Theoretische Grundlagen der Krankenversorgung

Die multidisziplinären theoretische Grundlagen der Krankenversorgung sind so umfassend, das sie hier keinesfalls, auch nicht annäherungsweise dargestellt werden können. So lässt sich argumentieren, dass das gesamte verfügbare und wissenschaftlich belegbare medizinische Wissen (z.B. Buchta/Sönnichsen 2003) ebenso hierzu gehört wie die mannigfachen theoretischen Erkennnisse der psychosozialen Medizin (z.B. Strauß et al. 2004) in gleicher Weise relevant sind. Doch selbst diese schon sehr umfangreichen Wissensbestände, selbst wenn sie sich zum Teil überschneiden (wobei es sich bei beden im Kern um differente Perspektiven auf die Praxis der Krankenversorgung handelt), sind nicht erschöpfend. Unweigerlich kommen noch pflegewissenschaftliche Erkenntnisse (Schaeffer/Wingenfeld 2008) als auch originär gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse (Hurrelmann/Razum 2012) sowie Public-Health-Aspekte (Schwartz et al. 2012) in den Blick. Darüber hinaus gibt es noch den heterogenen Wissensbestand spezialisierter medizinischer (Facharztwissen) sowie nicht-medizinischer (z.B. Physiotherapie und Psychothereapie) und paramediziner Wissensbestände. Unnötig zu sagen, dass dies hier nicht dargestellt werden kann (–> siehe zum Umgang mit den wissenschaftlichen Grundlage und Problemen in der [psychosozialen] Medizin: Klemperer 2015: Kapitel 3).

Dennoch lässt sich vielleicht eine generelle Theorie der Krankenversorgung skizzieren, die bei aller Unterschiedlichkeit des praktischen und evidenzbasierten Interventionswissens weniger von den gesundheitsberufsbezogenen und wissenschaftlich-pluralen Evidenzen (die auch schon mal in concreto in Konkurrenz zueinander stehen können), sondern mehr von der Nutzerorientierung ausgeht und den/die Patient*en/in in den Mittelpunkt der analytischen Rekonstruktion des Krankenversorgungsgeschens stellt. Es geht also um die Art und Weise, wie der figurative Patient im Gesundheitssystem, genauer im Krankenversorgungssystem (um das es hier ja geht) zu verorten ist (vgl. Strauß et al. 2004: Kapitel 2.6; Schwartz et al. 2012: Kapitel 15). Die Leitfrage einer so verstandenen Theorie der Krankenversorgung ist daher: wie kommt der Patient bzw. der Kranke zum/zur Leistungserbringer/in, wie auch immer ihr ausgeübter Gesundheitsberuf ist? Wie bewegt sich der Patienten, in Abhängigkeit der je spezifischen Leiden bzw. Erkrankungen durch das System (Patientenkarriere)? Wie kennzeichnet sich die existentielle Situation des Patienten selbst aus?

Es ist bekannt, dass nur ein Teil solcher Menschen, die an sich eine als „unnormal“ bewertete Symptomatik feststellen, letztlich Kontakt zum professionellen Versorgungssystem aufnehmen. Diese Entscheidung, professionelle Hilfe nachzufragen, ist  geprägt von der Stärke der Symptomatik, der sozio-kulturellen Bewertung derselben und der Zugänglichkeit des Versorgungssystems als solchem (vgl. Schweiz). Kranke werden zum Patienten, indem sie diese „Grenze“ ihres Personalsystems überschreiten und in das (para-)medizinische Versorgungssystem eintreten. Dabei gilt, dass Patienten „bezogen auf Fragen der Diagnose und Therapie von Krankheiten“ (Borgetto/Stößel/von Troschke 2004a: 585) als medizinische Laien zu betrachten sind, die zunächst – je nach der Struktur und Entwicklung des sie umgehbenden sozio-kulturellen Systems – im sog. „Selbsthilfesystem“ oder auch „Laiensystem“ nach Abklärung ihrer subjektiven Befindlichkeiten suchen. Tritt der Patient in das Versorgungssystem ein – historisch und räumlich sehr unterschiedlich ausgestaltet -, wird er der Logik des Krankenversorgungssystems folgend einer „Patientenkarriere“ gleich durch die Subsysteme und Segmente desselben geleitet.

