Erich Fromm (1971 [1968]): Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik, Stuttgart: dtv/Klett-Cotta. 194 Seiten.

Warum, so die wahrscheinliche Frage geneigter Leser:innen, eine Rezension eines „so alten“ Buches? Die Antwort ist einfach und erwartbar. Weil es immer noch aktuell ist, trotz seines Alters. Dies ist zumindest die Überzeugung des Reviewers. Zugegeben werden muss natürlich schon, dass Vieles „überholt“ ist, die Welt hat sich weiter gedreht. Doch was sind gut 50 Jahre im Verhältnis zu 2000 Jahren nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung? Grob gerechnet, zwei Generationen. Und: wer nicht aus der Geschichte lernen will, ist verdammt, sie zu wiederholen, heißt es. Wenn auch dieser Aphorismus natürlich etwas arrogant daherkommt, ist die Vorstellung, dass Überlegungen des Sozialphilosophen und Psychoanalytikers zur „Humanisierung“ der Technik inmitten des Umbruch des „globalen Fordismus“ (Lipietz 1992) heute nicht mehr aktuell sind, weil die Technikformen oder „die Welt“ sich geändert haben mögen, etwas sehr oberflächlich. Nicht jede neue Mode erfindet das Rad neu. Nur weil sie für die Individuen einer neuen Generation „alt“ erscheinen, sind Überlegungen und Phänomene scheinbar „alter“ Text und aus „lange Zeit zurückliegenden“ Epochen nicht pauschal hinfällig. Bei aller permanenter Veränderung in spätmodernen Gesellschaften zeugen solche Gedanken von der Verwechslung kollektiver und individueller Bewusstwerdungsprozesse. Und: Ungleichzeitigkeiten gehören zum Wesen der kapitalistisch geprägten Gesellschaften der Spätmoderne wie der Sprühnebel zu den herabstürzenden Wassermassen der Niagara-Fälle. Und selbst wenn zahlreiche Details „veraltet“ sein mögen: ein altes Buch kann neue Sichtweisen auf die heutigen Dinge erwecken, insbesondere dann, wenn der historische Zeitpfeil linearer Existenz von damals bis heute in eine ganz andere Richtung geflogen ist. Kehren wir also zu dem alten Buch zurück und fragen: was kann es uns heute noch sagen? Hierzu wird dieser Review nicht nur die Argumentation ausführlich, aber natürlich selektiv rekonstruieren, sondern mittels reflektierter Einwürfe und Kommentare versuchen, dem Text sowohl seine potenzielle Aktualität zu entlocken als auch ihn darauf hin zu befragen, was er möglicherweise „ausgelöst“ hat oder anders gesagt: wie sein Verhältnis zu jenem historischen Zeitpfeil gestaltet ist, der seitdem zwei Generationen, zahllose Staaten und singuläre Weltreiche von gestern nach heute gebracht hat. Also: los geht’s!

Auf der Messerspitze einer dehumanisierenden Zeitenwende: Mikroelektronik meets Massenproduktion und Bürokratie

Dass das Frommsche Buch keineswegs völlig veraltet ist, zeigt sich schon in der Paradoxie der oben stehenden Abschnittsüberschrift, die jedoch nur jener sozialwissenschaftlich Gebildeten ins Auge springt, die schon mal etwas von Fordismus und Postfordismus gehört hat (wer diese Begriffe genauer verstehen möchte, sei hierauf verwiesen). Denn der Computer gilt in diesem sozialwissenschaftlichen Narrativ als Inkarnation des Postfordismus, nicht des Fordismus, dessen Insignien Massenproduktion, Automobile und Bürokratie sind. Fromms Buch steht also an der Schwelle einer Zeitenwende von Fordismus zum Postfordismus: quod erat demonstrandum. Sein Buch ist entsprechend aufgebaut und fokussiert auf die Gefährdungen einer dehumanisierenden Technik, die er nicht nur im Computer, noch nicht einmal zentral darin, sondern vor allmen in der Nutzung des Computers, den diese Technik einbettenden „Institutionen und Methoden“ (Fromm 1987: 115; GA IV) der zeitgenössischen Gesellschaften erkennt. Das Buch besteht, den Problemaufriss und das Fazit nicht mitgezählt, aus vier zentralen Argumentationsschritten und folglich auch Kapiteln. Der Ausgangspunkt der Studie ist die Auffassung, dass insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen Regionen der „ganzen Welt“ (ebd.: 19; GA IV: ) eine wachsende Polarisierung zwischen den Mächten des „Leblosen“ einerseits und vielfältigen sozialen Kräften, die von „einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, nach neuen Einstellungen“ (ebd.) getrieben würden, andererseits zu beobachten sei. Die Rede ist hier unverkennbar von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Protestbewegungen der sog. 1968er-Bewegung, die Fromm insgesamt – und vielleicht an dieser Stelle etwas zu undifferenziert – als „dem Leben“ und „der Liebe“ zugewandt sieht (siehe dazu: Deppe 2018: 17-86).

Im zweiten Kapitel entwickelt Fromm sein Konzept der „Hoffnung“, dass er von passiven und theologischen Konzepten abgrenzt und in starke Beziehung setzt zum ähnlich aufgebauten „Prinzip Hoffnung“ des marxistischen Philosophen Ernst Bloch (Bloch XXX; Fromm 1987: 34, FN 8; GA IV: ). Im dritten Kapitel setzt sich Fromm zunächst mit technikkritischen und dystopischen, so würde man heute dies wohl nennen, Theorien bzw. Vorhersagen auseinander (z.B. Mumfords „Megamaschine“ oder Brezinskis „technotrone Gesellschaft“) , die in der unlebendigen Verquickung von Bürokratie, Kybernetik und Kapitalismus drohten. Einen Schritt zurückgehend fokussiert der weitere Verlauf des Kapitels auf die kritische Diskussion der Prinzipien der „gegenwärtige[n] technologische[n] Gesellschaft“ (Fromm 1987: 47ff.; GA IV: ) und ihrer „Wirkung auf den Menschen“ (ebd.: 54ff.; GA IV: ) sowie der janusköpfigen Befriedigung des „Bedürfnisses nach Gewissheit“ (ebd.: 63ff.; GA IV: ) durch die identifizierten „Prinzipien“. Bevor Fromm im fünften Kapitel seine Vision notwendiger Schritte „zu einer Humanisierung der technologischen Gesellschaft“ (ebd: 115ff.; GA IV: ) beschreibt, rekapituliert er im vierten Kapitel die anthropologischen Grundlagen des „Menschseins“, also jene universellen Anlagen und unterstellte „Natur“ bzw. der „grundlegenden Bedürfnisse“ des Menschen, die er bereits in vorangegangenen Veröffentlichtungen beschrieben hatte. Diese Ausarbeitung grundlegender Merkmale des Menschlichen, die Fromm und ähnlich inspirierten Autor:innen immer wieder als „Naturalisierung“ des Sozialen bzw. des Menschen vorgeworfen wurde, ist zweifellos eine normative Setzung, die jedoch Fromm nicht nur in der „Furcht vor der Freiheit“, sondern auch in „Psychoanalye und Ethik“ und später in „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ mit historischen und empirischen Forschungsergebnissen zu stützen versuchte. Insofern ist der Vorwurf des „Naturalismus“ an Fromms Anthropologie m.E. schlecht begründet, wenn nicht sogar mitunter böswillig und politisch motiviert.1

Im fünften Kapitel diskutiert Fromm zentrale Ansatzpunkte und Prinzipien, wie eine humane Gesellschaft, eine „Humanisierung der Technik“ erreicht werden kann. Im Rückblick auf die von Fromm empfohlenen Strategien einer „humanistischen Planung“ (Fromm 1987: 117ff.; GA IV: ), einer „Aktivierung und Freisetzung von Energien“ (ebd.: 121ff; GA IV: ) und eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (ebd.: 139ff.; GA IV: ) lässt sich der Eindruck nicht abwehren, dass manche Elemente im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus Einfluss gefunden haben in so manche politische, ökonomische oder kulturelle Reformstrategie(n). Insbesondere die im Buch vorzufindende „Bürokratie“-Kritik, seine kritische Betrachtung von „Passivierungs“-Tendenzen in fordistischen Großorganisationen und auch die Vorschläge zu ihrer Überwindung, partizipatorische Verwaltungsplanung hier, humanistisches Management dort, mag heutige Zeitgenoss:innen an seit den 1980er Jahren installlierte „Reformmaßnahmen“ der Verwaltungsmodernisierung und des Unternehmensmanagements erinnern. New Public Management (Pollitt/Bouckaert 2011) und Lean Management (oder: Total Quality Management; Bröckling 2005) sind nicht nur die herausgehobensten „Management“-Konzepte einer sich modernisierenden Bürokratie im Postfordismus, sie haben tatsächlich auch viele Elemente dessen übernommen, was in der Fromm’schen Diktion als „Humanisierung“ deklariert worden wäre. Und auch das Element eines „humanisierte[n] Konsum[s]“ (Fromm 1987: 139ff; GA IV: ) spiegelt sich im Aufstieg des „kritischen Konsumenten“ in den Staaten und Gesellschaften des Postfordismus seit den 1980er Jahren. Und dennoch: die Fromm’sche Vision einer „Revolution der Hoffnung“ bricht sich mit diesen Ansatzpunkten, denn Fromm hält im Gegensatz zu vielen Strateg(i)en der „Humanisierung“ der Bürokratie und des Management an zentralen Eckpunkten einer Kapitalismuskritik und der notwendigen Einführung sozialistischer Planungselemente und von dezentralen Demokratisierungsprinzipien fest (Fromm 1987: 120f. GA IV: ; und insbesondere: Fromm 62009: 229ff.; GA IV: ). Er steht folglich in einer Tradition des humanistischen bzw. kommunitären Sozialismus (Fromm 1965), die – nach dem Niedergang des „Realsozialismus“ und der sich lange Zeit neoliberalisierenden „Sozialdemokratie“ immer noch – oder auch: wieder – hochaktuell ist (Honneth 2017; Dörre 2021; Deppe 2022). Gerade wegen dieser offensichtlichen bzw. – aus skeptischerer Perspektive – möglichen Aktualität der Fromm’schen Überlegungen, soll im Folgenden die Argumentation aus der „Revolution der Hoffnung“ im (subjektiven) Detail und mit kritisch-reflexiver Emphase rekonstruiert und im Hinblick auf ihre heutige Aktualität erörtert werden. Ich werde dazu allerdings die Gliederung des Buches „umwerfen“ und beginne mit einer Erörterung der Begriffe der „Hoffnung“ und der Frage nach dem „Menschsein“, bevor ich die in die Diskussion über die konstatierte Gesellschaftskrise der 1960er Jahre und ihre Überwindung, die Fromm für möglich erachtete, einsteige.

Wie kann der Mensch hoffen? Analytische Bedeutung und normative Prämissen der Hoffnung und des Mensch-Seins in der Fromm’schen Sozialtheorie

Obwohl die von Fromm eingeforderte „Revolution der Hoffnung“ durchaus einen gewissen utopischen Charakter hat, ließe sich unter Bezugnahme auf Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ diese Hoffnung sehr wohl auf eine reale Grundlage stellen, also von einer „Realutopie“ sprechen. Die realutopische Hoffnung ist daher nicht idealistisch gemeint und damit im schlechten Sinne „unrealistisch“, wie viele Kritiker:innen der zweifellos empathischen Aufforderung einer „Revolution der Hoffnung“ durch Fromm unterstellt haben und – bei Neulektüre – vermutlich unterstellen würden. Der von Fromm erörterte Begriff der „Hoffnung“ und seine – gewissermaßen – anthropologisch-sozialpsychologische Begründung menschlicher Bedürfnisse aus der „Bedingung der menschlichen Existenz“ (Fromm 1987: 76ff; GA IV: ) heraus sind analytische Ansatzpunkte seiner Sozialphilosophie, auf die sich eine „Revolution der Hoffnung“ stützen kann. Dabei sind die normativen Prämissen menschlicher Existenz keineswegs eindimensional, sondern zeigen die Eigenschaft der „Wahlalternative“: der Mensch ist weder gut noch böse von Natur aus, sondern zu beiden Veranlagungen seines Handelns in der Lage. Die Strukturen der Gesellschaft mögen ihn in die eine oder andere Richtung drängen, doch in Fromms Sozialphilosophie bleibt die (religiös klingende und auch so gemeinte) Emphase der Freiheit jedes Einzelnen die normative Prämisse seines „prophetischen Alternativismus“ (ebd.: 33; GA IV: ).

„Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben!“

Deuteronomium (5. Buch Mose), Kapitel 30, Vers 19, zit.n. Fromm 1987: 33

Diese biblische Stelle erhebt Fromm zum Prinzip seiner „messianische[n] Hoffnung“ (ebd.: 32ff.), die ganz und gar nicht-theistisch begründet ist. Aufgabe der Hoffnung ist nicht, auf eine „kommende Zeit“ (ebd.: 21) zu warten, denn in diesem kafkaesken „untätige(n) Abwarten“ zeige sich vielmehr eine „verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz“ (ebd.: 22), die gelegentlich und gern manieriert als „pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus“ (ebd.) von vermeintlich kritischen Geistern vor sich hergetragen und zur Schau gestellt werde. Doch selbst offen geäußerte Hoffnung kann eine Verkleidung für innere und unbewusste Hoffnungslosigkeit sein, wenn der gesellschaftliche „Erfolg“ eine solche geäußerte Hoffnung verlangt. Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Fromm weist darauf hin, dass nicht nur solche äußeren Mechanismen, sondern auch offenkundige „Phrasendrescherei und Abenteuerlust“ (ebd.) unbewusste Hoffnungslosigkeit übertünchen und ein Ausdruck nekrophiler Tendenzen sein können, deren Dynamik gern verdrängt werde; dies gelte für solche „Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier.“ (Ebd.: 24) Hoffnung ist für Fromm sehr viel stärker ein „Gefühl“ bzw. eine „Erfahrung“ als eine rein kognivitive Veranstaltung:

„Hoffen ist ein Zustand des Seins. Es ist eine innere Bereitschaft, die Bereitschaft zu einem intensiven, aber noch unverbrauchten Tätigsein.“

Fromm 1987: 26 (GA IV: ).

