einzelnen zerstört oder wenigstens heftig in Frage gestellt. Die Feststellung oder gar Vermeidung von Ursachen und Folgen globaler Erwärmung, elektromagnetischer Strahlungsbelastung oder auch von elektrischer Energie überhaupt, entzieht sich der individuellen Erkenntnis und vereinzelten Handlungsfähigkeit des (postmodernen) Subjekts:

Given the assumed pervasive and insidious nature of health risks, the identification of such risks has come to be viewed as beyond the capacity of most individuals. Risk identification is increasingly regarded as the preserve of those who have access to technology and expert knowledges, for example scientists and members of the medial profession. These experts are responsible for constructing a web of knowledges around environmental hazards, and for interpreting the risk for members of the lay population. It is difficult for lay people to know how much trust they should invest in these experts, however, given the constantly shifting state of scientific and medical knowledge (Giddens 1992, p. 148). (PL 1996: 98)

Wie konstituiert sich in diesem Umfeld individuell untrollierbarer Umweltrisiken und brüchigem Vertrauen auf Expertenwissen der umwelt- und gesundheitsbewusste Bürger als handelndes Subjekt? Dieser Frage gehen Petersen und Lupton (1996: 99-103) im Folgenden nach.

IN BEARBEITUNG…

LAST UPDATED: 2024-02-09

Erich Fromm (1971 [1968]): Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik, Stuttgart: dtv/Klett-Cotta. 194 Seiten.

Warum, so die wahrscheinliche Frage geneigter Leser:innen, eine Rezension eines „so alten“ Buches? Die Antwort ist einfach und erwartbar. Weil es immer noch aktuell ist, trotz seines Alters. Dies ist zumindest die Überzeugung des Reviewers. Zugegeben werden muss natürlich schon, dass Vieles „überholt“ ist, die Welt hat sich weiter gedreht. Doch was sind gut 50 Jahre im Verhältnis zu 2000 Jahren nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung? Grob gerechnet, zwei Generationen. Und: wer nicht aus der Geschichte lernen will, ist verdammt, sie zu wiederholen, heißt es. Wenn auch dieser Aphorismus natürlich etwas arrogant daherkommt, ist die Vorstellung, dass Überlegungen des Sozialphilosophen und Psychoanalytikers zur „Humanisierung“ der Technik inmitten des Umbruch des „globalen Fordismus“ (Lipietz 1992) heute nicht mehr aktuell sind, weil die Technikformen oder „die Welt“ sich geändert haben mögen, etwas sehr oberflächlich. Nicht jede neue Mode erfindet das Rad neu. Nur weil sie für die Individuen einer neuen Generation „alt“ erscheinen, sind Überlegungen und Phänomene scheinbar „alter“ Text und aus „lange Zeit zurückliegenden“ Epochen nicht pauschal hinfällig. Bei aller permanenter Veränderung in spätmodernen Gesellschaften zeugen solche Gedanken von der Verwechslung kollektiver und individueller Bewusstwerdungsprozesse. Und: Ungleichzeitigkeiten gehören zum Wesen der kapitalistisch geprägten Gesellschaften der Spätmoderne wie der Sprühnebel zu den herabstürzenden Wassermassen der Niagara-Fälle. Und selbst wenn zahlreiche Details „veraltet“ sein mögen: ein altes Buch kann neue Sichtweisen auf die heutigen Dinge erwecken, insbesondere dann, wenn der historische Zeitpfeil linearer Existenz von damals bis heute in eine ganz andere Richtung geflogen ist. Kehren wir also zu dem alten Buch zurück und fragen: was kann es uns heute noch sagen? Hierzu wird dieser Review nicht nur die Argumentation ausführlich, aber natürlich selektiv rekonstruieren, sondern mittels reflektierter Einwürfe und Kommentare versuchen, dem Text sowohl seine potenzielle Aktualität zu entlocken als auch ihn darauf hin zu befragen, was er möglicherweise „ausgelöst“ hat oder anders gesagt: wie sein Verhältnis zu jenem historischen Zeitpfeil gestaltet ist, der seitdem zwei Generationen, zahllose Staaten und singuläre Weltreiche von gestern nach heute gebracht hat. Also: los geht’s!

