Versorgungstrukturen I: Ambulante und (teil-)stationäre Krankenversorgung

Aus einer gesundheitswissenschaftlicher Perspektive ist der funktionale Aspekt der Kuration von der institutionell-organisatorischen Verfasstheit der Krankenversorgung zu unterscheiden. Im deutschen Gesundheitssystem – wie auch in anderen Gesundheitssystemen der OECD-Welt – umfassen die Ausgaben für kurative Diagnostiken und therapeutische Interventionen den größten Teil der Ausgaben für Gesundheitsausgaben.  Das Ziel der Krankenversorgung besteht darin, akut und chronisch erkrankte Menschen zu heilen bzw.  unter Rückgriff auf vor allem biomedizinische Erkenntnisse, aber auch – je nach Differenzierungsgrad – alternativmedizinische (Heimittel wie z.B. Physiotherapie) und paramedizinische Konzepte (wie z.B. Homöopathie) vor einem vorzeitigen Tod zu bewahren. Die Übergänge zu rehabilitativen und (langzeit-)pflegerischen Versorgungsstrukturen sind dabei nicht nur fließend, sondern stellen eine genuine gesundheitspolitische Aufgabe dar, die unter dem Etikett „Schnittstellenmanagement“ oder „sektorielles Management“ diskutiert und vermittels des Instrumentariums des „Case Management“ idealerweise patientenzentriert zu implementieren ist (vgl. grundlegend: Schwartz et al. 2012: Kapitel 14).

Unter epidemiologischen Gesichtspunkten liegt der entscheidende Grund für die – schon lange Zeit diskutierte – Bedeutungszunahme integrierter Versorgungsabläufe in dem – mittlerweile schon als quasi-säkular zu bezeichnenden – epidemiologischen Übergang in Richtung auf die (quantitative und qualitative) Dominanz chronisch-degenerativer Erkrankungen in der OECD-Welt (siehe die jährlichen Gesundheitsberichte der OECD, der WHO und des Robert-Koch-Instituts). Der in der letzten drei Generationen zu beobachtende Wandel des Morbiditätsspektrums und der Mortalitätsursachen von Infektionskrankheiten zu chronisch-degenerativen Erkrankungen einerseits und im Hinblick auf psychogene Störungen der strukturell-konstruktivistischen Rekonzeptualisierung psychopathologischer Prozesse von Neurosen zu Depressionen andererseits stellt die verfasste Gesundheitspolitik vor neue Herausforderungen (vgl. Detels/Breslow 2005; Ehrenberg 2006). Hinsichtlich der ätiologischen Hegemonie auf dem Feld der Krankenversorgung lässt sich dabei immer noch eine starke Orientierung an biomedizinischen Krankheits- und Gesundheitskonzepten feststellen, die mit einer entsprechend starken Stellung des medizinischen Personals (Ärztinnen und Ärzte, aber – vermittels über die im Ausbildungscurriculum kodifizierte Krankheitslehre – auch Krankenpfleger*innen) korreliert (vgl. Trautner 2012; Klemperer 2015: 47ff.). In diesem Zusammenhang sollte dabei  die (säkulare) Definitionsmacht der Medizin – versinnbildlicht in der Metapher des „Gott in Weiß“ – über (sozial normierte) Krankheits- und Gesundheitszustände nicht unterwähnt bleiben, die neben wünschenswerten diagnostischen und therapeutischen Forschritten jedoch auch zu gesellschaftlichen Medikalisierungsprozessen, profitträchtigem Disease Mongering und manifesten Kommerzialisierungsprozessen beitragen kann (vgl. Conrad/Schneider 1992; Moynihan/Cassels 2005; Conrad 2007; Ilich 2007; Deppe 2010; Maio 2014).

Im Folgenden wird hier weniger von den theoretischen Grundlagen der Krankenversorgung – für sich genommen ein höchst differenziertes und komplexes Feld – und auch nicht von potentiellen kritischen Prozessen der Medikalisierung oder Kommerzialisierung die Rede sein, die zu einer erheblichen Infragestellung des „ärztlichen Blickes“ (Foucault 1986) und der radikalen Absage an die „Nemesis der Medizin“ (Illich 2007) führen könnten (zu Fragen der Kommerzialisierung sei auf eine andere Seite dieses Internetprojektes verwiesen). Vielmehr geht es hier um die institutionelle und organisatorische Verknüpfung der Krankenversorgung im Angesicht der Behandlung und Bewältigung vor allem chronisch-degenerativer Erkrankungen, ohne jedoch den Aspekt des akuten Erkrankungsfalles, der sich keineswegs trennscharf von der ersten Kategorie unterscheiden lässt, zu vernachlässigen. Im Fokus dieses Abschnitts stehen damit (i) das institutionelle und organisatorische Regime der ambulanten Krankenversorgung, (ii) die institutionelle und organisatorische Verfasstheit der (teil-)stationären Krankenversorgung sowie (iii) das institutionelle und organisatorische Design des wachsende Feldes sogenannter sektorenübergreifender bzw. transmuraler Diagnose-, Behandlungs- und Versorgungsketten im deutschen Gesundheitssystem. Das übergreifende Systematisierungskriterium zur Beschreibung der institutionell-organisatorischen Struktur der involiverten Versorgungsbereiche stellen die an anderer Stelle (hier) skizzierten Governance-Bereiche des Health Care State-Modells dar: Governance of Consumption, Governance of Provision, Governance of Technology, Governance of Public Health.