Tätigsein heißt freilich nicht, geschäftig zu sein oder bloßen gesellschaftlichen „Erfolg“ zu „haben“. Hoffend tätig sein heißt, das Leben und das (individuelle und kollektive) Wachstum (gerade auch gegen gesellschaftlich erwungenen Erwartungen) zu stärken, gewissermaßen biophil tätig zu sein, wobei hier natürlich unterstellt ist, dass gesellschaftliche Erwartungen falsch sein können. Hoffnung ist so gesehen nicht ein Zustand der „aktiv Hoffenden“, sondern vielmehr der „hoffend Aktiven“. Diese – letztlich – lebensbejahende Hoffnung wird deutlich, indem Fromm seinen Begriff der Hoffnung mit dem Konzept des „Glaubens“ und der „Seelenstärke“ verbindet. Glauben heißt Fromm zufolge die „Gewißheit des Ungewissen“ (ebd.: 28; kursiv i.O.) zu begreifen. Während irrationaler Glaube sich etwas bereits Bestehendem unterwirft (so z.B. jedweder Form von Idolarisierung, etwa einem politischen Führer, einem Nationalismus oder einer anderen Ideologie), verbindet sich der rationale Glaube als „Gewißheit der Vision und des Verstehens“ (ebd.: 28) der Wirklichkeit mit der wirklichen Hoffnung:

„Hoffnung ist die Stimmung, die mit dem Glauben Hand in Hand geht. Ohne eine hoffnungsvolle Stimmung läßt sich der Glaube nicht aufrechterhalten. Nur auf den Glauben kann sich die Hoffnung aufbauen.“

Fromm 1987: 29 (GA IV: )

Doch biophiles Tätigsein, wenn das, was Fromm sagen will, so zu nennen erlaubt ist, benötigt auch „Seelenstärke“ der Menschen. Sie bedeutet die Fähigkeit, „der Versuchung zu widerstehen, Hoffnung und Glaube dadurch zu gefährden, dass man sie in einen leeren Optimismus oder in einen irrationalen Glauben umwandelt“ (ebd.: 29); geschieht dies, sind beide verloren. Diese Seelenstärke zu verfolgen, fordert derjenigen „Furchtlosigkeit“ (ebd.: 30) ab, die es versucht. Dabei meint Furchtlosigkeit weder in irrationaler Weise, „sein Leben zu risikieren“ (ebd.), noch die Furchtlosigkeit dadurch zu erlangen, „sich einem Idol, einem anderen Menschen, einer Institution oder einer Idee symbiotisch zu unterwerfen.“ (Ebd.). Furchtlosigkeit bedeute vielmehr, seine Begierden zu überwinden, „Idole, irrationale Wünsche und Phantasien“ (ebd.) loszulassen, „weil er [oder auch: sie] mit der Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner [oder: ihrer] selbst in vollem Kontakt steht.“ (Ebd.) Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) und die Philosophie des prophetischen Alternativismus stellen uns – Fromm zufolge – vor die Wahl:

„Als wesentliche Eigenschaften des Lebens drängen Hoffnung und Glaube schon ihrer Natur nach über den individuellen wie auch den gesellschaftlichen status quo hinaus. Das Leben hat unter anderem die Eigenschaft, daß es ein ständiger Prozeß der Veränderung ist und keinen Augenblick gleich bleibt. Leben, das stagniert, beginnt abzusterben. Stagniert es völlig, ist der Tod eingetreten. Hieraus folgt, daß das Leben in seiner Eigenschaft als Bewegung dazu tendiert, aus dem status quo auszubrechen und ihn zu überwinden. Wir werden entweder stärker oder schwächer, klüger oder dümmer, mutiger oder feiger. Jede Sekunde ist ein Augenblick der Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren. Entweder pflegen wir unsere Trägheit, unsere Gier und unseren Haß, oder wir hungern sie aus. Je mehr wir sie pflegen, um so stärker werden sie; je mehr wir sie aushungern, um so schwächer werden sie.“

Fromm 1987: 31 (GA IV: ); Hervorhebungen i.O.

Menschen können in biophiler Weise folglich nur glaubend und mit begierloser Furchtlosigkeit hoffend tätig sein. Doch warum und wozu sollten sie das können (wollen)? Nachdem Fromm im zweiten Kapitel seines Buches von der „Revolution der Hoffnung“ seinen zum Tätigsein drängenden Begriff von „Hoffnung“ entfaltet hat, widmet er sich im vierten Kapitel des Buches der Frage, was es heiße, „menschlich zu sein“ (ebd.: 74ff.). Dieses Kapitel gibt uns einen begrifflichen Schlüssel dazu, jenes empathische Rätsel aufzuschließen, das Fromm uns im zweiten Kapitel mit seinem Konzept „messianischer Hoffnung“ hinterlassen hat. Welche Menschlichkeit sollten wir wählen wollen? Drehen wir den Schlüssel langsam um!

Wer die Fromm’sche Philosophie eines „Naturalismus“ zeiht – und das tun viele berufene Philosoph:innen immer wieder gerne – , hat ihn entweder nie gelesen oder nicht verstanden. Dabei sind seine Aussagen völlig klar:

„Tatsächlich ist es bis jetzt nicht möglich, eine endültige Aussage darüber zu machen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein […]“.

Fromm 1987: 76 (GA IV: )

Daher sind alle Versuche, den Mensch ein für alle Mal wesensartig zu bestimmen, falsch und verkürzt, handelt es sich um die Etiketten eines homo faber, homo sapiens, homo ludens oder auch homo negans, auch wenn einzelne von ihnen Fromm zufolge mal mehr und mal weniger das „Menschliche“ streifen (ebd.: 75f.). Was macht aber nun denn das „Mensch-Sein“ bei Fromm aus, mögen Ungeduldige fragen. Die Antwort ist typisch für Fromm und seine dialektische Denkweise, die sich sowohl einer jüdischen als auch der hegelianischen Tradition verdankt. Die erwähnten „Manifestationen des Menschseins“ (ebd.: 77; Hervorhebung i.O.), d.h. die verschiedenen „homini hominorum“, zeigten, „wie verschieden wir als Menschen sein können.“ (Ebd.; Hervorhebung i.O.) Wo ist der oft Fromm vorgeworfene „Naturalismus“ plötzlich hin? Konstatiert werden muss: es gibt ihn nicht; oder vielleicht doch? Er ist da, aber nicht einfach zu „haben“. Ausgangspunkt seines differenzierten „Menschenbildes“ ist die „Bedingung der menschlichen Existenz“ (ebd.: 78), deren theoretische und ethische Implikationen er in der „Revolution der Hoffnung“ (78-114) fortschreitend resümiert, aber bereits in „Furcht vor der Freiheit“ (182013 [1941]: 24-35) und vor allem in „Den Menschen verstehen“ (92011 [1947]: 39-48 u. 97-188; GA ) in Grundzügen entwickelt hat.2

Die zentrale sozialpsychologische Setzung von Erich Fromm besteht in der Anerkennung der Differenz des Menschen von seinen säugetierartigen „Vorfahren“: nämlich (i) ein „Bewußtsein seiner selbst“ (Fromm 1987: 78; GA IV: ) zu besitzen und (ii) nicht von Instinkten determiniert zu sein. Das erste impliziert die (sichere, gern aber verdrängte) Erkenntnis von der eigenen Endlichkeit und der Gewißheit des eigenen Todes, während das zweite Axiom den Menschen dazu drängt, sich einen „Rahmen der Orientierung“ (ebd: 79) suchen zu müssen, damit er/sie nicht wahnsinnig wird. Denn es gilt:

„Der unter den genannten Bedingungen geborene Mensch würde tatsächlich verrückt werden, wenn er kein Bezugssystem besäße, das es ihm erlaubt, sich irgendwie in der Welt zu Hause zu fühlen und dem Erlebnis äußerster Hilflosigkeit, Desorientierung und Entwurzelung zu entrinnen.“

Fromm 1987: 79 (GA IV: )

Dieser Rahmen der Orientierung menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns ist – um die Regulationstheorie zu zitieren – eine „historische Fundsache“ und gerade deswegen durch gesellschaftliche Umstände mitbestimmt, die Fromm im Konzept des „Gesellschaftscharakters“ zu fassen suchte (Fromm 182013 [1941]: 200-215 [GA :]; 92011 [1947]: 51-56 [GA :]). Hiermit schließt Fromm insbesondere an die Marx’schen Frühschriften und dessen Überzeugung an, dass der Mensch ein sozial bedürftiges Wesen ist (Marx‘ Intepretation des Aristotelischen ‚zoon politikon‘). Der Gesellschaftscharakter ist klassenspezifisch bestimmt, kann aber auch gesellschaftsweit gefasst werden (s.a. Bierhoff 1993: 149ff.) und umfasst jeweils „bestimmte Charakterelemente“, die Angehörige einer Klasse (oder sozialen Schicht oder auch ggf. eines sozialen Millieus, um neuere soziologische Konzepte zu verwenden) „gemeinsam haben“ (92011 [1947]: 55 [GA :]). Ihre Identifizierung ist letztlich eine empirische Frage, die Fromm einerseits in seiner psychotherapeutischen Praxis exploriert und dann andererseits in größeren Forschungsprojekten zu erforschen und zu reflektieren versuchte (Fromm 1980; Fromm/Maccoby 1969). Denken, Fühlen, Ideen und Werte des Einzelnen werden – so Fromm in der „Den Menschen verstehen“ vom Gesellschaftscharakter ebenso geprägt, wie dadurch „‚vernünftiges‘ Handeln“ (92011 [1947]: 55 [GA :]) ermöglicht wird. Doch der Individualcharakter ist nicht mit dem Gesellschaftscharakter identisch. Mehr noch: in der Weiterentwicklung psychoanalytischer Überlegungen und Konzeptionen von Sigmund Freud entwickelt Erich Fromm in „Den Menschen verstehen“ eine Typologie verschiedener Charakterorientierungen, die den Individualcharakter und letztlich auch den Gesellschaftscharakter einer Klasse oder einer ganzen Gesellschaft prägen können.3

In der „Revolution der Hoffnung“ thematisiert Fromm diese Charakterorientierungen4 nicht, sondern fordert bloß die Überwindung „primärer Bindungen“ des Einzelnen, also die Überwindung der Bindung „an die eigene Herkunft – an Blut, Boden, Sippe, Mutter und Vater oder in einer komplexeren Gesellschaft an seine Nation, seine Religion oder seine gesellschaftliche Klasse.“ (Fromm 1987: 84; GA IV: ) Die Überwindung primärer Bindung und die Entscheidung für die Alternative „produktiver Bezogenheit“ (Fromm 92011 [1947]: 71ff. [GA :]) zu seinen Mitmenschen ist keine rein pflichtethische Forderung, sondern liege in der Natur des Menschen begründet. Die Fromm’sche Argumentation ist hier keineswegs einfach, sondern setzt die Akzeptanz mancher unorthodoxer Gedanken voraus. Erstens setzt sich Fromm kritisch mit dem Beviorismus auseinander, der behauptet, der Mensch sei unendlich formbar und könne sich jeder gesellschaftlichen Situation anpassen. Wenn dies so sei, so Fromm, sei nicht erklärbar, warum es in der Geschichte permanent zu Revolutionen gekommen sei. Zweitens sei die Reduktion der Bedürfnisse des Menschen auf das (physische) „Überleben“, was der Behaviorismus unterstelle, unzulässig. In Bezug auf die Marx’schen Frühschriften erhebt Fromm die axiomatische Setzung, dass der Mensch auf die anderen Menschen bezogen sein wolle. Und zwar in vielfältiger Hinsicht seiner ganzen menschlichen Möglichkeiten – ein genuin humanistischer Gedanke. Leben ist mehr als „bloßes Überleben“ – daher der Impuls – so ließe sich spekulieren – für Revolutionen und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen:

„Die Dynamik der menschlichen Natur, insofern sie menschlich ist, wurzelt primär in diesem Bedürfnis des Menschen, seine Fähigkeiten, sich auf die Welt zu beziehen, auszudrücken, und nicht in seinem Bedürfnis, die Welt als Mittel zur Befriedigung seiner physiologischen Notwendigkeiten zu benutzen.“

Fromm 1987: 88 (GA IV: )

Das „freie und spontane Tätigsein“ (ebd.: 89) spanne zusammen mit dem Aspekten des Notwendigen eine „Polarität“ auf, die das Denken und Handeln des Menschen strukturiere. Doch diese werde nicht immer erkannt, da der Mensch in einer „gegebenen Gesellschaft“ (ebd.: 90) zunächst überleben müsse und „Dinge“ verdränge, „deren er sich bewußt wäre, wenn sein Bewußtsein nicht von anderen Modellen geprägt worden wäre.“ (Ebd.) Träume, Symbole und alle Arten von Künsten seien Möglichkeiten, sich dieses Verdrängten wieder bewusst zu werden. Worin bestehen nun die spezifisch menschlichen Erfahrungen (und damit auch Möglichkeiten), die eine Bewegung für einen „humanistischen Sozialismus“ stärken sollte und zugleich von ihnen bestärkt würde?

Anmerkungen

1 Die „reflexive Anthropologie“ (Bourdieu/Wacquant 2006) eines Pierre Bourdieu dürfte – nebenbei bemerkt – gar nicht so weit von der Frommschen Vision einer Wissenschaft vom Menschen entfernt sein. Der Habitusbegriff des französischen Soziologen ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Frommschen Konzept des Gesellschaftscharakters, wie neuere Forschung herausgefunden hat (Fromm-Forum XXXX).

2 Nebenbemerkung: wenn Fromm die zum Teil auch modifizierende Resümierung vorheriger theoretischer Bausteine gewissermaßen als unproduktive „Wiederholung“ und unter der Hand pejorativ gemeinte „irrende Selbstreferenz“ (so oft Friedman 2013: passim) immer wieder angelastet wird, wird gern mit doppeltem Maß gemessen. So ist doch z.B. die ziemliche ähnliche Praxis von Niklas Luhmann, seine Grundaxiome in jedem seiner Werke als Zeichen systematischen Fortschreibens seiner „Theorie“ reflektierend zusammenzufassen, als Ausdruck systematischen Theoretisierens anerkannt – von Axel Honneths oder auch Jürgen Habermas‘ analoger Methodologie, von Buch zu Buch schrittweise ihre theoretischen Erkenntnisse und Grundüberzeugungen auszubauen, ganz zu schweigen.