Auf der Messerspitze einer dehumanisierenden Zeitenwende: Mikroelektronik meets Massenproduktion und Bürokratie

Dass das Frommsche Buch keineswegs völlig veraltet ist, zeigt sich schon in der Paradoxie der oben stehenden Abschnittsüberschrift, die jedoch nur jener sozialwissenschaftlich Gebildeten ins Auge springt, die schon mal etwas von Fordismus und Postfordismus gehört hat (wer diese Begriffe genauer verstehen möchte, sei hierauf verwiesen). Denn der Computer gilt in diesem sozialwissenschaftlichen Narrativ als Inkarnation des Postfordismus, nicht des Fordismus, dessen Insignien Massenproduktion, Automobile und Bürokratie sind. Fromms Buch steht also an der Schwelle einer Zeitenwende von Fordismus zum Postfordismus: quod erat demonstrandum. Sein Buch ist entsprechend aufgebaut und fokussiert auf die Gefährdungen einer dehumanisierenden Technik, die er nicht nur im Computer, noch nicht einmal zentral darin, sondern vor allmen in der Nutzung des Computers, den diese Technik einbettenden „Institutionen und Methoden“ (Fromm 1987: 115; GA IV) der zeitgenössischen Gesellschaften erkennt. Das Buch besteht, den Problemaufriss und das Fazit nicht mitgezählt, aus vier zentralen Argumentationsschritten und folglich auch Kapiteln. Der Ausgangspunkt der Studie ist die Auffassung, dass insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen Regionen der „ganzen Welt“ (ebd.: 19; GA IV: ) eine wachsende Polarisierung zwischen den Mächten des „Leblosen“ einerseits und vielfältigen sozialen Kräften, die von „einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, nach neuen Einstellungen“ (ebd.) getrieben würden, andererseits zu beobachten sei. Die Rede ist hier unverkennbar von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Protestbewegungen der sog. 1968er-Bewegung, die Fromm insgesamt – und vielleicht an dieser Stelle etwas zu undifferenziert – als „dem Leben“ und „der Liebe“ zugewandt sieht (siehe dazu: Deppe 2018: 17-86).

Im zweiten Kapitel entwickelt Fromm sein Konzept der „Hoffnung“, dass er von passiven und theologischen Konzepten abgrenzt und in starke Beziehung setzt zum ähnlich aufgebauten „Prinzip Hoffnung“ des marxistischen Philosophen Ernst Bloch (Bloch XXX; Fromm 1987: 34, FN 8; GA IV: ). Im dritten Kapitel setzt sich Fromm zunächst mit technikkritischen und dystopischen, so würde man heute dies wohl nennen, Theorien bzw. Vorhersagen auseinander (z.B. Mumfords „Megamaschine“ oder Brezinskis „technotrone Gesellschaft“) , die in der unlebendigen Verquickung von Bürokratie, Kybernetik und Kapitalismus drohten. Einen Schritt zurückgehend fokussiert der weitere Verlauf des Kapitels auf die kritische Diskussion der Prinzipien der „gegenwärtige[n] technologische[n] Gesellschaft“ (Fromm 1987: 47ff.; GA IV: ) und ihrer „Wirkung auf den Menschen“ (ebd.: 54ff.; GA IV: ) sowie der janusköpfigen Befriedigung des „Bedürfnisses nach Gewissheit“ (ebd.: 63ff.; GA IV: ) durch die identifizierten „Prinzipien“. Bevor Fromm im fünften Kapitel seine Vision notwendiger Schritte „zu einer Humanisierung der technologischen Gesellschaft“ (ebd: 115ff.; GA IV: ) beschreibt, rekapituliert er im vierten Kapitel die anthropologischen Grundlagen des „Menschseins“, also jene universellen Anlagen und unterstellte „Natur“ bzw. der „grundlegenden Bedürfnisse“ des Menschen, die er bereits in vorangegangenen Veröffentlichtungen beschrieben hatte. Diese Ausarbeitung grundlegender Merkmale des Menschlichen, die Fromm und ähnlich inspirierten Autor:innen immer wieder als „Naturalisierung“ des Sozialen bzw. des Menschen vorgeworfen wurde, ist zweifellos eine normative Setzung, die jedoch Fromm nicht nur in der „Furcht vor der Freiheit“, sondern auch in „Psychoanalye und Ethik“ und später in „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ mit historischen und empirischen Forschungsergebnissen zu stützen versuchte. Insofern ist der Vorwurf des „Naturalismus“ an Fromms Anthropologie m.E. schlecht begründet, wenn nicht sogar mitunter böswillig und politisch motiviert.1