Der Verlauf der Karriere wird dabei sowohl von den Rahmenbedingungen (des Systems insgesamt und der einzelnen Einrichtungen), den jeweiligen Ärzten und Therapeuten, dem Krankheitsverhalten (insbesondere Inanspruchnahme und Compliance) der Patienten und dem Krankheitsgeschehen bestimmt. Eine Patientenkarriere wird durch die Aufgabe der Patienten- bzw. Krankenrolle beendet. Bei chronisch Kranken und Behinderten ist dies oftmals nicht möglich, d.h. die Patientenkarriere wird ein dauerhafter Teil des Lebenswegs bzw. der Biographie […]. Eine individuelle Patientenkarriere spiegelt immer gleichzeitig den Zustand eines Versorgungssystems (als soziale Struktur), die durch sie gegebenen Handlungsspielräume und -restriktionen und die von individuellen Faktoren (soziale Lage, persönliche Lebensumstände, psychische Dispositionen) beeinflusste Handlung (Inanspruchnahme) wider. (Borgetto/Stößel/von Troschke 2004b: 599).

Der Eintritt in das Curricula der Patientenkarrieren sowie insbesondere der Durchlauf durch die institutionell-organisatorischen Katakomben des Krankenversorgungssystems erfolgt im Zeitalter des Internets und des sich selbst als medizinisch kompetent sehenden Bildungsbürgertums (im weiteren Sinne) duchaus nicht mehr auschließlich „fremdgesteuert“. Die Bereitstellung allgemein verständlicher, möglichst evidenzbasierter Informationen über Krankheiten, deren Diagnose und Therapiemöglichkeiten ist tatsächlich keine reine Modeerscheinung, sondern transformiert das klassisch-hierarchische Arzt-Patienten-Verhältnis für Menschen mit einem hohen gesundheitlichen Bewältigungsstatus grundlegend. Allerdings stellt sich daher die Frage, ob diese Transformation in der Tat die asymmetrische Informationsbeziehung zwischen Ärztin und Patientin wirklich grundlegend reduzieren kann oder ob sich hier nicht eine verschäfte soziale Fragmentierung der Art und Weise der Inanspruchnahme von professionellen Versorgungsdienstleistungen offenbart und der ungleiche gesundheitliche Bewältigungsstauts reproduziert. Patienten – als „Nutzer auf der Mikroebene“ (Dierks/Schwartz 2012: 355ff.) – sind gerade im Hinblick auf chronisch-degenerative Erkankungen zweifellos als „Ko-Produzenten“ (ebd.: 355f.) ihrer Gesundheit zu betrachten wie sie auch zunehmend als „Partner im medizinischen Behandlungsprozess“ (ebd.: 356f.) betrachtet werden. Doch stellt sich hier die Frage, ob diese – ja auch normativ geprägten Leitbilder einer neuen Arzt-Patienten-Beziehung – von allen Patienten gelebt werden können. Das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung (engl.: shared decision making, vgl. Klemperer 2015: 145f.) ist nicht nur in seiner Anwendbarkeit funktional begrenzt, da es Notsitutionen geben kann, in denen ein „hilfreicher Paternalismus“ sinnvoller erscheint (ebd.: 147f.), sondern dürfte auch sozialkulturell und sozioökonomische höchst voraussetzungsvoll sein. Aus der sozialepidemiologischen Forschung ist bekannt, dass das höhere Erkrankungsrisiko von Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten (nicht nur die Unterschicht!) mit einer geringen Ausstattung krankheitsbezogener Bewältigungsressourcen einhergeht.