3 Die Unterscheidung von „Gesellschaftscharakter“ und „individuelle(m) Charakter“ bei Fromm ist nicht immer klar formuliert. Während der „Gesellschaftscharakter“ durch Assimilierung und Sozialisation (Fromm 92011 [1947]: 54f. [GA :]) die Individuen präge, bleibt eine Differenz nichtsdestotrotz bestehen. Der Individualcharakter geht im Gesellschaftscharakter – und auch anders herum – nicht auf: „Vom Gesellschafts-Charakter getrennt müssen wir jedoch den individuellen Charakter betrachten, durch den sich innerhalb des gleichen Kulturkreises [oder einer Klasse?, KM] ein Mensch vom anderen unterscheidet. Diese Unterschiede gehen zum Teil auf die Unterschiede der Persönlichkeiten der Eltern zurück, zum anderen auf die psychischen und materiellen Unterschiede der besonderen sozialen Umwelt, in der das Kind aufwächst. Aber sie sind auch durch konstitutionelle Unterschiede des einzelnen bedingt, insbesondere durch solche des Temperaments. Genetisch wird die Formung des individuellen Charakters durch die Wirkung bestimmt, welche die aus dem individuellen und kulturellen Bereich erwachsenen Lebenserfahrungen auf das Temperament und die physische Konstitution ausüben. Die gleiche Umwelt ist für zwei Menschen nie dieselbe, weil beide diese Umwelt durch ihre verschiedene Konstitution mehr oder minder verschieden erleben. Bloße Gewohnheiten des Denkens und Handelns, die nur eine Folge der menschlichen Anpassung an kulturelle Vorbilder sind, aber nicht im Charakter wurzeln, können sich unter dem Einfluss neuer gesellschaftlicher Vorbilder leicht verändern Wurzelt dagegen das Verhalten eines Menschen in seinem Charakter, so ist es mit Energie geladen und nur dann veränderlich, wenn ein Wandel in der Charakaterstruktur selbst stattfindet.“ (92011 [1947]: 56 [GA :])

4 Die (Gesellschafts-)Charakterorientierungen werden unterteilt in produktive und nicht-produktive Charakterorientierungen. Fromm unterscheidet in „Den Menschen verstehen“ als nicht-produktive Charakterorientierungen folgende vier (vgl. Fromm 92011 [1947]: 57ff. [GA : ]): (i) die rezeptive Orientierung, (ii) die ausbeuterische Orientierung, (iii) die hortende Orientierung und (iv) die Marketing-Orientierung. Er stellt in diesem frühen Schlüsselwerk zur Typologie von Charakterorientierungen diesen auch Merkmale einer produktiven Charakterorientierung entgegen, deren Kern er vor allem als „produktive Liebe“ und „produktives Denken“ umschreibt (ebd.: 71ff. [GA :]). Die analytische Bedeutung dieser Orientierungen für die theoretische Konstruktion von historisch-spezifischen Gesellschaftscharakteren einerseits und von Individualcharakteren andererseits bleibt etwas im Dunkeln, weil vor allem die nicht-produktiven Charakterorientierungen zum einen – bis auf das Konzept des „Marketing-Charakters“ – an psychoanalytischen, von Sigmund Freund entwickelten Konzepten angelehnt sind und daher im eigentlichen Sinne an die kapitalistische Marktgesellschaft gebunden sind, aber von Fromm gelegentlich als anthropologische „Konstanten“ angesehen werden – auch wenn er diese Begrifflichkeit selbst nicht nutzt. Zum anderen bleibt wegen dieser begriffsgeschichtlichen Anlehnung an die Ausgangskonzepte der auf das Individuum bezogenen Psychoanalye nach Freud das analytische „Fluiditätspotenzial“ zwischen den gesellschaftsweiten bzw. klassen- oder millieuspezifischen Ausprägungen von Charakterorientierungen (also von: Gesellschaftscharakteren) und den in der Psychotherapie zum Reflexionsgegenstand erhobenen Individualcharakteren konzeptionell unterentwickelt. Zum besseren Verständnis der analytischen und empirischen Bedeutung des Konzepts des Gesellschaftscharakters wird auf ihre theoretische Konstruktion und empirische Operationalisierung in den empirischen Studien zurückgegriffen werden müssen. Dies kann hier nicht geleistet werden (s.a. Bierhoff 1993: Teil III).

Hennig Schmidt-Semisch/Friedrich Schorb (Hrsg:/2021): Public Health. Disziplin – Praxis – Politik, Wiesbaden (Springer VS). ISBN 978-3-658-30376-1 ISBN 978-3-658-30377-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8

Manche Bücher reizen zum Widerspruch und wiederum andere sind voller Widersprüche. Beide Aspekte sind keineswegs negativ zu beurteilende Eigenschaften von Büchern, sondern können Ausgangspunkte von individuellen und kollektiven Lernprozessen sein. Der zu besprechende, mit über 500 Seiten und 28 Fachbeiträgen überaus voluminöse Sammelband von den beiden Bremer Soziologen und Gesundheitswissenschaftlern Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb zu den disziplinären, praktischen und politischen Aspekten von „Public Health“ verspricht daher, individuelle und kollektive Lernprozesse hervorzubringen. Das liegt nicht nur an den Herausgebern oder Autoren, sondern am Gegenstand selbst, dessen analytische, normative und praktische Greifbarkeit unter den Händen des Sammelbandes für den Lesenden gelegentlich mosaikartig schimmert. Public Health, so die Arbeitshypothese der Herausgeber, stehe in der Tradition der Sozialmedizin oder Sozialhygiene des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ziele auf die Bewältigung bzw. Bearbeitung sozialer Ursachen von Gesundheit und Krankheit. Dabei sollen naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Perspektiven miteinander in Beziehung, aber keineswegs absolut gesetzt werden. Deren Interaktion ist nötig, um den „tieferliegenden Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit“ (Schmidt-Semisch/Schorb: 5) auf die Spur zu kommen. Hiermit stellen sie sich in die sozialkritische Tradition der Sozialmedizin und ihre Neuinstallierung seit den 1980er Jahren in Deutschland. Im fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) ist die Reduktion „sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen“ (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SGB V) mittlerweile zum zentralen Ziel von Public Health-Praxis erkoren worden. Public Health ist damit sehr politiknah, was im Sammelband durchaus kritisch erörtert wird.

Doch was ist der gemeinsame Gegenstand des Sammelbandes? Die naheliegende Antwort: „Public Health“ ist keineswegs so einfach greifbar wie man gerne glauben möchte. Denn die die diversen Disziplinen der Multidisziplin Public Health, denen der erste Teil des Bandes gewidmet ist, haben sehr unterschiedliche Blickwinkel, wie Public Health begrifflich gefasst werden kann und welchen Beitrag die diversen Disziplinen leisten möchten. Eine plausible Näherung an die Inhalte von Public Health ist das Forschungs- und Praxisfeld von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. Während manche Beiträge als „klassische“ Beiträge in einem „Lehrbuch“ über Public Health durchgehen, so etwa die Beiträge zur Geschichte der öffentlichen Gesundheit seit dem 19. Jahrhundert (Brigitte Ruckstuhl und Elisabeth Ryter), zur Bedeutung der Psychologie (Benjamin Schütz), zur Sozialen Arbeit (Bernhard Borgetto und Corinna Ehlers) oder der Bedeutung der ökonomischen Wissenschaft (Christian Jesberger und Stefan Greß) für Public Health, stechen anderen mit neuen (Forschungs-)Perspektiven hervor. Insbesondere die Beiträge von Ruth Müller zum „epigenetischen Körper zwischen biosozialer Komplexität und Umweltdeterminismus“ und von Monika Urban zum „digital turn in Public Health“ bringen neue Perspektiven in die Public Health-Forschung in Deutschland. Auch Bernhard Borgetto und Michael Köhler bringen mit ihrer Verbindung von Pflege- und Therapiewissenschaftlichen neue Farben ins Public Health-Spiel. Anregend ist auch der Versuch von Katharina Böhm, den Beitrag der Politikwissenschaft zur „Public Health Forschung und Praxis“ (41ff.) zu skizzieren, den sie in ihrem Beitrag zur Erklärung politischer Entscheidungen, zur Implementation und Evaluation von Public-Health Politiken und dem Beitrag allgemeiner politischer Trends auf die Gestaltung der Gesundheitspolitik erkennt. Inwiefern die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit jedoch (44ff.) sich einem genuinen Beitrag der Politikwissenschaft verdankt, erschließt sich nicht. Hier sind disziplinäre Bezüge zur Politischen Soziologie, Politischen Ökonomie und Sozialstrukturanalyse, mithin der sozialtheoretischen Verortung der Politikwissenschaft, m.E. noch zu klären. Ihre dezidiert anwendungsorientierte Perspektive auf politikwissenschaftliche Beiträge für Public Health bringt sie dazu, zahlreiche theoretische Beiträge von Politikwissenschaftlern zur Governance von Gesundheitspolitik in OECD-Ländern zu übergehen, obwohl sie doch die Erklärung politischer Entscheidungen im Politikfeld für einen zentralen Gegenstand hält (ebd.: 41f.). Es ist allerdings zutreffend, dass das Politikfeld Public Health – insbesondere in Deutschland – von vielen Politikwissenschaftlern in empirischer Hinsicht marginal betrachtet worden ist, vermutlich weil es sich nicht um „große Politik“ handelte, der sie sich in ihren vergleichenden Studien oftmals widmeten (vgl. international: Blank/Burau/Kuhlmann 2018).

Die Beiträge von Beate Blättner und Marie-Luise Dierks (179ff.) zur bundesweiten „Lehre in Public Health“ und von Petra Kolip und Oliver Raum (195ff.) zu den konstitutiven Bedingungen und Entwicklungen der Interdisziplinarität der Gesundheitswissenschaften an der „Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld“ brechen sich ein wenig mit den im ersten Teil thematisierten „disziplinären Grundlagen“ von Public Health und stellen die Lehr- und Forschungszentren der etablierten Public Health-Forschung dar, die nicht nur in der nordrheinwestfälischen Metropole („Bielefeld“), sondern u.a. auch in Hannover und Fulda seit Jahrzehnten mit Erfolg betrieben werden. Man kann den Sammelband von Schmidt-Semisch und Schorb daher auch als – so meine These – kritischen Kommentar zu etablierte(re)n Einführungswerken zu Public Health/Gesundheitswissenschaften lesen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist keineswegs ein abwertendes Urteil, sondern ganz im Gegenteil ein Plädoyer, dieses kritische Kompendium aus dem hohen Norden (darf man von Traditionslinien einer „Bremer Schule“ sprechen?) als korrigierende oder wenigstens ergänzende Sichtweise anzunehmen. Dieser kritische Impuls zeigt sich auch nicht zuletzt in der Widmung des Bandes an den kurz zuvor verstorbenen Doyen dieser „Bremer Schule“ (so sie es denn gegeben hat), dem Medizinsoziologen und Gesundheits(politik)forscher Rainer Müller.

So ist bei aller Vielfalt der Perspektiven der Aufsatz von Hennig Schmidt-Semisch (65ff., zu „Soziologie und Public Health“) gewissermaßen als programmatisches Leitmotiv des Bandes lesbar. In ihm weist der Bremer Gesundheitswissenschaftler auf eine konstitutive Unterscheidung des US-amerikanischen Medizinsoziologen, Robert Strauss (1957) hin, der eine „‚Soziologie in der Medizin‘ (Sociology of Medicine) und eine ‚Soziologie der Medizin‘ unterschieden“ (Schmidt-Semisch: 65) habe. Selbst wenn die Autorinnen und Autoren keineswegs alle Soziologen sind, kann diese klassifikatorische Bestimmung von Strauss sehr hilfreich sein, die vielfältigen Motive und Herangehensweisen der verschiedenen Beiträge zum Thema „Public Health“ einzuordnen. Die meisten Beiträge im ersten Teil des Sammelbandes zu den „Disziplinäre[n] Zugänge[n]“ zu Public Health sind mit Hilfe der Strauss’schen Klassifikation als „Politikwissenschaft“, „Ökonomie“, Psychologie oder „Soziale Arbeit“ in Public Health zu betrachten. Gefragt wird, welchen Beitrag diese Disziplinen zur – allerdings an dieser Stelle wenig beschriebenen – Praxis von Public Health zu leisten vermögen. Die kaum länger als zehnseitigen Beiträge zu den Disziplinen können die Fragestellungen und Konzepte der Disziplinen nur „anreißen“ und sind nach der bekannten Klassifikation im Anschluss an den Wissenschaftshistoriker und Mediziner Ludwig Fleck mehr als „Lehrbuch“, weniger als umfassendes „Handbuch“ zu betrachten, welches in das Thema „Public Health“ einführt und das disziplinäre Forschungsfeld aus einer kritischen Perspektive darstellt.

Der zweite Teil des Bandes, der sich der Praxis von Public Health widmet, stellt im Wesentlichen auf die Praxis zielende grundlegende Konzepte und vor allem kommunal ausgerichtete Public Health-Strukturen dar. Die beiden Leitthemen dieses Teils sind zum einen die kritische Auseinandersetzung mit Strukturen und Praxen der Prävention und Gesundheitsförderung im deutschen Gesundheitswesen und zum anderen eine Kontroverse um die nicht zuletzt aus dem Bremer Umfeld in die deutsche gesundheitswissenschaftliche Diskussion gebrachte notwendige kritische Evidenzbasierung von Public Health (Gerhardus et al. 2010).

Während Thomas Altgeld die grundlegende Problematik des Präventionsdilemmas nochmals ins Gedächtnis ruft, dass diejenigen Menschen, die am Ehesten von Prävention und Gesundheitsförderung profitieren würden, über die üblichen Wege („Markt“ bzw. „Komm-Strukturen“) keinen Zugang zu diesen haben und dass deswegen eine „integrierte kommunale Handlungskompetenz“ auf diesem Feld eine „zentrale Herausforderung“ (Altgeld: 224) sei, diese Gruppen zu erreichen, skizzieren Peter von Phlipsborn und Karin Geffert (233ff.) grundlegende Konzepte der „Gesundheitsförderung auf Bevölkerungsebene“. Sie kritisieren – zurecht – die neuerdings aus der Verhaltensökonomik kommende Mode des gesundheitsbezogenen „Nudging“ als „liberalen Paternalismus“ (243ff.), der gegen die Autonomieversprechen der „kritischen“ Gesundheitswissenschaft verstoße. Das mittlerweile mit einem Nobelpreis für Ökonomie prämierte Konzept des Nudging – das Schubsen in die „richtige Richtung“ (KM) – manipuliert die intuitiven Verhaltensanreize der Einzelnen und reduziert Gesundheitsförderung auf „gesundes Verhalten“ über den Mechanismus der – für die Stabilisierung von herrschaftlichen Verhältnissen – bequemen Mechanismen der Anpassung des Individuums an die gesellschaftlichen Anforderungen im „neosozialen Sozialstaat“, der den Individuen eine neue „Moralität“ abfordere, wie Stephan Lessenich (2008) stechend herausgearbeitet hat. Seine Anwendung ist zumindest ambivalent.

Peter von Philipsborn und Karin Geffert plädieren statt dieser – erneuten – Individualisierung für einen sozialökologischen Ansatz, der auf verschiedenen Ebenen zur Überwindung des „Präventionsdilemmas“, von dem Thomas Altgeld spricht, ansetzt. Ganz im Stil der altehrwürdigen Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung aus dem Jahr 1986 fordern sie eine „politische Anwartschaft“ (von Philipsborn/Geffert: 251) für eine bevölkerungsweite Gesundheitsförderung, deren verhaltensbezogene Inhalte aber dennoch im latenten Konflikt zum herrschaftskritischen Beitrag von Regina Brunnett (411ff.) im dritten Teil des Bandes liegen, die gerade diese von oben herab oktroyierte verhaltenssteuernde Bevölkerungspoliitk als „Biopolitik“ zu entlarven sucht. Zunehmend gestützt auf digitale Apps werde durch New Public Health, also die Regulierung gesundheitlicher Verhaltensweisen, eine „biopolitische Normalisierung“ (Brunnett: 418ff.) für die „spätkapitalistischen Produktionsweisen“ (ebd.: 418) betrieben, die – unter Bezug auf Michel Foucault – als Herrschaftsweise beschrieben und kritisiert wird. Freilich muss man hier keinen antagonistischen Widerspruch entdecken, wenn die Neuausrichtung verhaltensbezogener Bedingungen von Gesundheit partizipativ in der „Community“ der Zielgruppen entwickelt wird, wie Gesine Bär und Ina Schaefer (259ff.) im dritten Beitrag des zweiten Teils einfordern. Eine Spannung zwischen beiden Perspektiven bleibt nichtsdestotrotz erhalten.