Im fünften Kapitel diskutiert Fromm zentrale Ansatzpunkte und Prinzipien, wie eine humane Gesellschaft, eine „Humanisierung der Technik“ erreicht werden kann. Im Rückblick auf die von Fromm empfohlenen Strategien einer „humanistischen Planung“ (Fromm 1987: 117ff.; GA IV: ), einer „Aktivierung und Freisetzung von Energien“ (ebd.: 121ff; GA IV: ) und eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (ebd.: 139ff.; GA IV: ) lässt sich der Eindruck nicht abwehren, dass manche Elemente im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus Einfluss gefunden haben in so manche politische, ökonomische oder kulturelle Reformstrategie(n). Insbesondere die im Buch vorzufindende „Bürokratie“-Kritik, seine kritische Betrachtung von „Passivierungs“-Tendenzen in fordistischen Großorganisationen und auch die Vorschläge zu ihrer Überwindung, partizipatorische Verwaltungsplanung hier, humanistisches Management dort, mag heutige Zeitgenoss:innen an seit den 1980er Jahren installlierte „Reformmaßnahmen“ der Verwaltungsmodernisierung und des Unternehmensmanagements erinnern. New Public Management (Pollitt/Bouckaert 2011) und Lean Management (oder: Total Quality Management; Bröckling 2005) sind nicht nur die herausgehobensten „Management“-Konzepte einer sich modernisierenden Bürokratie im Postfordismus, sie haben tatsächlich auch viele Elemente dessen übernommen, was in der Fromm’schen Diktion als „Humanisierung“ deklariert worden wäre. Und auch das Element eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (Fromm 1987: 139ff; GA IV: ) spiegelt sich im Aufstieg des „kritischen Konsumenten“ in den Staaten und Gesellschaften des Postfordismus seit den 1980er Jahren. Und dennoch: die Fromm’sche Vision einer „Revolution der Hoffnung“ bricht sich mit diesen Ansatzpunkten, denn Fromm hält im Gegensatz zu vielen Strateg(i)en der „Humanisierung“ der Bürokratie und des Management an zentralen Eckpunkten einer Kapitalismuskritik und der notwendigen Einführung sozialistischer Planungselemente und von dezentralen Demokratisierungsprinzipien fest (Fromm 1987: 120f. GA IV: ; und insbesondere: Fromm 62009: 229ff.; GA IV: ). Er steht folglich in einer Tradition des humanistischen bzw. kommunitären Sozialismus (Fromm 1965), die – nach dem Niedergang des „Realsozialismus“ und der sich lange Zeit neoliberalisierenden „Sozialdemokratie“ immer noch – oder auch: wieder – hochaktuell ist (Honneth 2017; Dörre 2021; Deppe 2022). Gerade wegen dieser offensichtlichen bzw. – aus skeptischerer Perspektive – möglichen Aktualität der Fromm’schen Überlegungen, soll im Folgenden die Argumentation aus der „Revolution der Hoffnung“ im (subjektiven) Detail und mit kritisch-reflexiver Emphase rekonstruiert und im Hinblick auf ihre heutige Aktualität erörtert werden. Ich werde dazu allerdings die Gliederung des Buches „umwerfen“ und beginne mit einer Erörterung der Begriffe der „Hoffnung“ und der Frage nach dem „Menschsein“, bevor ich die in die Diskussion über die konstatierte Gesellschaftskrise der 1960er Jahre und ihre Überwindung, die Fromm für möglich erachtete, einsteige.

Wie kann der Mensch hoffen? Analytische Bedeutung und normative Prämissen der Hoffnung und des Mensch-Seins in der Fromm’schen Sozialtheorie