Eine entsprechende gegensteuernde „Klassenmedizin“ im Sinne des sozial engagierten Arztes (Kalvelage 2014), der dem altehrwürdigen Gesetz des „Inverse Care Law“ (Tudor-Hart 1994), welches die quasi-gesetzesförmige Beobachtung auf den Punkt bringt, dass diejenigen Bevölkerungsgruppen, die am ehesten von einer guten Krankenversorgung profitieren würden, am wenigsten diese Leistungen in Anspruch nehmen, entgegenzuwirken versucht, sieht sich vor das Problem der zunehmenden Marktorientierung im Gesundheitswesen gestellt. Die Neuerfindung des Patienten als Kunden (Tritter et al. 2010; Dierks/Schwartz 2012: 357f.) bleibt solange ein institutionelles und organisatorisches Hindernis für die Universalisierung einer partizipatorischen und partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung, wie seiner sozial selektierenden Kraft nicht entgegengewirkt wird. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Problems ist  die Art und Weise, welche ökonomischen Anreizstrukturen den Leistung erbringenden und Leistung nachfragenden Akteuren im Krankenversorgungssystem gesetzt werden. Die zunehmende Markt- und Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen, die zentraler Bestandteil der hegemonialen Strategie der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik ist, hat einen potentiell katastrophalen Effekt auf die Idee der sozialen Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, denn unter Bedingungen marktförmiger Vergütungssysteme zählen nur noch jene Patienten ökonomisch, die einen finanziellen Überschuss produzieren. Teure, aufwändige und „nervige“ Patientinnen und Patienten werden unter den Bedingungen wettbewerbsbasierter Kostendämpfungspolitik – allen rhetorischen und ideologischen Phrasen, das der Patient im Mittelpunkt des Versorgungsgeschens stehe, zum Trotz – zu einem betriebswirtschaftlichen Risiko; und das natürlich je mehr sich einzelne Einrichtungen dem strategischen Prinzip der Kommerzialisierung erster oder zweiter Ordnung verschrieben haben.

Das Kernproblem des Wettbewerbs in der Krankenversorgung besteht folglich darin, „daß es keinen Wettbewerb um Versicherte und Patienten schlechthin gibt, sondern immer nur um erwünschte Versicherte und Patienten.“ (Kühn 1995: 27; Hervorhebung i.O.) Wie alles in einem Marktsystem hat auch dieses Problem zwei Seiten. Einerseits werden Patienten angebotstheoretisch zum Problem, wenn die Kosten ihrer Behandlung nicht dem Erlös entsprechen, den sie betriebswirtschaftlich generieren. Nachfragetheoretisch sind erwünschte Patienten solche, die einfach bzw. kooperativ sind und sich – im Sinne der Ko-Produktion und Compliance – nicht nur zu ihrem eigenen Nutzen, sondern auch im Sinne des behandelten Leistungserbringers nutzbringend selbst steuern bzw. heilen. Weder im einen noch im anderen Fall dürfte es sich jedoch in großem Maße um solche Patientinnen und Patienten handeln, die – im Sinne des obenen zitierten Inverse Case Law (Tudor-Hart 1994) oder der (emanzipatorisch-sozial gemeinten) Klassenmedizin (Kalvelage 2014) – von evidenzbasierten medizinischen Dienstleistungen und Gütern am meisten profitieren würden.

Aber zur zynischen Häme der sozialen besser gestellten Patientinn*en gibt es keinen Grund. Denn ihre Attraktivität bei einkommensoptimierenden Ärztinnen und Krankenhäusern wie auch vielen anderen Gesundheitsberufen zahlen diese Patienten mit dem Preis der Aufrichtigkeit. Auch sie werden – genauso wie ihre sozial niedriger gestellten Mitleidenden – nur als „Mittel zum Zweck“ betrachtet. Ihre höhere monetäre Zahlungsfähigkeit übersetzt sich im gespaltenen doppelten Versicherungssystem von GKV und PKV in Deutschland vor allem in eine schnellere Zugänglichkeit. Das kann unter Umständen lebenswichtig sein. Allerdings werden sie von besonders gewinnorientierten Leistungserbringern auch als betriebswirtschaftliche „Cash-Cow“ betrachtet. Der Verkauf medizinisch unnötiger Diagnosen und Therapien an privat versicherte Patientinnen und Patienten ist Legion, nicht nur in Deutschland. Die oftmals gehörte, meist in Anekdoten gefasste, steigende Mündigkeit der Patienten hat wohl ihre Grenzen. Sie ist –  undifferenziert dargelegt – ein geschäftssteigernder Mythos verkauftsinteressierter Marketingexperten der Gesundheitsbranche. Kritische Patienten brauchen neben kulturellem und sozialem Kapital vor allem (selbst-)kritische Ärtzinnen, Ärzte und Pfleger*innen, um in einem zunehmend kommerzialisierten Versorgungssystem überleben zu können.