Eine für die Methodologie von Public Health zentrale Kontroverse um die Bedeutung und Begründung einer Evidenzbasierten Public Health (EbPH) spannt sich zwischen den drei Beiträgen von Peter von Philippsborn/Eva Rehfuess (303ff.), Ernst von Kardorff (330ff.) und Susanne Hartung (349ff.) auf. Im Wesentlichen handelt es sich – wenn auch unausgesprochen – um die Wiederkehr der Werturteilsdebatte des nimmer endenden Positivismus-Streites in den Sozialwissenschaften, nun aber im Gewand von Public Health. Diese saloppe Umschreibung des Fluchtpunktes der Kontroverse soll keineswegs ihre Bedeutsamkeit schmälern. Ganz im Gegenteil zeigt diese nachdrückliche Permanenz des Themas, dass hier noch keine „Lösung“ in Sicht ist – sofern sie überhaupt erreichbar ist. Die zur Entscheidung anstehende Schlüsselkontroverse dreht sich um die Kernfrage, ob die Methoden und Prinzipien der Evidence Based Medicine auf die populationsbezogene und die Lebenswelten („Settings“) der Menschen berücksichtigende Public Health-(Multi-)Disziplin übertragen werden dürfen. Während Peter von Philipsborn und Eva Rehfuess von der LMU-Universtität (303ff.) in München in einem differenzierten Beitrag begründen, dass dies bei Berücksichtigung methodologischer Vielfalt, fragestellungsbezogener Passung von Methoden und Berücksichtigung partizipativer Inklusion der Betroffenen möglich ist, sieht das Ernst von Kardorff anders. Zwar gesteht er der differenziert-quantitativen Position zu, auf Kritiken reagiert zu haben, aber im – zum Teil – forschungspolitisch motivierten Festhalten an objektivistischen Methodenverständnissen der EbPH sieht er eine Hegemonialisierung von Public Health-Praxis, die aufgrund unterkomplexer Methodenzugriffe bestehende kulturspezifische Bedingungsverhältnisse von Gesundheit / Krankheit einseitig manifestiere und damit bestimmte normative Wertstrukturen stabilisiere. So würden Gesundheitsherausforderungen als Risiken identifiziert, die durch (i) „Prävention und Kontrolle“ (339), (ii) „Individualisierung und Eigenverantwortung“ (339ff.), (iii) „Primärprävention“ und „Identifikation möglicher Krankheitsrisiken“ (342f.), (iv) die gleichzeitige Ausweitung von Gesundheit und Krankheitsdefinitionen (343), (v) digitale Techniken möglich gemachte „transparente Bürger“ (343f.) und (vi) Konstruktion neuer „diagnostischer Kategorien und Klassifikationen“ (344f.) bearbeitet würden. Diese Lösungsstrategien widersprächen dem beanspruchten „Objektivitäts- und Neutralisitätsanspruch von EbPH“ (337), indem – ohne große Partizipation – spezifische Problembearbeitungen vorgegeben würden. Es werden – so ließe sich schlussfolgern – bestimmte (kulturell geprägte) Wertentscheidungen als wissenschaftliche Wahrheit legitimiert. Eine kritische Methodendiskussion reiche folglich nicht aus, es bedürfe auch einer „kritische[n] Selbstreflexion von Public Health“, „den Blick auf die latenten Muster der Wahl ihrer Fragestellungen, Perspektiven und Schwerpunktsetzungen zu lenken“ (346). Public Health als Ideologiekritik?

Kann die „praxisbasierte Evidenz“ (Hartung: 349ff.) als Lösung dieses Dilemmas dienen? Der Ansatz, den Susanne Hartung vorstellt, ist deswegen erfrischend, weil er in seinem Zugriff auf die konkrete „Praxis“ vor Ort einerseits die kulturelle Bedingtheit von krankmachenden und gesunderhaltenden Faktoren akzeptiert und andererseits eine pragmatische, nichtsdestotrotz wissenschaftliche Begründung von evidenzbasierter Public-Health-Praxis zu leisten versucht, ohne künstlich konstruierte Forschungsdesigns aufrechtzuerhalten, die in der Praxis keine Verankerung finden. Im Gegensatz zur EbPH gibt es jedoch noch kein „geeignetes Verfahren“ (356) für die „Praxisbasierte Evidenz“ (PbE). Die partizipative Praxisforschung wird zwar als erfolgversprechende Strategie beschrieben und hat bereits zur Aufstellung der sog. „Praxisdatenbank des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit“ (362) geführt. Es ist m.E. aber durchaus noch ungeklärt, wie das grundsätzliche Dilemma von empirischen Studien, seien sie partizipativ ausgerichtet oder auch nicht, gelöst werden kann, dass die hohe interne Validität zumeist mit einer schwächeren externen Validität der Studienergebnisse einhergeht. Übersetzt in verständliche Prosa ist damit das Dilemma gemeint, dass jedwede Studienergebnisse zunächst einmal für die Studienpopulation gelten und die Übertragbarkeit auf andere Kontexte und Studienpopulationen, also ihre Generalisierung, nicht so einfach zu begründen und zu rechtfertigen ist. Obwohl die PbE dies zurecht an den kulturindifferenten Studien der (quantitativen) EbPH kritisiert, bleibt methodologisch m.E. bislang unklar, wieso die kultur- und kontextspezifischen Studienergebnisse – Hartung spricht hier von einem „best practice“ (364) – eine höhere externe Validität haben sollten, immerhin sind ihre Ergebnisse ja „kontextspezifisch“ gewonnen worden. Eine stärkere Generalisierung wäre nur möglich, sollten sich gleich gerichtete Praxisbedingungen identifizieren bzw. herstellen lassen. Der partizipatorische Ansatz umschifft dieses methodologische Problem geschickt; er behauptet, ganz im Sinne der befreiungstheologischen Tradition der Ottawa-Charta, die Betroffenen selbst wüssten, wie sie die Probleme angehen könnten. Die methodologische Kontroverse kann hier nicht entschieden werden, doch es mag etwas Wasser in den partizipatorischen Wein geschüttet werden, denn Partizipation allein gebiert noch keine effektiven Strategien. Das gesteht auch Susanne Hartung zu, wenn sie auf die Bedeutung von Datenbanken und wissenschaftlichen Erkenntnissen Bezug nimmt, an denen sich die partizipative Forschung orientieren solle. Im Wesentlichen erscheint PbE daher als der sich auf qualitative Forschungsansätze stützende Strang der Public Health-Forschung. Das gesellschaftspolitische Dilemma der Kontroverse um die (vermeintliche) Wertneutralität von EbPH oder auch PbE vermag er m.E. aber nicht aufzuheben. Diese Aufhebung erfordert letztlich eine politische Entscheidung über Werte, Programme und Maßnahmen, womit wir zum abschließenden Teil kommen.

Besonders lesenswert i- und deswegen soll ihm auch ausführlich Beachtung geschenkt werden – st gerade wegen der methodologischen Debatte zum Ende des vorherigen Teils der dritte, abschließende Teil des Bandes, der unter dem Titel „Das Verhältnis von Public Health und Politik“ (393-540) zum eigentlichen Thema des Sammelbandes vordringt. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ (Deppe 1987), heißt ein Klassiker der Medizinsoziologie. „Gesundheit für alle ist ohne Politik nicht erreichbar – so die konstruierte Analogie des Rezensenten als heimliches Motto des gesamten Sammelbandes. Welchen Bezug zur Politik hat aber nun Public Health als Disziplin und Praxis? Wer nun eine konsistente Position erwartet hätte, wird enttäuscht, wenn auch bei einem Sammelband eine solche ernsthaft nicht erwartet werden kann. Es zeigt sich vielmehr, dass die Multidisziplin Public Health auch hier bei der Frage des Bezugs zum „Politischen“ wieder zum Tragen kommt. Die Beiträge fokussieren nicht nur aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive (analytisch, deskriptiv, erklärend, normativ) sehr unterschiedlich auf das Verhältnis von Public-Health-Wissenschaft und entsprechender Politik; sie gehen auch von zum Teil diametralen sozialtheoretischen und sogar disziplinären Zugängen auf das Verhältnis von Politik und Public Health zu.

Der renommierte Gesundheitswissenschaftler und Gesundheitspolitikforscher Thomas Gerlinger (393ff.) skizziert in seinem wissenschaftssoziologisch orientierten Beitrag das Politikfeld „Public Health“ im Hinblick auf die Strukturen und interessens- und wissensgetriebenen Akteure der Politikberatung sowie das Verhältnis von Politik und der Wissenschaft „Public Health“. Trotz vielfältiger Typen, Formen und Akteuren der institutionalisierten Politikberatung (ebd.: 394ff.) zeichneten sich „Politik“ und „Wissenschaft“ als eigenständige institutionalisierte Systembereiche (ebd.: 399ff.) durch unterschiedliche „Handlungslogiken“ (ebd.: 408) aus. Das hielt individuelle Akteure während der Corona-Pandemie aber nicht davon ab, zwischen den Bereichen hin und her zu changieren, sich auf beiden Feldern zu bewegen und damit die Grenzen zu verwischen (ebd.: 407; der Sammelband wurde offenbar Ende 2020 redaktionell abgeschlossen). Handlungslogiken und (kognitive) Perspektiven der beiden Bereich verschränken sich dabei notwendigerweise, denn Politik will wissenschaftliche Legitimation und Wissenschaft politisches Handeln zur Umsetzung von „Lösungen“ nutzen. Die Folge ist – wie Gerlinger in Anlehnung an den Wissenschaftssoziologen Peter Weingart (2001) formuliert -, „dass in modernen Gesellschaften Wissenschaft ihren Nimbus als neutrale, allein der Wahrheit verpflichtete Instanz eingebüßt hat.“ (Ebd.: 406) Dass jedoch dieser Anspruch in modernen Gesellschaften nicht verschwunden ist, zeigte sich ebenfalls in der Corona-Pandemie, wo sich jedoch auch die „häufige Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit wissenschaftlicher Befunde einerseits, die Politisierung der Wissenschaft andererseits“ (ebd.) offenbart hat. Die aufgrund der Unklarheit wissenschaftlicher Befunde oft zu konstatierende geringe „Passfähigkeit“ (KM) wissenschaftlicher Erkenntnisformen und politischer Entscheidungen führe auf dem Feld von Public Health zu erheblichen „Hindernissen“ einer eindeutigen „Empfehlung“ (ebd.: 404ff.) – eine ernüchternde, aber notwendige Relativierung wissenschaftlicher Objektivitätsphantasien. Im Endeffekt kommt es – so könnte vermutet werden – unter Umständen zu einer transformatorischen Symbiose von „Politik“ und „Wissenschaft“, welche eine Entdifferenzierung beider Subsysteme zur Folge haben könnte. Eine Entwicklung, die Thomas Gerlinger in Anlehnung an den Bremer Soziologen Uwe Schimank (2012) nicht ganz von der Hand weisen will, wenn er dessen Befürchtungen zitiert; auch der zitierte Peter Weingart (2001) ist sich der Trennschärfe beider Bereiche nicht mehr so sicher.

Aufgrund dieser skeptischen Gesamtsicht überrascht es nicht, dass einige Beitrage des dritten Teils eine scharfe Kritik an vorherrschenden Trends der politischen Praxis von Public Health üben und – über die Erkenntnisse des zweiten Teils hinaus – sogar normative Entwürfe einer Public Health Policy oder wenigstens Ansatzpunkte benennen, an denen ein normativer Entwurf ansetzen sollte. Aus einer kritischen Position, die sich an Michel Foucault bzw. der sog. Social-Control-Schule der Medizinsoziologie (Gerhardt 1989) anlehnt, etwa kritisiert nicht nur der bereits erwähnte Aufsatz von Regina Brunnett (411ff.) die zunehmende „biopolitische Normalisierung“ von Lebensstilen. Auch Bettina Schmidt (426ff.) kritisiert die oft den Klienten von Prävention und Gesundheitsförderung, und das bedeutet vor allem den „unter Risiko“ stehenden Menschen, abgeforderte Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen, die sie oft aber aufgrund mangelnder begünstigender Verhältnisse nicht wahrnehmen können. Sie unterstreicht zurecht, dass das Hauptziel der Menschen nicht sei, eine optimale Gesundheit zu erreichen, weshalb bisweilen erfolgende gesellschaftliche Anforderungen auf alleinige individuelle Verhaltensänderungen auch als „Herrschaftsinstrument“ zu betrachten seien – der „neosoziale Sozialstaat“ (Lessenich 2008) lugt hier erneut durch. Die einzig sinnvolle und lebenspraktische Strategie sei ein „gesundheitliche[s] Durchwursteln“ (Schmidt: 435), weshalb auch verhältnispräventive Maßnahmen (z.B. Fahrbahnschwellen vor Schulen, Gurtpflicht oder auch Lebensmittelhygiene) die Menschen dafür entbinden würden, ständig an „ihre“ Gesundheit zu denken. Sie sieht in der (nicht weiter bestimmten) „Benutzerfreundlichkeit“ ein „protektives Potenzial“ (ebd.: 437), zu dass auch die Methode des „Nudging“ (ebd.) gehören würde. Hier wird ihre kritische Abgrenzung von Verhaltensansätzen und Verhältnisansätzen in der Public Health Politik allerdings unscharf; denn Nudging zielt eindeutig auf (sozial erwünschte) Verhaltensänderungen. Die These, „Public Health-Profis“ würden zu „den Eliten einer Gesellschaft“ gehören und seien daher „dem Gemeinwohl verpflichtet“ und sollten darüber hinaus „politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entscheidungsträger stärker als bisher als Zielgruppen für Gesundheitskompetenz-Programme adressieren“ (ebd.), ist normativ stark aufgeladen und trägt den durchaus ambivalenten Geruch eines „liberalen Paternalismus“ an sich, den von Philipsborn und Geffert (243f.) im zweiten Teil mit dem Konzept des Nudging verbunden haben. Schmidt suggeriert hier – unter Rückgriff auf funktionalistische Argumentationsmuster – als müssten Public Health-Experten sui generis am „Gemeinwohl“ orientiert sein (was immer das ist). Unterstellt ist dabei also genau eine solche wissenschaftliche Einheitlichkeit, die nötig ist, um zum politischen Feld Zugang zu erhalten, den Gerlinger doch als so schwierig gekennzeichnet hat, weil sich die Public Health-Forschung selbst bzgl. vieler Fragen nicht einig ist. Doch Public Health ist kein System kohärenter Wissenschaft, sondern – gerade in der engen Verquickung mit Politik – vielmehr in höchst disparate gesellschaftliche Diskurse eingebettet. Sie ist mehr ein Austragungs- bzw. Entscheidungsort für notwendig erachtete Public Health-Intervention als eine Sammlung fest etablierter Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung. Daher ist Bettina Schmidts in Anlehnung an Babitsch (2019: 12) gestellte Forderung, Public Health Experten sollten „kritische Wächter“ sein und „herrschenden Vorstellungen“ (Schmidt: 437) gegenüber kritisch sein, sympathisch, aber bloß normativ und in der Praxis zweifellos strittig. Es fehlt hier ein Begriff von „Herrschaft“, der Richtung und Zielgruppen der kritischen Wacht angibt, um die es bei dieser geht.