Obwohl die von Fromm eingeforderte „Revolution der Hoffnung“ durchaus einen gewissen utopischen Charakter hat, ließe sich unter Bezugnahme auf Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ diese Hoffnung sehr wohl auf eine reale Grundlage stellen, also von einer „Realutopie“ sprechen. Die realutopische Hoffnung ist daher nicht idealistisch gemeint und damit im schlechten Sinne „unrealistisch“, wie viele Kritiker:innen der zweifellos empathischen Aufforderung einer „Revolution der Hoffnung“ durch Fromm unterstellt haben und – bei Neulektüre – vermutlich unterstellen würden. Der von Fromm erörterte Begriff der „Hoffnung“ und seine – gewissermaßen – anthropologisch-sozialpsychologische Begründung menschlicher Bedürfnisse aus der „Bedingung der menschlichen Existenz“ (Fromm 1987: 76ff; GA IV: ) heraus sind analytische Ansatzpunkte seiner Sozialphilosophie, auf die sich eine „Revolution der Hoffnung“ stützen kann. Dabei sind die normativen Prämissen menschlicher Existenz keineswegs eindimensional, sondern zeigen die Eigenschaft der „Wahlalternative“: der Mensch ist weder gut noch böse von Natur aus, sondern zu beiden Veranlagungen seines Handelns in der Lage. Die Strukturen der Gesellschaft mögen ihn in die eine oder andere Richtung drängen, doch in Fromms Sozialphilosophie bleibt die (religiös klingende und auch so gemeinte) Emphase der Freiheit jedes Einzelnen die normative Prämisse seines „prophetischen Alternativismus“ (ebd.: 33; GA IV: ).

„Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben!“

Deuteronomium (5. Buch Mose), Kapitel 30, Vers 19, zit.n. Fromm 1987: 33

Diese biblische Stelle erhebt Fromm zum Prinzip seiner „messianische[n] Hoffnung“ (ebd.: 32ff.), die ganz und gar nicht-theistisch begründet ist. Aufgabe der Hoffnung ist nicht, auf eine „kommende Zeit“ (ebd.: 21) zu warten, denn in diesem kafkaesken „untätige(n) Abwarten“ zeige sich vielmehr eine „verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz“ (ebd.: 22), die gelegentlich und gern manieriert als „pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus“ (ebd.) von vermeintlich kritischen Geistern vor sich hergetragen und zur Schau gestellt werde. Doch selbst offen geäußerte Hoffnung kann eine Verkleidung für innere und unbewusste Hoffnungslosigkeit sein, wenn der gesellschaftliche „Erfolg“ eine solche geäußerte Hoffnung verlangt. Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Fromm weist darauf hin, dass nicht nur solche äußeren Mechanismen, sondern auch offenkundige „Phrasendrescherei und Abenteuerlust“ (ebd.) unbewusste Hoffnungslosigkeit übertünchen und ein Ausdruck nekrophiler Tendenzen sein können, deren Dynamik gern verdrängt werde; dies gelte für solche „Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier.“ (Ebd.: 24) Hoffnung ist für Fromm sehr viel stärker ein „Gefühl“ bzw. eine „Erfahrung“ als eine rein kognivitive Veranstaltung:

„Hoffen ist ein Zustand des Seins. Es ist eine innere Bereitschaft, die Bereitschaft zu einem intensiven, aber noch unverbrauchten Tätigsein.“

Fromm 1987: 26 (GA IV: ).

Tätigsein heißt freilich nicht, geschäftig zu sein oder bloßen gesellschaftlichen „Erfolg“ zu „haben“. Hoffend tätig sein heißt, das Leben und das (individuelle und kollektive) Wachstum (gerade auch gegen gesellschaftlich erwungenen Erwartungen) zu stärken, gewissermaßen biophil tätig zu sein, wobei hier natürlich unterstellt ist, dass gesellschaftliche Erwartungen falsch sein können. Hoffnung ist so gesehen nicht ein Zustand der „aktiv Hoffenden“, sondern vielmehr der „hoffend Aktiven“. Diese – letztlich – lebensbejahende Hoffnung wird deutlich, indem Fromm seinen Begriff der Hoffnung mit dem Konzept des „Glaubens“ und der „Seelenstärke“ verbindet. Glauben heißt Fromm zufolge die „Gewißheit des Ungewissen“ (ebd.: 28; kursiv i.O.) zu begreifen. Während irrationaler Glaube sich etwas bereits Bestehendem unterwirft (so z.B. jedweder Form von Idolarisierung, etwa einem politischen Führer, einem Nationalismus oder einer anderen Ideologie), verbindet sich der rationale Glaube als „Gewißheit der Vision und des Verstehens“ (ebd.: 28) der Wirklichkeit mit der wirklichen Hoffnung:

„Hoffnung ist die Stimmung, die mit dem Glauben Hand in Hand geht. Ohne eine hoffnungsvolle Stimmung läßt sich der Glaube nicht aufrechterhalten. Nur auf den Glauben kann sich die Hoffnung aufbauen.“