Dabei gehört es zu einer der vielen Paradoxien einer kommerzialisierten Krankenversorgung, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten – unter Zeitdruck – gerne als „Kunden“ betrachten, vor allem, wenn sie diesen etwas „verkaufen“ können. Das können Medikamente aber auch sonstige Leistungen sein. Die „Zufriedenheit“ des Patienten wird zum falschen Maßstab erfolgreichen ärztlichen Handelns; die oftmals dann noch durch besondere Leistung „geadelt“ wird, die öffentliche Kostenträger aus meist guten Gründen nicht zahlen wollen. Die per definitionem verletzten und verängstigten Patienten, die – leider – diese  individuellen Gesundheitseistungen (IGeL) privat zahlen müssen, sind dann sogar noch dankbar. Was im diesem Prozess der manifesten Prozess markt- und wettbewerbsbedingter Entsolidarisierung auf der Strecke bleibt, ist freilich das Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung (für alle). Insofern ist nicht nur die Untersuchung der Finanzierungsysteme (Governance of Consumption I), sondern auch der Vergütungssysteme der Krankenversorgung (Governance of Consumption II) außerordentlich wichtig, um diesen Entsolidarisierungsprozess zu verstehen. Die Analyse der ökonomischen Anreizsstrukturen, die die Leistungserbringer in ihrem Verhalten lenken sollen, müssen zudem noch durch die Analye der normativen Anforderungen ihrer Qualitätssicherung und der öffentlichen Sicherung der Versorgungskapazitäten (Governance of Provision) sowie der staatlichen Steuerung des medizinisch-technologischen Komplexes (Governance of Technology) ergänzt werden. Dabei treten widersprüchliche Anforderungen an den Health Care State zutage, der in Zeiten globalen Standortwettbewerbs mittels der Strategie der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik die sprichwörtliche Quadratur des Kreises versucht, indem er unter neoliberalen Bedingungen permanenter Austerität sowohl die Aufrechterhaltung eines solidarisch finanzierten Krankenversorgungssystems verspricht, welches jedoch keineswegs eine Wachstumsbremse für den – in dieser Perspektive dringend nötigen – Prozess medizinisch-technologischer Innovationen darstellen soll. Skepsis gegenüber dem Erfolg dieser strategischen Quadratur des Kreises – gerade auch im Hinblick auf die desintegrierenden Effekte der derzeitigen Mehrfach-Krise – kann wohl kaum leicht vom Tisch gewischt werden. Noch immer gilt die Einschätzung des Doyens der kritischen Medizinsoziologie, Prof. Dr. Hans-Ulrich Deppe, der bereits zum Ende des rot-grünen Experiments (2005: 208; Hervorhebung: i.O.) auf die Gefahr eines „sozialen Desasters“ hinwies:

Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass immer weiter vorangetriebener wirtschaftlicher Wettbewerb im Gesundheitswesen den Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital und Arbeit über das Recht auf Gesundheit bzw. körperliche Unversehrtheit und schließlich auch die Würde des Menschen in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat verändert und erodiert. Es kommt zu einer Kommerzialisierung von Dimensionen des menschlichen Zusammenlebens, die dessen humanen, kulturellen und sozialen Charakter zerstört. Die schamlose Instrumentalisierung von sozialen Grundwerten für eine Verschleierung partikularer Interessen verleitet zu der falschen Annahme, dass sich der Sinn von Menschenrechten in ihrem Missbrauch erschöpfe. Menschenrechte lassen sich aber nicht kommerzialisieren, sie lassen sich auch nicht vermarkten, ohne dass sie daran zerbrechen.