In dem Beitrag von Raimund Geene (443ff.) werden die Potenziale und Limitationen von Health-in-All-Policies (HiAP) untersucht. Dabei handelt es sich um ein klassisches (normatives) Konzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welches darauf drängt, gesellschaftliche Determinanten von Gesundheit / Krankheit in allen relevanten Politikfeldern zu reflektieren und entsprechend zu beeinflussen. Nach einer Skizze von finnischen Erfolgsbeispielen (v.a. in „Nordkarelien“) der Umsetzung einer solchen widmet er sich für den weiteren Verlauf seines Beitrags der Frage, was aus der Public Health-Strategie zur HIV-Prävention und Gesundheitsförderung der 1980er Jahre für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie zu lernen ist. Er ist bzgl. der hier verfolgten Strategie der „Infektionsvermeidung“, die bis zur Zulassung von Impfstoffen in der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie vorherrschte (und vor der die Endredaktion des Bandes stattfand), sehr kritisch. Unter Bezugnahme auf ein Papier einer hochrangigen Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern um Prof. Matthias Schrappe (et al. 2020), einen ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des regierungsberatenden Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung Gesundheitswesen (SVR-Gesundheit), weist er auf die paradoxen Folgen dieser Strategie hin, dass nämlich durch diese Strategie „die vulnerablen Gruppen mit degenerativen, chronischen oder anderen Vorerkrankungen […] einer fortlaufenden Bedrohung“ (Geene: 448) ausgesetzt würden. Im weiteren Verlauf plädiert er dafür, die partizipatorischen Elemente der erfolgreichen AIDS-Prävention auf die Covid-19-Problematik zu übertragen. Zu diesem Zweck hat sich auch das „Kompetenznetz Public Health zu Covid-19“, ein Zusammenschluss aus über 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften, etabliert. Die in der Pandemie zu beobachtende „Solidarität mit vulnerablen Gruppen“ (ebd.: 452) sei ein guter Ansatzpunkt und ermutigend für eine Etablierung einer umfassenden HiAP-Strategie in Deutschland. Trotz der zweifellos hohen Bedeutung von HiAP für eine Publich Health Policy kann Geenes Beitrag nicht richtig überzeugen. Denn erstens steht die im hinteren Teil herausgehobene hohe Solidarität mit vulnerablen Gruppen in einem gewissen Spannungsverhältnis mit den zu Beginn geäußerten Kritiken an der Strategie der „Infektionsvermeidung“, die ja gerade – in dieser Argumentationslogik – die vulnerablen Gruppen schädigte. Aber selbst wenn zugestanden wird, dass nur die Strategie falsch war, die vorhandene Solidarität also wirklich fassbar blieb, ist – zweitens – eine Übertragung der AIDS-Präventionsstrategie auf die Covid-19-Pandemie etwas fragwürdig. Denn bei Covid-19 handelt es sich um eine schwere Atemwegserkrankung, die durch Aerosole übertragen wird, während das AIDS-auslösende HIV-Virus vor allem über kontaminiertes Blut und manche Körperflüssigkeiten weitergegeben wird. Es wäre schon etwas mehr Differenzierung nötig, die AIDS-Präventions-Strategie auf die Situation der Covid-19-Pandemie zu übertragen. Grundsätzlich erblickt Geene trotz einiger Imitationen des HiAP-Ansatzes, die insbesondere in der „sozial ungleich“ verteilten „Krankheitslast“ (ebd.: 453) bestünden, Potenziale. So könne der universelle Charakter einer „potenzielle[n] Gesundheitsbedrohung“ (ebd.: 454) – wie eben auch Covid-19 – zu einer gesellschaftlichen Anstrengung führen, HiAP gewissermaßen im großen Stil einzuführen.

Zwei weitere Beiträge des dritten Teils setzen sich explizit mit den Public-Health-Implikationen der Covid-19-Pandemie zu diesem frühen Zeitpunkt (und noch ohne die Option der Impfung) auseinander. Joachim Larisch (513ff.) wagt den (frühen) Versuch, Aspekte internationaler Gesundheitszusammenarbeit während des „‚Corona’-Ausnahmezustand[s]“ (ebd.: 513) zu erörtern. Eine europäische oder gar globale Zusammenarbeit habe in den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie nicht stattgefunden. WHO-Empfehlungen spielten bei der Lockdown-Entscheidung in Deutschland keine Rolle (ebd.: 519). Zeitaktuell betrachtet sind jene Empfehlungen – „lokale und regionale Ermittlung infizierter Personen, ihre Isolierung zur Unterbrechung von Infektionsketten und ihre medizinische Behandlung sowie die Identifizierung und gegebenenfalls Isolierung von unmittelbaren Kontaktpersonen im Mittelpunkt der Maßnahmen“ (ebd.) – laut Larisch nicht angewandt worden, sondern stattdessen panikgetrieben ein allgemeiner Lockdown durchgeführt worden. Er hält den „temporären (vollständigen) ‚lock down‘“ (ebd.: 520) für nicht sachgemäß und insbesondere werde der Verzicht auf „nicht pharmazeutische Interventionen“ (ebd. 521) – zumindest – auf globaler Ebene bald „Verteilungskämpfe“ um Impfstoffe u.Ä. hervorbringen (ebd.). Während diese Einschätzung zweifellos zutrifft und prophetisch anmutet – wenn auch kaum überraschend ist -, hält der Rezensent die unterstellte Missachtung der WHO-Empfehlungen bei der deutschen Anti-Covid-19-Maßnahmen für einen schlecht recherchierten Mythos. Dass diese Empfehlungen aufgrund verschiedener Implementationshindernisse (u.a. fehlende Digitalisierung und Personalmangel) nicht flächendeckend umsetzbar gewesen sind (und insbesondere die pauschale Einschränkung der Reisefreiheit dem Völkerrecht widersprochen hat), mag sein, bedeutet aber noch lange nicht, dass die WHO-Empfehlungen in toto nicht beachtet wurden. Daher ist auch die Auffassung, eine „solide, evidenzbasierte Basis für den Ausnahmezustand“ (ebd.: 518f) habe in Deutschland nicht bestanden, zumindest missverständlich. Die naheliegende Frage, ob daher aber der Lockdown nicht nötig war, lässt der Autor – glücklicherweise ? – offen. Zweifellos stimmt es, dass aufgrund erheblicher Defizite im Öffentlichen Gesundheitsdienst das „oberste Ziel der Maßnahmen die Verlangsamung des Anstiegs der Infektionen“ (ebd.: 517) zur Sicherung der Zugänglichkeit der „Kapazitäten der stationären gesundheitlichen Versorgung“ (ebd.: 520) qua Lockdown war. Larisch plädiert zukunftsgerichtet dafür, deren prioritäre Inanspruchnahme durch Covid-19-Patient:innen nicht zum Standardansatz zu machen, schon gar nicht weltweit, denn dann würden „die Behandlungsmöglichkeiten von Patienten mit anderen Erkrankungen“ und „die globalen Anstrengungen zur Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten wie z.B. Malaria, HIV, Tuberkulose und Masern“ (ebd.: 521) reduziert. Ein sinnvoller Reflexionsbeitrag zur vorherrschenden Strategie der Pandemie-Bekämpfung. Insgesamt legt die Pandemie eine internationale (globale und europäische) Koordination nahe, „auch wenn die gegenwärtigen politischen Entwicklungen nicht optimistisch stimmen.“ (Ebd.: 522) Der dramatisierende Schlusssatz des Beitrags: „Nicht immer wächst angesichts der Gefahren das Rettende auch“ (ebd.), steht freilich in merkwürdigem Kontrast zur anfänglichen These einer unzureichenden Evidenzbasierung für den allgemeinen Lockdown in Deutschland, wenn damit nicht nur die mangelnde Datenbasis gemeint ist. Sinn ergibt der Schlusssatz nur in Bezug auf die strukturell mangelhafte internationale Kooperation zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vor, während und nach der Covid-19-Pandemie. Die Perspektive von Global Public Health ist folglich immer noch nicht rosig.

Die beiden Herausgeber, Friedrich Schorb und Hennig Schmidt-Semisch, widmen sich in ihrem Beitrag zum Ende des Bandes (525ff.) einem heiklen, aber medizinsoziologisch klassischen und – im Angesicht der Debatte(n) um eine universelle Impfpflicht – überaus aktuellen Thema, nämlich Aspekten der „Punitivität im Kontext der Covid-19-Pandemie“ (ebd.: 525). Krankheit und Kriminalität sind auf den ersten Blick – so die Autoren – unterschiedliche Phänomene, die auch unterschiedlich gesellschaftlich reguliert werden. Doch so einfach scheint es nicht zu sein. Denn das verschämte Pendant zur „Klassenjustiz“ ist – wie sie historisch mit Bezugnahme auf einen aufklärerischen utopischen Roman von Samuel Butler („Erewhon or Over the Range“) – die „Punitiivität“ von Erkrankten, die „selbst dran schuld“ (Schmidt-Semisch 2000) sind. Doch das ist eigentlich nicht ganz modern. Denn die „Zuschreibung von Verantwortung“, wie sie unter Bezug auf die Kriminologie feststellen, ist bei beiden recht unterschiedlich: „Der Kriminelle wird für ein gewolltes Handeln zur Rechenschaft gezogen, dem Kranken aus einem ungewollten Zustand, an der er selbst leidet und aufgrund dessen ihm sein abweichendes Verhalten für eine gewisse Zeit nachgesehen wird, herausgeholfen; der Kriminelle wird bestraft“, so zitieren Schorb und Schmidt-Semisch (527) den Kriminologen Hess (1983: 15) , „der Kranke behandelt“. Doch die Grenzen verschwimmen seit einiger Zeit zwischen beiden Kategorien, vor allem wegen mehr medizinischen Wissens, das Behandlungen vielfältiger „Risiken“ verspricht und wegen der Anforderung nach „Eigenverantwortung“ in einer fiskalisch restringierten Kranken- und Gesundheitsversorgung. Es bildet sich eine sozial normierte Moral heraus, die eine „individuelle Pflicht zur Gesundheit“ (Schrob/Schmidt-Semisch.: 528) begründet – der „neosoziale Sozialstaat“ (Lessenich 2008) grüßt erneut. Kranke werden als „‚tatverdächtig‘“ betrachtet „‚aufgrund ihrer mangelnden Anstrengungen zur gesundheitlichen Selbstoptimierung‘“ (Schmidt 2010: 31, zit. n. Schorb/Schmidt-Semisch: 528) getrieben. Das galt vor der Pandemie bereits für manche chronisch Erkrankte und in der Pandemie nun auch für viele Menschen, unter ihnen Covid-19-Infizierte, Kontaktpersonen oder auch ansonsten Unbescholtene, aber mit Präventionsmaßnahmen Überzogene. Die „Punitivität“ der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist Schorb und Schmidt-Semisch zufolge zudem durch eine soziale Schieflage geprägt. Nicht nur gehören sozial Benachteiligte zu den am stärksten Gefährdeten, auch die „wirtschaftlichen Folgen der Infektionsschutzmaßnahmen“ (ebd.: 532) treffen sie besonders stark (prekäre Beschäftigung, geringes Einkommen, fehlende Kinderbetreuung etc.). Doch hier stoppt die Bedeutung der „soziale[n] Frage“ (ebd.: 531) in der Pandemie noch nicht. Die vielfach durchgesetzte und bis in den Mainstream der Wissenschaft höchst umstrittene, mittlerweile weitgehend für falsch gehaltene, „Schließung von Bildungseinrichtungen“ (ebd.: 532) verringert die sowieso schon schlechten Bildungschancen sozial niedrig gestellter Schichten. Zudem zeigte sich, dass gerade in ärmeren Vierteln von Großstädten die Lockdowns besonders rigide überwacht wurden. Das bekannte Hochhaus in Göttingen ist ein trauriges deutsches Beispiel dafür. Ist das alles aber nun nur „Punitivität“ oder unvermeidbare Begleiterscheinung eines notwendigen öffentlichen Gesundheitsschutzes? Schorb und Schmidt-Semisch geben keine endgültige Antwort. Die Nutzung von digital gesteuerten Überwachungssystemen in China, die sie beschreiben (ebd.: 535f.), und die Debatte um einen „Immunitätsausweis“ (ebd.: 536), der die Bewegungsfreiheit in Gesellschaften regulieren, seien – wie mittlerweile in der 3. und 4. Welle für alle EU-Bürger:innen erfahrbar gewesen – kategorial als Punitivätsmaßnahmen einzuordnen. Ob es zu diesen eine Alternative gegeben habe, lassen die Autoren leider offen. Einen Hinweis auf die vermeidbaren staatlichen „Bestrafungsstrategien“ (KM) deuten sie zum Schluss ihres Beitrags an, wenn sie – völlig zutreffend – darauf hinweisen, dass die Covid-19-Eindämmungspolitik sich vor allem an individualisierenden Präventionsmustern orientiert: „Sanktioniert und problematisiert werden in erster Linie individuelle Verhaltensweisen, während strukturelle Risiken (etwa die Zustände in Massenunterkünften, Lagerhallen, Paketzentren oder Schlachthöfen) weitgehend akzeptiert werden.“ (Ebd.: 537)