Fromm 1987: 29 (GA IV: )

Doch biophiles Tätigsein, wenn das, was Fromm sagen will, so zu nennen erlaubt ist, benötigt auch „Seelenstärke“ der Menschen. Sie bedeutet die Fähigkeit, „der Versuchung zu widerstehen, Hoffnung und Glaube dadurch zu gefährden, dass man sie in einen leeren Optimismus oder in einen irrationalen Glauben umwandelt“ (ebd.: 29); geschieht dies, sind beide verloren. Diese Seelenstärke zu verfolgen, fordert derjenigen „Furchtlosigkeit“ (ebd.: 30) ab, die es versucht. Dabei meint Furchtlosigkeit weder in irrationaler Weise, „sein Leben zu risikieren“ (ebd.), noch die Furchtlosigkeit dadurch zu erlangen, „sich einem Idol, einem anderen Menschen, einer Institution oder einer Idee symbiotisch zu unterwerfen.“ (Ebd.). Furchtlosigkeit bedeute vielmehr, seine Begierden zu überwinden, „Idole, irrationale Wünsche und Phantasien“ (ebd.) loszulassen, „weil er [oder auch: sie] mit der Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner [oder: ihrer] selbst in vollem Kontakt steht.“ (Ebd.) Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) und die Philosophie des prophetischen Alternativismus stellen uns – Fromm zufolge – vor die Wahl:

„Als wesentliche Eigenschaften des Lebens drängen Hoffnung und Glaube schon ihrer Natur nach über den individuellen wie auch den gesellschaftlichen status quo hinaus. Das Leben hat unter anderem die Eigenschaft, daß es ein ständiger Prozeß der Veränderung ist und keinen Augenblick gleich bleibt. Leben, das stagniert, beginnt abzusterben. Stagniert es völlig, ist der Tod eingetreten. Hieraus folgt, daß das Leben in seiner Eigenschaft als Bewegung dazu tendiert, aus dem status quo auszubrechen und ihn zu überwinden. Wir werden entweder stärker oder schwächer, klüger oder dümmer, mutiger oder feiger. Jede Sekunde ist ein Augenblick der Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren. Entweder pflegen wir unsere Trägheit, unsere Gier und unseren Haß, oder wir hungern sie aus. Je mehr wir sie pflegen, um so stärker werden sie; je mehr wir sie aushungern, um so schwächer werden sie.“

Fromm 1987: 31 (GA IV: ); Hervorhebungen i.O.

Menschen können in biophiler Weise folglich nur glaubend und mit begierloser Furchtlosigkeit hoffend tätig sein. Doch warum und wozu sollten sie das können (wollen)? Nachdem Fromm im zweiten Kapitel seines Buches von der „Revolution der Hoffnung“ seinen zum Tätigsein drängenden Begriff von „Hoffnung“ entfaltet hat, widmet er sich im vierten Kapitel des Buches der Frage, was es heiße, „menschlich zu sein“ (ebd.: 74ff.). Dieses Kapitel gibt uns einen begrifflichen Schlüssel dazu, jenes empathische Rätsel aufzuschließen, das Fromm uns im zweiten Kapitel mit seinem Konzept „messianischer Hoffnung“ hinterlassen hat. Welche Menschlichkeit sollten wir wählen wollen? Drehen wir den Schlüssel langsam um!

Wer die Fromm’sche Philosophie eines „Naturalismus“ zeiht – und das tun viele berufene Philosoph:innen immer wieder gerne – , hat ihn entweder nie gelesen oder nicht verstanden. Dabei sind seine Aussagen völlig klar:

„Tatsächlich ist es bis jetzt nicht möglich, eine endültige Aussage darüber zu machen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein […]“.

Fromm 1987: 76 (GA IV: )

