Kommerzialisierung oder Ökonomisierung?

Die an anderer Stelle erläuterte Arbeitsdefinition von Kommerzialisierung der Gesundheits- und Krankenversorgung bezieht sich – so könnte man einem möglichen Einwand entgegentreten – nicht nur auf die Länder des „Globalen Südens“. In einer nachfolgende Vergleichsstudie zu den nordeuropäischen staatlichen Gesundheitssystemen („Command and Control Health Care States“, der hier präferierten Typologie von Gesundheitssystemen zufolge) unterstreicht eine Forschungsgruppe um Meri Koivusalo und den britischen Gesundheitswissenschaftler Johnathan Tritter die Anwendbarkeit dieses Konzepts auf das englische, finnische und schwedische Gesundheitssystem und verankert es als (nicht-)intendierte Folge von Globalisierungsprozessen auf bestehende institutionelle und organisatorische Strukturen in diesen Ländern (Tritter et al. 2010: 28ff. und passim).

Im deutschen Kontext der Problematisierung, Erklärung und Präskription von wettbewerbsstaatlichen Strukturreformen im Sozial- und Gesundheitswesen taucht der Begriff der Kommerzialisierung hingegen kaum zur Beschreibung, Erklärung oder Kritik hiesiger Gesundheitsverhältnisse auf. Wesentlich prominenter ist der Begriff der Ökonomisierung des Gesundheitssystem, wobei jedoch zumeist ein kritischer Bezug auf die institutionellen und organisatorischen Veränderungen im deutschen Sozial- und Gesundheitswesen mitschwingt, sei es aus wissenschaftlicher (vgl. z.B. Simon 2001; Gerhardt/Kolb 2006; Slotala 2011; Zimmermann 2011; Manzei/Schmiede 2014; Müller/Mührel/Birgmeier 2016) oder aus gesundheits- bzw. professionspolitischer Perspektive (vgl. z.B. BÄK 2015; Klenk 2016). Selten wird der Begriff der Kommerzialisierung genutzt, um kritisch auf diese Prozesse Bezug zu nehmen (vgl. z.B. Deppe 2004, 2010). Und gelegentlich wird sogar der Begriff der Kommodifizierung, der Klassischen Politischen Ökonomie entlehnt, als begriffliche Konkretisierung des Ökonomisierungsbegriffes genutzt (vgl. v.a. Kühn 2004: 29ff.)

Im Folgenden wird also erstens zu klären sein, in welchen theoretischen Beziehungen und empirischen Kontexten die im kritischen Diskurs in den Gesundheitswissenschaften  in Anschlag gebrachten analytischen und normativen Begriffe, gerade auch in Bezug auf die vorstehend beschriebene Arbeitsdefinition der Kommerzialisierung von Macktinsoth/Koivusalo (2005) stehen. Zweitens werden soziologische Perspektiven auf die Ökonomisierung des Gesundheitswesens danach befragt, ob sie erweiterte Erkenntnisse zur Verfügung stellen können. In einem dritten argumentativen Schritt werde ich medizin- und wirtschaftsethische Positionen daraufhin untersuchen, welche Aspekte der Ökonomisierung der Gesundheit / des Gesundheitswesens unter ethischen Aspekten beachtet werden sollten. Viertens werde ich unter Heranziehung der verschiedenen disziplinären und theoretischen Zugäng zusammenfassend resümieren, auf welchen kritikwürdigen empirischen Zusammenhang die in kritischer Intention benutzten Begriffe eigentlich verweisen wollen. Warum ist Kommerzialisierung, Ökonomisierung oder eben auch Kommodifzierung ein Problem? Und für wen eigentlich? Abschließend schlage ich  eine theoretische Differenzierung und Integration dieser Begrifflichkeiten vor, der nicht nur die begriffliche Klarheit stärken soll, sondern auch beansprucht, unterschiedliche Dimensionen des vor unseren Augen ablaufenden institutionellen und organisatorischen Wandels im Sozial- und Gesundheitswesen exakter abzubilden. Kommerzialisierungsprozesse werden dabei von Ökonomisierungsprozessen abgegrenzt und ein integrierter theoretischer Interpretationsrahmen angeboten. Wissenschaftstheoretisch gesprochen, halte ich entgegen postmodernen bzw. poststrukturalistischen Theorien der unendlich variablen sozialen Wirklichkeitskonstruktion die (möglicherweise illusionäre) epistemologische Behauptung aufrecht, mittels integrierter theoretischer und empirischer Forschungsarbeit ‚der‘ sozialen Realität institutionellen und organisatorischen Wandels im Sozial- und Gesundheitswesen, emphatisch ausgedrückt: der ’sozialen Wahrheit‘ näher zu kommen (vgl. zum wissenschaftstheoretischen Paradigma des „kritischen Realismus“ v.a. Sayer 2010, 2011)