Dass die harschen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auch mit strukturellen Problemen im Gesundheitswesen zu tun haben könnten, zeigen – wenn auch leider mehr implizit als explizit – Benjamin Wachtler und Nadja Rakowitz (475ff.) vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ) in ihrem Beitrag zum Zusammenhang von Ökonomisierung des Gesundheitswesens und Public Health. Zunächst schelten sie die forschungsstarke Public Health-Wissenschaftlergemeinde dafür, dass deren Protagonisten das „Prinzip der Parteilichkeit“ (ebd.: 478), das historisch von Anfang an bei der Sozialmedizin und auch noch der kritischen Public Health-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre vorhanden gewesen sei, aufgegeben hätten. Nach Lektüre dieses Bandes kann eine solche pauschale Schelte freilich nur überraschen, sind doch allenthalben Strategien und Prinzipien der Anwaltschaft und Partizipation von Betroffenen und Klienten eingefordert. Public Health ist vom Anspruch her durchaus sozialkritisch angelegt. Etwas substanzieller wird das Argument dort, wo der Autor und die Autorin sich in Anlehnung an die – tatsächlich großartige – Tradition der Politischen Ökonomie des Gesundheitswesens anlehnen und die von „gesellschaftlicher Ungleichheit negativ Betroffenen, Benachteiligten, Ausgebeuteten und Unterdrückten“ (ebd.) als ihre Zielgruppe identifizieren. Hiermit machen sie natürlich ein großes Fass auf und unterstreichen – zurecht allerdings, wie der Rezensent meint -, dass gesundheitliche Ungleichheit und soziale Determinanten von Gesundheit und Krankheit stärker in den Forschungsfokus und die Public Health-Praxis gesetzt werden sollten. Insbesondere wird der Bericht der sog. Commission on Social Determinants of Health der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2008 hervorgehoben, der – geleitet von dem renommierten britischen Arzt und Sozialepidemiologen Sir Michael Marmot – sogar das „Konzept des ‚sozialen Mordes‘ von Friedrich Engels wieder aufgreift“ (Wachtler/Rakowitz: 486), ohne jedoch – so ihre Kritik – zu sagen, „wer die Verantwortung für diese ‚sozialen Morde‘“ (ebd.) trage. Doch auch sie sagen es nicht explizit, dabei ist wohl klar, welchen Mechanismus sie meinen: es ist „der“ Kapitalismus. Nun ist unbestritten, dass „der“ Kapitalismus, d.h. seine institutionell und historisch stets spezifischen Produktions- und Reproduktionsmechanismen, soziale Ungleichheit hervorbringt. Freilich schießt ihre Kritik ein wenig über das Ziel hinaus, wenn diese radikale Sichtweise aus den USA unbesehen und unbegründet in das wohlfahrtsstaatlich weitaus stärker geprägte Europa übertragen wird. Die Argumentation ist hier eher apodiktisch denn argumentierend und es bedürfte weiterer Argumentationsschritte, die tatsächlich zunehmende soziale (und gesundheitliche) Ungleichheit in Nordamerika und Europa zu erklären. Dies ist nötig und möglich, aber sie unterlassen es.

Der Abschnitt über die „Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung“ (Wachtler/Rakowitz: 479ff.) zeigt hingegen, dass die „Wendung zur neoliberalen angebotsorientierten Politik seit den 1980er Jahren“ (ebd.: 480) das eigentliche Übel ist. Wobei der Begriff des „Neoliberalismus“ ziemlich unklar bleibt; auch hier wäre etwas mehr theoretische Erläuterung und begriffliche Präzision wünschenswert gewesen. Die Beschreibung von Ökonomisierungstendenzen in der ambulanten Medizin und vor allem im Krankenhaussektor hingegen überzeugt durch die zugespitzte Beschreibung von Steuerungsmechanismen, die u.a. bewirken, dass Krankenhäuser nur ökonomisch rational handeln, „wenn sie einerseits ihre Einnahmen steigern, was sie nur durch höhere Fallzahlen erreichen können, und andererseits ihre Kosten senken; also sparen sie vor allem am Pflegepersonal“ (ebd.: 482). Die Vermeidung der Überlastung der stationären Versorgung als oberstes Ziel der Pandemie-Politik, im Übrigen nicht nur in Deutschland, welches OECD-weit, neben Japan, die meisten Krankenhäuser (pro Einwohner) hat, begründet sich auch aus dem hausgemachten Mangel an Pflegepersonal, der im weiteren Verlauf der Pandemie zum großen Problem geworden ist. Was freilich irritiert am Beitrag von Wachtler und Rakowitz ist die unzureichende Behandlung des „Kerngeschäfts“ von Public Health, von Prävention und Gesundheitsförderung. Hiermit stellt sich ihr durchaus lesenswerter Artikel etwas quer zur Systematik des Sammelbandes. Dabei ist auch in Prävention und Gesundheitsförderung eine manifeste Ökonomisierungstendenz auf einem sozialen Wohlfahrtsmarkt zu beobachten (Mosebach/Walter 2021: 115ff.).

Public Health ist eine normative Wissenschaft, die – trotz der Kritik von Wachtler und Rakowitz – auch Partei ergreift. Strittig ist höchstens, für wen und mit welchen Mitteln und Erwartungen Partei ergriffen wird. Die Beiträge von Rainer Müller und Joachim Larisch einerseits und von Uwe H. Bittlingmayer, Florian Schumacher und Gökcen Yüksel andererseits versuchen nun tatsächlich diese Normativität und Parteilichkeit sozialtheoretisch auszubuchstabieren. Rainer Müller und Joachim Larisch (459ff.) versuchen die Diskurs- und Demokratietheorie Jürgen Habermas und Bernhard Peters (460ff.) mit ökonomischen Konzepten von Public Health als einem „öffentlichen Gut“ (465ff.) zu verbinden. Normativ wird dabei Gesundheit verstanden „als Entwicklung und Sicherung des Humanvermögens im Lebenslauf“, welches die „gesundheitswissenschaftliche(r) Forschung und Praxis“ (Müller/Larisch: 469) anleiten solle. Gesundheitswissenschafltiche Interventionen zur Stärkung des Humanvermögens (nach Franz Xaver Kaufmann, 2009) sollten den (i) rechtlichen Status, (ii) die Einkommensverhältnisse, (iii) die materielle und soziale Umwelt und (iv) die Handlungskompetenz verbessern (ller/Larisch: 470). Wie diese Maßnahmen jedoch im Verhältnis stehen zum Konzept der „politischen Öffentlichkeit“, insbesondere auch ihrer digitalen Konstitution und warum und wie die „transdisziplinäre ‚konzertierte Aktion‘ der beteiligten Fachdisziplinien“ von Public Health aussehen müsste, um „diese Herausforderungen“ (ebd: 471) zu bewältigen, bleibt nicht nur offen, sondern wird im Text gar nicht thematisiert. Viele offene Fragen stehen im Raum, die gerade im Artikel von Wachtler und Rakowitz angerissen werden. Wie lässt sich in dem normativen Rahmen von Müller und Larisch die Herausforderung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Dynamiken und Desintegrationsprozesse integrieren, die Jürgen Habermas mit seiner kritischen Theorie der Öffentlichkeit zumindest andenkt? Viele argumentative Linien und Brüche zeigen sich im Text und die Antworten fallen aus. Insofern kommt der Text über eine bloße sozialtheoretische Skizze nicht hinaus und erfordert noch eine große begriffliche Anstrengung, um eine kohärente normative Theorie begründen zu können. Möglicherweise hat der plötzliche Tod des diese Gedanken mutmaßlich initiierenden Erstautors (Rainer Müller), dem dieser Band gewidmet ist, eine fruchtbare Weiterentwicklung des Beitrags verhindert.

Zurück zu den sozialtheoretischen Wurzeln der Kritischen Theorie eines Max Horkheimer gehen dagegen Uwe H. Bittlingmayer, Florian Schumacher und Gökcen Yüksel (493ff.) mit ihrem Vorschlag, eine normative Theorie von Public Health als eine „Neuauflage des interdisziplinären Materialismus“ (ebd.: 493) im Sinne einer gesundheitsbezogenen „Gerechtigkeitstheorie“ zu begründen. Ihr ambitionierter, gut lesbarer und kritisch-reflektierter Beitrag zielt darauf ab, jenseits von „Kapitalismusforschung und Herrschaftsanalyse“ (ebd.: 508) eine „theoretische Analyse und empirische Bestimmung der Gesundheits-, Autonomie- und Freiheitsgrade von Gegenwartsgesellschaften“ (ebd.) zu entwickeln, um entsprechend gerechte Gesellschaften zu ermöglichen, in denen – so möchte der Rezensent es fassen – ein sozial gerechtes und selbstbestimmtes gesundes Leben aller möglich ist. Dies ist den Autoren zufolge keine „Phantasmagorie“ (ebd.: 506) und auch kein „Universalschlüssel zur Gesellschaftskritik“, sondern ein theoretisches und empirisches Arbeitsprogramm zur Revitalisierung kritischer und auch konstruktiver Gesundheitswissenschaft. Sie knüpfen einerseits an verschiedene kritische Zeitdiagnosen an und versuchen deren Sozialkritik, Künstlerkritik und Radikalkritik mit den gerechtigkeitstheoretischen Bausteinen des Capability-Ansatzes von Amartya Sen und Martha Nussbaum zu verbinden. In der sozialwissenschaftlichen Literatur über den Zustand „aktuelle[r] Formen der Vergesellschaftung“ (ebd.: 495) kommen diese nicht besonders gut weg. Diagnostiziert wird u.a. eine zunehmende „Schere zwischen Arm und Reich national und international“, eine „alarmierende Kinder- und Jugendarmut sowie Altersarmut“ (ebd.: 496). Auch die „seit mittlerweile sechzig Jahren (!) andauernden Beschwerden über soziale Ungleichheiten im Bildungssystem“ (ebd.) zeugten von der Aktualität der „Sozialkritik“. Freilich habe diese bislang kaum „Auswirkungen auf die realen Verhältnisse“ (ebd.), die die soziale Ungleichheiten hervorbrächten. Aus Public Health-Perspektive korrespondiert diese Sozialkritik mit der sozialepidemiologischen Diagnose zunehmender sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten (v.a. Wilkinson/Pickett 2010), wie auch Wachtler und Rakowitz in demselben Band hervorheben. Jenseits von Verteilungsfragen wird im Anschluss an die „Marxsche(n) Entfremdungskritik“ (ebd.: 497; kursiv im Original), eine Art „Künstlerkritik“ (Boltanski/Chiapello 2003) formuliert, die auf die beschränkten Autonomie- und Freiheitsgrade der Menschen abzielt. Bittlingmayer et al. halten insbesondere die theoretischen und empirischen Überlegungen von Hartmut Rosa (2005, 2009) für geeignet, „das Gelingen menschlicher Lebensführung“ (Bittlingmayer/Schumacher/Yüksel: 497) in den heutigen Gesellschaften zu problematisieren. Sie sehen bei seiner Hervorhebung von „gesamtgesellschaftlichen Beschleunigungen“ (ebd.) gesundheitswissenschaftlich relevante Anknüpfungspunkte, insofern jene „von Kontrollverlust, Verlust von Autonomie und Erhöhung des individuellen Stresslevels“ (Rosa 2009: 112, zit.m. Bittlingmayer/Schumacher/Yüksel: 497) begleitet seien. Sie plädieren dafür, Rosas Kritik unter Hinzuziehung des gesundheitswissenschaftlichen Konzeptes der Salutogenese gesundheitswissenschaftlichen zu systematisieren (ebd.: 498). Schließlich konstatieren sie eine dritte Kritikvariante in den Sozialwissenschaften, die sie als „Radikalkritiken“ (ebd.) kennzeichnen und der es um die radikale Kritik und weniger um die „reformerische“ Verbesserung der Gesellschaft gehe. Um die in der sozialwissenschaftlichen Literatur jedoch zum Ausdruck kommende Gesellschaftskritik gesundheitswissenschaftlich fruchtbar zu machen, integrieren sie die Grundbedürfnisse von Menschen, die die Gerechtigkeitstheoretikern Martha Nussbaum im Anschluss an Amartya Sen aufgestellt hat, in ihren theoretischen Analyserahmen. „Nussbaums Liste“, so die Autoren, „beinhaltet in der Lesart einer allgemeinen Public Health-Perspektive eine gerechtigkeitstheoretische Grundierung eines individuellen Anspruchs auf multidimensional verstandene Gesundheit.“ (Ebd.: 501) Diese normativen Setzungen von Nussbaum erscheinen ihnen jedoch als zu wenig auf die sozialen Ungleichheitsdynamiken in heutigen Markt-Gesellschaften bezogen, so dass sie für eine konzeptionelle Rekalibrierung dieser Grundbedürfnisse im Sinne einer „konkretistische[n] und selektive[n] Interpretation der Ottawa-Charta“ plädieren. Erstens gelte es, die gesunden Entscheidungen auch als die einfacheren zu gestalten, indem z.B. die Nahrungsmittelproduktion umgestellt, die Arbeitsbedingungen singstiftender und insgesamt die gesellschaftlichen Verhältnisse diese Wahlentscheidung unterstützen sollten (ebd.: 504f.). Zweitens sollten die Individuen, Gruppen und Klassen im Sinne der Ottawa Charta „Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen“ (ebd.: 505) erlangen und nicht den sozial selektierenden Dynamiken der „Lotterie der Geburt“, der „Bildungsinstitutionen“ und der „Arbeitsmärkte(n)“ (ebd.) ausgesetzt sein. Gesellschaftliche Institutionen sollten daher vor allem von „individuellen Bedürfnissen selbst gesteuert werden“ (ebd.; kursiv im Original). Im Hinblick auf die Bedürfniskriterien von Nussbaum und den von ihnen erweiterten Aspekten sozial selektierender Bedürfniserreichung folge „daraus wenig spektakulär, dass Deutschland keine gerechte Gesellschaft ist.“ (Ebd.: 503f.) Eine soziologisch gut belegbare These. Sie hoffen drittens darauf, empirische Indikatorensets entwickeln zu können, um die „Beschaffenheit gesellschaftlicher Institutionen mit der Erfassung individueller Gesundheit zu verschränken“ (ebd.: 506), um gewissermaßen – so ließe sich denken – Leitfäden an die Hand zu bekommen, nach denen die Weiterentwikcklung von gerechten Institutionen möglich wäre; eine Art „linkes Benchmarking“ (Hans-Ulrich Urban)? Sie wissen dabei selbst, dass ihre normative Konzeption „eine ganze Reihe unangenehmer Fragen“ aufwerfe und viele „offene(n) Baustellen“ zeige. Sie fordern visionäre Bilder „gerechter Institutionen“ (ebd.; kursiv im Original), die gleichsam einen Impuls geben sollen, um den gesellschaftlichen Wandel überhaupt erst anzuschieben. Neben dieser Frage nach dem Weg in die gerechten Institutionen sind weitere Problem zu bewältigen, so die Frage nach der Kombinationsmöglichkeit von „Freiheitsgraden und Gleichheitsdimensionen“ (ebd.: 507) in „westlich-kapitalistischen Demokratien“. Der Hinweis auf die Kontingenz der Geschichte ist – bei aller theoretischen Berechtigung des Arguments – natürlich etwas sehr pauschal, um die Wahrscheinlichkeit des Aufbaus von gerechten Institutionen in diesen Gesellschaften zu plausibilisieren. Bittlingmayer/Schumacher/Yüksel haben mit ihrem anregenden Beitrag auf ein großes Defizit der Public Health-Politik hingewiesen, nämlich dass in Bereich der primären Prävention und Gesundheitsförderung konkrete Reformkonzepte vorlägen, aber vor allem „Vollzugsdefizite“ (Rosenbrock/Gerlinger 2014: 111) ihre Umsetzung blockierten. Nach der Installierung des nationalen Präventionsgesetzes im Jahr 2015 wäre es vielleicht an der Zeit, nicht nur mit der akademischen „konzertierte Aktion“ der Fachgesellschaften, von der Müller und Larisch (471) in ihrem Beitrag sprachen, ernst zu machen, sondern auch die „von gesellschaftlicher Ungleichheit negativ Betroffenen, Benachteiligten, Ausgebeuteten und Unterdrückten“ (Wachtler/Rakowitz: 478) mit – um im Bild zu bleiben – ins „institutionelle Boot“ zu holen. Wie es indes gelingen kann, eine neue „Gesundheitsbewegung“ in schwierigen Zeiten zu etablieren, ist offen. Sicher ist nur, dass es ohne Politik nicht möglich sein wird, z.B. das institutionelle Prokrustebett des nationalen Präventionsgesetzes zum Katalysator von „gerechten Institutionen“ zu machen oder Health-in-All-Policies in Deutschland zu etablieren. Es bleibt noch viel zu tun. Das besprochene Buch zeigt Möglichkeiten und Grenzen auf und regt zum Nachdenken an; mehr kann ein Buch nicht leisten.