Daher sind alle Versuche, den Mensch ein für alle Mal wesensartig zu bestimmen, falsch und verkürzt, handelt es sich um die Etiketten eines homo faber, homo sapiens, homo ludens oder auch homo negans, auch wenn einzelne von ihnen Fromm zufolge mal mehr und mal weniger das „Menschliche“ streifen (ebd.: 75f.). Was macht aber nun denn das „Mensch-Sein“ bei Fromm aus, mögen Ungeduldige fragen. Die Antwort ist typisch für Fromm und seine dialektische Denkweise, die sich sowohl einer jüdischen als auch der hegelianischen Tradition verdankt. Die erwähnten „Manifestationen des Menschseins“ (ebd.: 77; Hervorhebung i.O.), d.h. die verschiedenen „homini hominorum“, zeigten, „wie verschieden wir als Menschen sein können.“ (Ebd.; Hervorhebung i.O.) Wo ist der oft Fromm vorgeworfene „Naturalismus“ plötzlich hin? Konstatiert werden muss: es gibt ihn nicht; oder vielleicht doch? Er ist da, aber nicht einfach zu „haben“. Ausgangspunkt seines differenzierten „Menschenbildes“ ist die „Bedingung der menschlichen Existenz“ (ebd.: 78), deren theoretische und ethische Implikationen er in der „Revolution der Hoffnung“ (78-114) fortschreitend resümiert, aber bereits in „Furcht vor der Freiheit“ (182013 [1941]: 24-35) und vor allem in „Den Menschen verstehen“ (92011 [1947]: 39-48 u. 97-188; GA ) in Grundzügen entwickelt hat.2

Die zentrale sozialpsychologische Setzung von Erich Fromm besteht in der Anerkennung der Differenz des Menschen von seinen säugetierartigen „Vorfahren“: nämlich (i) ein „Bewußtsein seiner selbst“ (Fromm 1987: 78; GA IV: ) zu besitzen und (ii) nicht von Instinkten determiniert zu sein. Das erste impliziert die (sichere, gern aber verdrängte) Erkenntnis von der eigenen Endlichkeit und der Gewißheit des eigenen Todes, während das zweite Axiom den Menschen dazu drängt, sich einen „Rahmen der Orientierung“ (ebd: 79) suchen zu müssen, damit er/sie nicht wahnsinnig wird. Denn es gilt:

„Der unter den genannten Bedingungen geborene Mensch würde tatsächlich verrückt werden, wenn er kein Bezugssystem besäße, das es ihm erlaubt, sich irgendwie in der Welt zu Hause zu fühlen und dem Erlebnis äußerster Hilflosigkeit, Desorientierung und Entwurzelung zu entrinnen.“

Fromm 1987: 79 (GA IV: )

Dieser Rahmen der Orientierung menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns ist – um die Regulationstheorie zu zitieren – eine „historische Fundsache“ und gerade deswegen durch gesellschaftliche Umstände mitbestimmt, die Fromm im Konzept des „Gesellschaftscharakters“ zu fassen suchte (Fromm 182013 [1941]: 200-215 [GA :]; 92011 [1947]: 51-56 [GA :]). Hiermit schließt Fromm insbesondere an die Marx’schen Frühschriften und dessen Überzeugung an, dass der Mensch ein sozial bedürftiges Wesen ist (Marx‘ Intepretation des Aristotelischen ‚zoon politikon‘). Der Gesellschaftscharakter ist klassenspezifisch bestimmt, kann aber auch gesellschaftsweit gefasst werden (s.a. Bierhoff 1993: 149ff.) und umfasst jeweils „bestimmte Charakterelemente“, die Angehörige einer Klasse (oder sozialen Schicht oder auch ggf. eines sozialen Millieus, um neuere soziologische Konzepte zu verwenden) „gemeinsam haben“ (92011 [1947]: 55 [GA :]). Ihre Identifizierung ist letztlich eine empirische Frage, die Fromm einerseits in seiner psychotherapeutischen Praxis exploriert und dann andererseits in größeren Forschungsprojekten zu erforschen und zu reflektieren versuchte (Fromm 1980; Fromm/Maccoby 1969). Denken, Fühlen, Ideen und Werte des Einzelnen werden – so Fromm in der „Den Menschen verstehen“ vom Gesellschaftscharakter ebenso geprägt, wie dadurch „‚vernünftiges‘ Handeln“ (92011 [1947]: 55 [GA :]) ermöglicht wird. Doch der Individualcharakter ist nicht mit dem Gesellschaftscharakter identisch. Mehr noch: in der Weiterentwicklung psychoanalytischer Überlegungen und Konzeptionen von Sigmund Freud entwickelt Erich Fromm in „Den Menschen verstehen“ eine Typologie verschiedener Charakterorientierungen, die den Individualcharakter und letztlich auch den Gesellschaftscharakter einer Klasse oder einer ganzen Gesellschaft prägen können.3

