Kommerzialisierung: eine Arbeitsdefinition

Was ist bzw. heißt Kommerzialisierung im gesundheitlichen Kontext? Was ist der Unterschied zu Vermarktlichungs-, Privatisierungs- und Ökonomisierungsprozessen? Die britische Gesundheitsökonomin Maureen Mackintosh und die finnische Gesundheitspolitikanalystin Meri Koivusalo haben im Jahr 2005 in einem Buch über Kommerzialisierungsprozesse der Gesundheits- und Krankenversorgung in Ländern des Globalen Südens („Commercialization of Health Care. Global and Local Dynamics and Policiy Responses“, Palgrave/Macmillan, London, 2005, S. 3f) folgenden Definitionsvorschlag unterbreitet:

‚[Commercialized health care means, KM] the provision of health care services through market relationships to those able to pay; investment in, and production of, those services, and of inputs to them, for cash income or profit, including private contracting and supply to publicly financed health care; and health care finance derived from individual payment and private insurance. This concept of commercialization is thus wider than the ‚private sector‘ of provision and finance, encompassing, for example, commercial behavior by publicly owned bodies. It is also broader than ‚liberalization‘ and ‚marketization‘, each of which refers to a shift to market-led provision from state-led or state-constrained systems, and broader than ‚privatization‘, which refers to the sale or transfer of state-owned assets to private hands.“

Bezugnehmend auf diese Definition können Kommerzialisierungsprozesse im Sozial- und Gesundheitswesen auf drei verschiedene Weisen verlaufen. Mackintosh und Koivusalo verweisen in diesem Zitat darauf, dass von Kommerzialisierungsprozessen erstens auszugehen sei, wenn Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen (und -güter) vermittels Marktbeziehungen jenen sozialen Gruppen bereitgestellt werden, die aufgrund ihrer Zahlungsfähigkeitin der Lage sind, sie aus ihrem verfügbaren Einkommen zu bezahlen (‚able to pay‘). Diese direkten Geldbeziehungen zwischen (zahlungskräftigen) Kunden (d.h. Patient*inn*en) und Produzentinnen von Gesundheitsleistungen implizieren freie Märkte und freie Marktpreisbildung, denn in der Regel ist in den meisten OECD-Staaten das Gros der Gesundheitsleistungen öffentlich reguliert und wird durch Third-Party-Payer  finanziert. Hierdurch  orientieren sie sich zu einem großen Teil an dem Bedarfsprinzip und explizit nicht an dem Zahlungsfähigkeitsprinzip. Dieser Form der Kommerzialisierung verläuft somit im Kern außerhalb jeder Third-Party-Payer-Regulierung. Obwohl es einen absout freien Markt nur im realitätsfernen neoklassischen Marktmodell gibt, kommen die weitgehend über die monetäre Potenz vermittelten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) im deutschen Gesundheitssystem doch dieser theoretischen Utopie noch am nächsten. Doch selbst sie existieren nicht in einem regulativen Vakuum, auch wenn sie diesem gelegentlich sehr nahe kommen, insbesondere weil und wenn sie von Ärztinnen, Ärzten und anderen Gesundheitsberufen entgegen deren eigene ethischen Grundsätzen und regulativen Anforderungen dem ‚Kunden Patient‘ faktisch ‚verkauft‘, vulgo: ‚aufgeschwatzt‘ werden.

Zweitens kann dieser Arbeitsdefinition zufolge von Kommerzialisierung  gesprochen werden, wenn besonders solche (Dienst-)Leistungen bzw. notwendige Vorprodukte angeboten werden und weitgehend bzw. prioritär in diese investiert wird, die einen Gewinn (‚profit‘) oder Finanzüberschuss (‚cash income‘) für den Anbieter der Leistung hervorbringen. Diese Aussage gilt den beiden Wissenschaftlerinnen zufolge nicht nur für solche Vertragsbeziehungen, die auf privaten Verträgen in privatwirtschaftlich organisierten Versicherungssystemen beruhen (wie zwischen Ärztinnen und Patientinnen generell), sondern eben auch in öffentlich finanzierten Gesundheitssystemen wie in Finnland, England, aber eben auch im auf Sozialversicherungen beruhenden deutschen Gesundheitswesen. Kommerzialisierungsprozesse können folglich auch in hochgradig öffentlich bzw. staatlich regulierten Systemen stattfinden. Entscheidend ist, dass die Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen und -gütern einen Gewinn / finanziellen Überschuss erzielen können und diesen aufgrund organisatorischer Zielsetzungen auch zu erreichen versuchen. Dies impliziert, dass sich auch öffentliche Leistungerbringer zunehmend wie privatwirtschaftliche Akteure verhalten (sollen). Diese neuartige gesundheitspolitische Zielsetzung ist Kern der jüngsten institutionellen und organisatorischen Reformen in zahlreichen Gesundheitssystemen der OECD-Welt. Das rationale Gewinn- bzw. Kostenkalkül soll vermittels Managed Competition / New Public Management, der Einrichtung von Quasi-Märkten und unterstützenden finanziellen Anreizsystemen (Vergütungspauschalen) zu qualitativ besseren und kostenbezogen effizienteren Versorgungsstrukturen führen als vor dem gesundheitspolitischen Paradigmenwandel (–> wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik). Kommerzialisierungsprozesse können dieser Definition zufolge sogar  selbst dort induziert werden, wo kein einziges gewinnorientiertes Gesundheitsunternehmen zugelassen ist.

Drittens verweisen Mackintosh und Koivusalo auf Kommerzialisierungsprozesse, wenn die Finanzierung von Gesundheitsleistungen vermittels individueller Zahlung (‚individual payment‘) oder privater Krankenversicherung (‚privat insurance‘) erfolgt. Obwohl die individuelle Zahlung scheinbar auf die oben bereits genannte „Zahlungsfähigkeit“ verweist, ist sie mit dem ersten Kommerzialisierungspfad nicht identisch. Denn individuelle Zahlungen erfassen darauber hinausgehend auch hoher Zuzahlungen, selbst zu zahlende Bestandteile des gesetzlichen  Leistungskatalogs und Selbstbehalte. Private Krankenversicherungssysteme sind ebenso grundsätzlich gewinnorientiert und zählen den Autorinnen zufolge ebenfalls zu Kommerzialisierungsmerkmalen. Doch selbst auf Sozialversicherungssystemen basierende Systeme der  Gesundheits- und Krankenversorgung wie in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden (wobei in den Niederlanden sogar im Jahr 2006 die gesetzlichen Krankenkassen privatisiert wurden) können einen Quelle von dieser dritten Art von Kommerzialisierungsprozessen sein, weil und wenn sich ihre Kostensenkungsinteressen entweder in eigene Kommerzialisierungsprozesse übersetzen oder indirekt die Orientierung an Kommerzialisierungsstrategien bei involvierten Leistungserbringern begünstigen.

Im nächsten Abschnitt wird es wichtig sein zu klären, inwieweit der Begriff der Kommerzialisierung im Hinblick auf andere alternative Begriffe zur Beschreibung des institutionellen und organisatorischen Wandels im deutschen Gesundheitssystem (Privatisierung, Ökonomisierung, Vermarktlichung) trennscharf ist  und einen innovativen analytischen Beitrag zum Verständnis dieser vielfach untersuchten und beschriebenen Prozesse darstellt.