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Tanja Klenk und Emmanuele Pavolini haben als Herausgeber/in in ihrem Sammelband einen Aspekt europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit in den analytischen Fokus gestellt, der gern und oft in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung im Schatten verharrt: die Organisation öffentlicher Dienstleistungen. Das leitende Forschungsinteresse des Sammelbandes richtet sich auf die Effekte von New Public Management auf die organisationsintere Rolle von Professionen und deren Effekte auf die Dienstleistungserbringung. Neben den klassischen Bereichen der Kranken- und Pflegeversorgung widmen sich die Beiträge des Bandes auch den Feldern: Schulpolitik, Hochschulpolitik und Arbeitsvermittlung. Der meisten Beiträge des Sammelbandes fokussieren auf Veränderungsprozesse des Bildungssystems, welche sich ebenfalls am Reformleitbild des New Public Management orientieren.

Es ist gelungen, einen (weitgehend) systematischen Zugang zu diesen Feldern zu organisieren: Überblicksbeirägen im ersten Teil folgen vertiefende Fall(vergleichs)studien im zweiten. Der Beitrag von Mirko Noordegraaf zu Beginn des II. Teils kann als Einführung in die Veränderung von Steuerungsversuchen professioneller Berufsgruppen gelesen werden. Seine These ist, dass sich – sektor- und feldübergreifend – eine „New Governance of New Professionalism“ etabliert habe, die mit komplexen und zahlreichen Fällen konfrontiert werde und eine kollaborativ-wissenschaftliche Expertise, eine Fallpriorisierung und zunehmend auch eine Präventivorientierung hervorbringe.

Im Überblicksbeitrag von Emmanuele Pavolini werden die marktbasierten Gesundheitsreformen in Deutschland, England, Italien und Schweden skizziert, die bei aller Unterschiedlichkeit ähnliche institutionelle und organisatorische Reformen nach sich gezogen haben. Dezentralisierungs- und Vermarktlichungsprozesse zielten vor allem auf eine (wettbewerbsgetriebene) Kostendämpfungspolitik, die jedoch in national unterschiedliche Reformziele eingebettet bleibt. Während Kostendämpfungsgesichtspunkte vor allem in sozialversicherungsbasierten Systemen eine Rolle spielten (wobei der alleinige Zugriff auf Deutschland hier nicht überzeugen kann), würden staatlich organisierte Gesundheitssysteme auch Gleichheitsgesichtspunkte beachten (Schweden, England, aber auch Italien). In der Folge komme es zu äußerst widersprüchlichen Zielsetzungen, die auch die Professionen im Gesundheitssystem, allen voran die Ärzteschaft betreffe. Finanzielle Nachhaltigkeit stehe dabei oftmals im Widerspruch zu normativen Anforderungen eines gleich zugänglichen Gesundheitssystems, qualitativ hochwertiger Leistungen und der traditionellen Handlungs- und Entscheidungsautonomie der Ärzteschaft.

Ellen Kuhlmann und Viola Burau zeichnen diese konfliktiven Szenarien noch schärfer, indem sie – in Anlehung an die Governementality-Studies – auf den Wissens-Macht-Komplex zwischen Gesundheitsprofessionen und (kontrollierenden) Managern fokussieren. Im Hinblick auf strukturelle Veränderungen in Richtung eines evidenzbasierten Medizinmodells zeigen sie, dass die ursprünglich auf Kontrolle ausgerichteten Instrumentarien des neuen Modells, sie sprechen von „soft power of knowledge“, keineswegs die Macht und Autonomie der Ärzteschaft bzw. von Gesundheitsprofessionen insgesamt in Frage stellt. Aufgrund der notwendigen technischen Expertise dieser „disembodied knowledge“ – auch als „Evidenbasierung“ vs. „Eminenzbasierung“ bekannt – würden neue Akteure (kontrollierende Bürokratien) entstehen, aber die rationalistische Form des Wissens würde doch weiterhin die grundsätzliche Machtposition der Ärzteschaft nicht anrühren.

Auf dem Feld der (altenfokussierten) Langzeitpflege skizziert Hildegard Theobald im ersten Teil des Sammelbandes die strukturellen Veränderungen in europäischen Gesundheitssystemen und ihre Konkretisierung in drei europäischen Ländern: Schweden, Deutschland, Österreich. Reformanstrengungen in diesem Feld sind zum einen gekennzeichnet durch Kostendämpfungsinteressen und der normativen Zielsetzung des Empowerment von Bedürftigen bzw. Angehörigen, welche sich jedoch in jenen generellen Trend einpasst. Empowerment konkretisiert sich hier oft in der Form von (verbesserten) Wahlrechten zwischen professionellen Anbietern, die zunehmend privatwirtschafltich organisiert sind, und angeleiteter Selbsthilfe. Die Auswirkungen auf die Pflegekräfte auf diesem Feld sind ausgesprochen ambivalent. Einerseits ergibt sich – auch durch die Verwissenschaftlichung und Qualitätsorientierung der Pflege – eine größere Spannweite von Berufsperspektiven, andererseits führt diese Ausdifferenzierung der Berufsrolle zu Re-Hierarchisierungs- und Prekarisierungsprozessen unter den Pflegekräften. Im zweiten Teil ist leider keine Vertiefung zu diesem Politikfeld vorhanden, so dass auf Theobalds Überblickbeitrag zurückgegriffen werden muss.

Bastian Jantz und Tanja Klenk zeigen in ihrem Beitrag zunächst, dass NPM-Instrumente auch in der Vermittlung von Arbeitssuchenden in Europa eine bedeutsame Verbreitung gefunden haben. Die Einführung von Quasi-Märkten verläuft dabei jedoch nicht homogen, sondern entlang nationaler Entwicklungspfade und kann getrieben von der Nachfrageseite (Arbeitssuchenden), Angebotsseite (Arbeitgeber) oder staatlich eingebettet sein. Entsprechend unterscheiden sie unterschiedliche „market models“, deren Konfiguration für Dänemark, Deutschland und Großbritannien näher untersucht wird. In allen drei Ländern haben sich im Rahmen von NPM-Reformen nicht nur die institutionellen und organisatorischen Muster aktiver Arbeitsmarktpolitik in Richtung interner Märkte verändert, sondern mit privatwirtschaftlichen Arbeitsagenturen auch neue Akteure herausgebildet sowie die Rollen von Arbeitssuchenden und Arbeitsvermittlern verändert. Grundsätzlich – konstatieren die Autorin und der Autor – neigten privatwirtschaftliche Anbieter dazu, sich auf einfache, kostengünstige Vermittlungsfälle zu konzentrieren. Mehr noch: „evaluation studies indicate that service provision by private providers is not superior“ (112). Die Aktivierung von (Langzeit)-Arbeitslosen entspricht zudem nicht dem Bild des „Kunden“, denn es gilt eine asymmetrische Machtverteilung zwischen diesem und jenen Arbeitsvermittler*innen, die Sanktionsgewalt haben. Die Vergleichsergebnisse zeigen, dass die Arbeitsbedingungen von Fallmanagern in diesem Feld besonders durch bürokratisch empfundene Dokumentationsarbeit sich verschlechtert – kein überraschender Befund als Ergebnis von NPM-Reformmaßnahmen der Outputsteuerung. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Arbeitsvermittler*innen selbst prekarisiert und Karrieremöglichkeiten erdrückt werden, so dass die Jantz und Klenk von „pressured professionals“ (113) sprechen. Letzlich offenbare sich ein Spannungsverhältnis zwischen politisch reguliertem Wettbewerb und dem Bedarf nach Reduzierung sozial unerwünschten Risiken in der Arbeitsvermittlung.

In dem parallelen Beitrag von Hennig Joregensen, Kelvin Baadsgaard und Iben Norup wird dieser Prozess der De-Professionalisierung von arbeitsvermittelnden Fallmanagern am Beispiel der dänischen aktiven Arbeitsmarktpolitik nochmals nachdrücklich belegt. Im einst gelobten „darling of European ‚flexicurity’ talk“ (163) haben mit den Reformen einer rechtskonservativen Regierung im Jahr 2001 NPM-Maßnahmen Einzug gehalten und die Sozialpartner entmachtet, die auch die Personalstruktur von Arbeitsagenturen und Rolle der Arbeitsvermittler restrukturierten. Die bislang dominierenden Sozialarbeiter*innen, welchen die Autoren einen hohen ethischen Standard und eine explizite Klientenzentrierung unterstellen, werden insofern deprofessionalisiert als die Standardisierung von Leistungen und die Output-Kontrolle einen direkten Klientenbezug erschweren. Gleichzeitig betreten weniger ethisch geschulte Fallmanager das Terrain der nunmehr kommunal organisierten Arbeitsagenturen und auch Kontrollmanager*innen werden organisatorisch aufgewertet (reprofessionalisiert), so dass „organizational efficiency based on the standards of the organization“ (179) im Vergleich mit bedarfsorientierter Klientenorientierung bedeutsamer werde. Die Autoren sehen in der Durchsetzung von NPM-Mechanismen im Rahmen von „work first“-Strategien (164) und der personalpolitischen Infragestellung ethisch geschulter Sozialarbeiter*innen eine Gefahr für die Klientenorientierung, denn deren Rechtsanspruch auf Unterstützung hänge nicht nur von gesetzlichen Regeln, sondern auch vom professionell gelebten Ethos ab.

Der Beitrag von Roberto Mascati, Alberto Stanchi, Matteo Turri, Massimiliano Vaira und Emmaneuele Pavolini widmet sich dem konvergenten „Governance Model“ des europäischen Universitätssystems und ist vor dem Hintergrund des – auch in Deutschland nicht unumstrittenen – Bologna-Prozesses mit Gewinn zu lesen. In Anlehnung an Reformkonzepte des New Public Management hat insbesondere die (oftmals auch nicht-akademische) Leitung der Universitäten an Bedeutung zugenommen, was die nicht nur die (kollegiale) Autonomie, sondern auch die Selbstverwaltungsstrukturen in ihnen schwächt. Die Unterschiede sind hier zwischen den Ländern noch erkennbar, der – widersprüchliche – Entwicklungstrend gehe aber dahin, die institutionelle Unabhängigkeit zu stärken, zugleich jedoch über Qualitätssicherungsmaßnahmen und Evaluationsprogramme die staatliche Kontrolle zu verstärken (Output-Orientierung), externe Stakeholder in Steuerungsgremien zu holen und den Führungsstil in Richtung privatwirtschaftliches Management (stärkere Konfliktorientierung) zu drehen. Die Auswirkungen auf die Beschäftigten im Unversitätssystem sind komplex und aufgrund historischer Pfadabhängigkeiten in den betrachteten Systemen (Italien, Deutschland, Niederlande, Großbritannien) noch unterschiedlich.

Michele Rostan, Flavio A. Ceravolo und Massimiliano Veira versuchen vermittels eine quantitativen Zugangs, die Auswirkungen von Vermarktlichungsprozessen und Managementreformen auf Universitätsprofessor*innen abzuschätzen. Ihre Vergleichsstudie zeigt, dass in den vier Vergleichsländern (Deutschland, Großbritannien, Italien, Niederland) ähnliche Veränderungen der Arbeitsbedingungen von Universitätsprofessor*innen zu beobachten sind. Die Zunahme von Drittmitteln zur Finanzierung von Forschung ist in allen Systemen ebenso zu beobachten wie die studentische und externe Evaluation von Lehre und Forschungsmitteln. Unterschiede bestehen zum einen zwischen Großbritannien und den Niederlanden auf der einen Seite im Unterschied zu Italien und Deutschland hinsichtlich der Performanz-Orientierung (Output), die noch stärker von der hierarchischen Bewertung von professionellen Output abhängt. Die Autoren vermuten hier einen Zeiteffekt, da die beiden erstgenannten Länder Vorreiter der Einführung von NPM-Mechanismen in die Teritärbildung waren. Nationale Besonderheiten zeigen jedoch, dass die Umsetzung formaler NPM-Mechanismen unterlaufen werden kann und so zu unterschiedlichen nationalen Variationen des „akademischen Kapitalismus“ (Richard Münch) führt.

Christine Teelken und Marian Thunnissen vergleichen das sich verändernde Verhältnis von Governance und Professionalismus im Hochschulwesen Großbritanniens, der Niederlande und Schwedens. Basierend auf zahlreichen Interviews in den Ländern kommen sie zu gemischten Ergebnissen. Einerseits habe die Bedeutung der Lehre und deren Evaluation erheblich zugenommen, ebenso wie Drittmittel für Forschungstätigkeiten. Andererseits habe diese Standardisierung und formale Evaluation von Forschungsprozessen aber auch zu einer höheren Kontrolle über die Forschungsinhalte geführt. Ein erstaunliches Ergebnis! Nicht überraschenderweise hat sich die anfängliche harte Kritik an Public Managementreformen innerhalb von vier Jahren (2007-2011) in eine Form von „rational resignation“ (249) gewendet – ein nicht repräsentatives Ergebnis.

Der zweite Beitrag von Emmanuele Pavolini zur Vermarktlichung und Manageralisierung der Schulpolitik beschreibt in vergleichender Perspektive die Reformmaßnahmen in größeren europäischen Ländern. Dabei kommt wieder das Muster der NPM-Innovatoren (Großbritannien, Schweden) und Nachahmern (Deutschland, Italien) zum Ausdruck, wenn auch die Geschwindigkeit und die Reforminhalte im Detail sehr unterschiedlich seien. Nichtsdestotrotz habe die Steuerung der Schulen über NPM-Instrumente ebenso zugenommen wie die Zahl der privatwirtschaftlichen Schulen und Differenzierung der Arbeitsbedingungen – zentrale Ziele von NPM-Marktmodellen.