In der „Revolution der Hoffnung“ thematisiert Fromm diese Charakterorientierungen4 nicht, sondern fordert bloß die Überwindung „primärer Bindungen“ des Einzelnen, also die Überwindung der Bindung „an die eigene Herkunft – an Blut, Boden, Sippe, Mutter und Vater oder in einer komplexeren Gesellschaft an seine Nation, seine Religion oder seine gesellschaftliche Klasse.“ (Fromm 1987: 84; GA IV: ) Die Überwindung primärer Bindung und die Entscheidung für die Alternative „produktiver Bezogenheit“ (Fromm 92011 [1947]: 71ff. [GA :]) zu seinen Mitmenschen ist keine rein pflichtethische Forderung, sondern liege in der Natur des Menschen begründet. Die Fromm’sche Argumentation ist hier keineswegs einfach, sondern setzt die Akzeptanz mancher unorthodoxer Gedanken voraus. Erstens setzt sich Fromm kritisch mit dem Beviorismus auseinander, der behauptet, der Mensch sei unendlich formbar und könne sich jeder gesellschaftlichen Situation anpassen. Wenn dies so sei, so Fromm, sei nicht erklärbar, warum es in der Geschichte permanent zu Revolutionen gekommen sei. Zweitens sei die Reduktion der Bedürfnisse des Menschen auf das (physische) „Überleben“, was der Behaviorismus unterstelle, unzulässig. In Bezug auf die Marx’schen Frühschriften erhebt Fromm die axiomatische Setzung, dass der Mensch auf die anderen Menschen bezogen sein wolle. Und zwar in vielfältiger Hinsicht seiner ganzen menschlichen Möglichkeiten – ein genuin humanistischer Gedanke. Leben ist mehr als „bloßes Überleben“ – daher der Impuls – so ließe sich spekulieren – für Revolutionen und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen:

„Die Dynamik der menschlichen Natur, insofern sie menschlich ist, wurzelt primär in diesem Bedürfnis des Menschen, seine Fähigkeiten, sich auf die Welt zu beziehen, auszudrücken, und nicht in seinem Bedürfnis, die Welt als Mittel zur Befriedigung seiner physiologischen Notwendigkeiten zu benutzen.“

Fromm 1987: 88 (GA IV: )

Das „freie und spontane Tätigsein“ (ebd.: 89) spanne zusammen mit dem Aspekten des Notwendigen eine „Polarität“ auf, die das Denken und Handeln des Menschen strukturiere. Doch diese werde nicht immer erkannt, da der Mensch in einer „gegebenen Gesellschaft“ (ebd.: 90) zunächst überleben müsse und „Dinge“ verdränge, „deren er sich bewußt wäre, wenn sein Bewußtsein nicht von anderen Modellen geprägt worden wäre.“ (Ebd.) Träume, Symbole und alle Arten von Künsten seien Möglichkeiten, sich dieses Verdrängten wieder bewusst zu werden. Worin bestehen nun die spezifisch menschlichen Erfahrungen (und damit auch Möglichkeiten), die eine Bewegung für einen „humanistischen Sozialismus“ stärken sollte und zugleich von ihnen bestärkt würde?

Anmerkungen

1 Die „reflexive Anthropologie“ (Bourdieu/Wacquant 2006) eines Pierre Bourdieu dürfte – nebenbei bemerkt – gar nicht so weit von der Frommschen Vision einer Wissenschaft vom Menschen entfernt sein. Der Habitusbegriff des französischen Soziologen ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Frommschen Konzept des Gesellschaftscharakters, wie neuere Forschung herausgefunden hat (Fromm-Forum XXXX).

2 Nebenbemerkung: wenn Fromm die zum Teil auch modifizierende Resümierung vorheriger theoretischer Bausteine gewissermaßen als unproduktive „Wiederholung“ und unter der Hand pejorativ gemeinte „irrende Selbstreferenz“ (so oft Friedman 2013: passim) immer wieder angelastet wird, wird gern mit doppeltem Maß gemessen. So ist doch z.B. die ziemliche ähnliche Praxis von Niklas Luhmann, seine Grundaxiome in jedem seiner Werke als Zeichen systematischen Fortschreibens seiner „Theorie“ reflektierend zusammenzufassen, als Ausdruck systematischen Theoretisierens anerkannt – von Axel Honneths oder auch Jürgen Habermas‘ analoger Methodologie, von Buch zu Buch schrittweise ihre theoretischen Erkenntnisse und Grundüberzeugungen auszubauen, ganz zu schweigen.

3 Die Unterscheidung von „Gesellschaftscharakter“ und „individuelle(m) Charakter“ bei Fromm ist nicht immer klar formuliert. Während der „Gesellschaftscharakter“ durch Assimilierung und Sozialisation (Fromm 92011 [1947]: 54f. [GA :]) die Individuen präge, bleibt eine Differenz nichtsdestotrotz bestehen. Der Individualcharakter geht im Gesellschaftscharakter – und auch anders herum – nicht auf: „Vom Gesellschafts-Charakter getrennt müssen wir jedoch den individuellen Charakter betrachten, durch den sich innerhalb des gleichen Kulturkreises [oder einer Klasse?, KM] ein Mensch vom anderen unterscheidet. Diese Unterschiede gehen zum Teil auf die Unterschiede der Persönlichkeiten der Eltern zurück, zum anderen auf die psychischen und materiellen Unterschiede der besonderen sozialen Umwelt, in der das Kind aufwächst. Aber sie sind auch durch konstitutionelle Unterschiede des einzelnen bedingt, insbesondere durch solche des Temperaments. Genetisch wird die Formung des individuellen Charakters durch die Wirkung bestimmt, welche die aus dem individuellen und kulturellen Bereich erwachsenen Lebenserfahrungen auf das Temperament und die physische Konstitution ausüben. Die gleiche Umwelt ist für zwei Menschen nie dieselbe, weil beide diese Umwelt durch ihre verschiedene Konstitution mehr oder minder verschieden erleben. Bloße Gewohnheiten des Denkens und Handelns, die nur eine Folge der menschlichen Anpassung an kulturelle Vorbilder sind, aber nicht im Charakter wurzeln, können sich unter dem Einfluss neuer gesellschaftlicher Vorbilder leicht verändern Wurzelt dagegen das Verhalten eines Menschen in seinem Charakter, so ist es mit Energie geladen und nur dann veränderlich, wenn ein Wandel in der Charakaterstruktur selbst stattfindet.“ (92011 [1947]: 56 [GA :])

4 Die (Gesellschafts-)Charakterorientierungen werden unterteilt in produktive und nicht-produktive Charakterorientierungen. Fromm unterscheidet in „Den Menschen verstehen“ als nicht-produktive Charakterorientierungen folgende vier (vgl. Fromm 92011 [1947]: 57ff. [GA : ]): (i) die rezeptive Orientierung, (ii) die ausbeuterische Orientierung, (iii) die hortende Orientierung und (iv) die Marketing-Orientierung. Er stellt in diesem frühen Schlüsselwerk zur Typologie von Charakterorientierungen diesen auch Merkmale einer produktiven Charakterorientierung entgegen, deren Kern er vor allem als „produktive Liebe“ und „produktives Denken“ umschreibt (ebd.: 71ff. [GA :]). Die analytische Bedeutung dieser Orientierungen für die theoretische Konstruktion von historisch-spezifischen Gesellschaftscharakteren einerseits und von Individualcharakteren andererseits bleibt etwas im Dunkeln, weil vor allem die nicht-produktiven Charakterorientierungen zum einen – bis auf das Konzept des „Marketing-Charakters“ – an psychoanalytischen, von Sigmund Freund entwickelten Konzepten angelehnt sind und daher im eigentlichen Sinne an die kapitalistische Marktgesellschaft gebunden sind, aber von Fromm gelegentlich als anthropologische „Konstanten“ angesehen werden – auch wenn er diese Begrifflichkeit selbst nicht nutzt. Zum anderen bleibt wegen dieser begriffsgeschichtlichen Anlehnung an die Ausgangskonzepte der auf das Individuum bezogenen Psychoanalye nach Freud das analytische „Fluiditätspotenzial“ zwischen den gesellschaftsweiten bzw. klassen- oder millieuspezifischen Ausprägungen von Charakterorientierungen (also von: Gesellschaftscharakteren) und den in der Psychotherapie zum Reflexionsgegenstand erhobenen Individualcharakteren konzeptionell unterentwickelt. Zum besseren Verständnis der analytischen und empirischen Bedeutung des Konzepts des Gesellschaftscharakters wird auf ihre theoretische Konstruktion und empirische Operationalisierung in den empirischen Studien zurückgegriffen werden müssen. Dies kann hier nicht geleistet werden (s.a. Bierhoff 1993: Teil III).