Im zweiten Teil zeigt zunächst Uwe Schimank in einer theoretischen Reflexion, dass im Zuge von NPM-Reformen im Primär- und Sekundärbereich des Bildungssystems auch von einer Deprofessionalisierung von Schullehrer*innen gesprochen werden kann. Schließlich fragt Thorsten Peetz im Hinblick auf den originären PISA-Schock in Deutschland und die darauf folgenden Maßnahmen zum Umbau des Schulsystems (Primär- und Sekundärbereich), ob sich die Rolle von Schulleitern in Richtung eines Managers gewandelt habe, der kein primus inter pares mehr sein kann (bzw. darf). Er kommt auf der Grundlage qualitativer Interviews mit Schulleitern zu dem Schluss, dass sich zwar die Rolle von Schulleitern insofern geändert habe, als sie nunmehr zu „Motoren der Innovation“ oder „initiierenden Moderatoren“ (meine Übersetzung) geworden seien, die den schulischen Kommunikationsprozess steuerten. Im Zuge zunehmender Schulautonomie – bildungspolitisch als Modellschulen apostropohiert – werde damit der Schulleiter zu einer Art Generalmanager, der keine Lehre mehr übernehme, sondern bedingt dazu übergehe, interne Qualitätssicherung gegenüber seinen bzw. ihren Kolleg*innen durchzusetzen. Im Vergleich mit angloamerikanischen Pionieren jedoch fehle derzeit noch die finanzielle Sanktion des mangelnden Lehrefolgs durch Lehrer*innen, wodurch der von NPM-Maßnahmen induzierte Wandlungsprozess im deutschen Schulsystem „still modest“ (209) sei.

Allerdings – das zeigen die viele Beiträge in dem lesenswerten Sammelband – existiert wohl eine gewisse Ungleichzeitigkeit zwischen Reformmaßnahmen als auch national(staatlich)e Variationen. Uwe Schimanks generelle Einschätzung zu den Effekten von NPM-Reformen des öffentlichen Sektors auf die Beschäftigten und die Leistungsqualität, dass NPM nicht in jedem Fall ein Problem sei, kann zweifellos zugestimmt werden. Auch Tanja Klenks und Emmanuele Pavolinis Schlussfolgerung, dass die Interaktion auf der Mikroebene bei der Regulierung von Wohlfahrtsmärkten und insbesondere privatwirtschaftlichen Akteuren weiterer Forschung bedürfte, ist schlüssig.

Vielleicht ist es zur analytischen und vor allem normativen Einschätzung von NPM-Modellen aber hilfreich, sich deren makroökonomischen Kontext(en) zuzuwenden. Ihre Versprechen waren und sind, in Zeiten finanzieller Knappheit, hohe Leistungsqualität mit ökonomischer Effizienz zu kombinieren. Wenn NPM-Reformen nicht per se schlecht sind, stellt sich doch die Frage, ob das Ausmaß und der Grad „finanzieller Repression“ möglicherweise darüber entscheiden, ob NPM-Maßnahmen wirken oder nicht – Effizienzsteigerung ist nicht in jedem Fall gleichbedeutend mit Ausgabensenkung. Vielleicht läge hier ein erfolgversprechender Weg, die NPM-Reformen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es sollte – mit anderen Worten – auch bei NPM-Reformen nicht vergessen werden, dass „Austerität“ eine „gefährliche Idee“ (Mark Blyth) ist.

Mosebach, Kai, Hochschule Ludwigshafen am Rhein, Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen, kai.mosebach@hs-lu.de.

Review von Heubel et al (2010)

Friedrich Heubel, Matthias Kettner und Arne Manzeschke (Hrsg./2010): Die Privatisierung von Krankenhäusern. Ethische Perspektiven, Wiesbaden.

Im Jahre 2010 veröffentlichte die Arbeitsgruppe für Ethik in der Medizin (AEM) in Reaktion auf die erstmalige Privatisierung einer Universitätsklinik (Marburg/Gießen) Ergebnisse ihrer Jahrestagung unmittelbar im Anschluss an diese Privatisierung. Die spektakuläre (Teil-) Privatisierung (zu 95 %) der beiden hessischen Universitätsklinika war jedoch nur der äußere Anlass für die letztlich leitende Frage des Sammelbandes, nämlich: wie ist Krankenhausprivatisierung ethisch zu beurteilen?

Der äußerst lesenswerte Sammelband ist in zwei Teile strukturiert, einmal eine systematische Bestandsaufnahme zum Verständnis von Krankenhausprivatisierungen im deutschen stationären Versorgungssektor. Darauf aufbauend thematisiert ein zweiter Teil in reflexiver Perspektive, wie diese Krankenhauprivatisierungen der vergangenen 20 Jahren kritisch zu bewerten sind, wobei vor allem die materielle Privatisierung als Kernproblem bzw. ernsthafte Herausforderung anzusehen ist.

Krankenhauslandschaft nach Trägern und Rechtsformen

Der erste, systematische Übersicht Artikel von Franziska Prütz beschreibt die stationäre Krankenversorgung in Deutschland im Hinblick auf die Trägerstrukturen und die jeweils gewählten Rechtsformen, die zu einer gewissen Hinsicht in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden können. Privatisierung, so schreibt sie (Prütz 2010: 15), enthalte eine begriffliche Doppeldeutung:

„Verwendet man den Begriff der Privatisierung im Zusammenhang mit Krankenhäusern, so kann dies zwei Dinge bedeuten. Meist ist damit ein Wechsel des Krankenhausträgers gemeint, in dem Sinne, dass ein Krankenhaus von einem öffentlichen oder freigemeinnützigen auf einen privaten Träger übergeht. Außerdem kann sich Privatisierung auf die Rechtsform des Krankenhauses beziehen und damit dann die Umwandlung von einer öffentlich-rechtlich in in eine privatrechtliche Unternehmensform“ bedeuten.

Betrachtet man Krankenhäuser aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive vor allem als Unternehmen, so können Sachziele und/oder Formalziele zum Leitbild der jeweiligen Unternehmensphilosophie gemacht werden. Sachziele „beziehen sich dabei auf die Art und Weise, wie die Patientenversorgung geleistet wird (dazu gehören zum Beispiel Bedarfsgerechtigkeit, Kundenfreundlichkeit und Leistungsfähigkeit), während die Formalziele mit der ‚Zieltriade‘ der Rentabilität, Liquidität und Sekurität an die ‚Teilnahme des Unternehmens am Wirtschaftsprozess und Geldkreislauf‘ anknüpfen.“ (Ebd.: 17) während bis zu dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 die Sachziele die betrieblich-organisatorische Realität in Krankenhäusern beherrschten, orientieren sich zunehmend Krankenhäuser seitdem an Formalziele der Gewinn- oder wenigstens Überschussorientierung.

Franziska Prütz beschreibt ausführlich zunächst die idealtypischen Eigenschaften von freigemeinnützigen, öffentlichen und privatwirtschaftlichen Krankenhäusern – in Anlehnung an eine grundlegende Studie von Markus Wörz (2008) – , um dann akribisch die verschiedenen Rechtsformen in ihren zentralen Merkmalen zu beschreiben (Prütz 2010: 18ff.). Nach der Beschreibung der Entwicklung der Krankenhäuser und Betten im deutschen Gesundheitssystems von 2002-2008 und differenziert nach den voranstehend beschriebenen Rechtsformen, diskutiert sie „Alternativen zur materiellen Privatisierung“ (ebd.: 27ff.), die den Privatisierungsbegriff weiter aus differenzieren. Outsourcing, Public Private Partnerships, formelle Privatisierungsformen, Teilprivatisierungen und der Zusammenschluss zu Krankenhausketten bzw. Krankenhausverbünden als auch die Gründung von Fördervereinen stellen Möglichkeiten dar, wie sich privatwirtschaftliche Akteure am Krankenhausmarkt beteiligen bzw. öffentliche Krankenhausträger privates Kapital inkludieren können.

Die betriebswirtschaftliche bzw. kommunalpolitische Motivation für Privatisierungsprozesse sieht sie vor allem in dem erhofften Ziel auf Effizienzsteigerungen privatisierter Krankenhäuser gegeben. Abschließend – und erneut auf Markus Wörz’ (2008) Studie gestützt – skizziert sie die Unterschiede zwischen den Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft im Hinblick auf die Patientenversorgung, die Situation der Beschäftigten, im Hinblick auf Ausbildung, Forschung und Lehre sowie der Wirtschaftlichkeit der Häuser selbst (Prütz 2010: 31ff.). Ihre Kernaussagen sollen hier kurz zusammengefasst werden:

1. Hinsichtlich subjektiver Qualitätsindikatoren, wie zum Beispiel verschiedene Kriterien der Patientenzufriedenheit, zeigten Ergebnisse einer Patientenbefragung im Auftrag der Gmünder Ersatzkasse, dass zwischen den Jahren 2002 und 2005 „die Zufriedenheit mit der Versorgung in privaten Krankenhäusern“ (ebd.: 32) und „die besten Werte […] in freigemeinnützigen Häusern erreicht“ (ebd.) wurden. Obwohl in Deutschland auch objektive Qualitätsindikatoren gesammelt würden und vorlägen, sei bislang keine Auswertung erfolgt. Die berühmte Metaanalyse von Philip J. Devereux et al. (2002) über die Performance von Krankenhäusern in den vereinigten Staaten von Amerika unterstützt die bislang weichen Einschätzungen vorhandener deutscher Studien (Zeitpunkt: 2008!).

2. Die Situation der Beschäftigten in verschiedensten Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft lässt sich in Deutschland schon etwas besser abbilden. Als wesentliche Indikatoren können hierbei die so genannte Personalbelastungszahl und die Bezahlung des Personals bzw. Personalkosten herangezogen werden. Die Personalbelastungszahl setzt die Anzahl der zu versorgenden Betten bzw. der zu versorgenden Fälle in einem Jahr in ein Verhältnis zum Personal insgesamt, den ärztlichen Dienst, den Pflegedienst oder medizinisch-technischen Dienst. Die Ergebnisse ihrer Analyse der Krankenhausstatistik des statistischen Bundesamtes zeigt ein eindeutiges Ergebnis: „Es ist festzustellen, dass im Jahr 2008 die Personalbelastung in den freigemeinnützigen und privaten Krankenhäusern am höchsten war, vor allem im Pflegedienst […]. Von den öffentlichen Krankenhäusern wiesen die in privatrechtlicher Form organisierten die höchsten Belastungszahl auf; die niedrigsten Belastungszahlen fanden sich interessanterweise bei den Häusern in öffentlich-rechtlicher Form mit rechtlicher Selbstständigkeit.“ (Prütz 2010: 33) Kaum überraschend ist, dass in jedem vierten privaten Krankenhaus kein Tarifvertrag galt, während der entsprechende Anteil bei öffentlichen und freigemeinnützigen Krankenhäusern erheblich darunter liegt (0,5% bzw. 1,0%). Interessant ist, dass die Personalkosten in privatwirtschaftlich geführten Krankenhäusern niedriger liegen als in ihren freigemeinnützigen und öffentlichen Kontrahenten, aber gleichzeitig die Ärzte in privaten Krankenhäusern leicht mehr verdienen als die Kollegen und Kolleginnen in den Krankenhäusern alternativer Trägerschaft.

3. Die Krankenhausstatistik ermöglicht den Vergleich von Krankenhäusern mit Ausbildungsstätten. Eine entsprechende Analyse von Wörz (2008) zeige, dass in der größten Kategorie von Krankenhäusern – 500 und mehr Betten – private Krankenhäuser den geringsten Anteil an Ausbildungsstätten im Vergleich mit ihren öffentlichen und freigemeinnützigen Konkurrenten hatten.

4. Die Wirtschaftlichkeit von Krankenhäusern schließlich, zu deren Verbesserung sich die privatwirtschaftlichen Krankenhäuser bekannt haben bzw. anbiedern (vergleiche auch den Beitrag von Rainer Simbel in diesem besprochenen Sammelband), ist nicht nur international, sondern auch in Bezug auf das deutsche Gesundheitswesen am häufigsten untersucht. Insbesondere ist die mittlerweile mehrfach zitierte Studie von Markus Wörz (2008) hier hervorzuheben. Empirisch vor der Einführung von DRG angesiedelt, kommt er zu der Schlussfolgerung, dass „die öffentlichen Krankenhäuser durchweg die teuersten sind, wenn nicht nach Bettengrößenklassen differenziert wird; dann aber sind die öffentlichen Krankenhäuser nur in den größten Kategorien (500 und mehr bzw. 1000 und mehr Betten) am teuersten […], während die privaten Krankenhäuser in den mittleren (100 bis unter 202, 100 bis unter 500 Betten) am teuersten und in der unteren am günstigsten sind, wenn man Kosten pro Fall kalkuliert. Nicht überraschend erzielen private Krankenhäuser die höchsten Erlöse, wobei wichtig ist hier zu betonen, dass diese Ergebnisse vor der Einführung des administrieren Preissystems, Diagnosis Related Groups, berechnet wurden, nach deren Einführung eine Erlösspreizung nicht mehr möglich ist (s.u.).

Seine Schlussfolgerung ist: „das bedeutet, dass nicht ‚der private Trägerstatus als solcher (…) Die höheren Erlöse verursacht, sondern die Kombination von privatem Trägerstatus und Verbundzugehörigkeit‘“. (Wörz 2008: 202, zit. n. Prütz 2010: 37).

Die etwas jüngere Studie von Tiemann und Schreyögg, die mit einer anderen Methodik arbeitet, kommt sogar zu der Schlussfolgerung, dass die private Trägerschaft mit einer niedrigeren Effizienz im Vergleich zu ihren öffentlichen Kontrahenten einhergeht. Völlig konträr hierzu steht die Studie von Augurzky et al. (2008) zu den privaten Krankenanstalten in Deutschland die eine höhere Insolvenzwahrscheinlichkeit für öffentliche Krankenhäuser errechnet.

Betrachtet man also die verschiedensten Forschungsbeiträge vergleichend, so ergibt sich in mancher Hinsicht ein recht unklares Bild. Nicht überraschenderweise kommt Franziska Prütz (2010: 40) im Hinblick auf die Performance von Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft zu der Schlussfolgerung, „dass Forschungsbedarf besteht, besonders auf dem Gebiet der Versorgungsqualität, um die Frage zu klären, ob eher – wie es den Anschein hat – von einem Trade-Off zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit auszugehen ist oder beides miteinander einhergeht. Bezüglich der Wirtschaftlichkeit wird die Hypothese, dass der private Trägerstatus mit einer höheren Effizienz verbunden ist, zunehmend infrage gestellt.“

Krankenhäuser als Wirtschaftseinheiten – ökonomische Aspekte und Herausforderungen

Der Beitrag von Rainer Sibbel in dem besprochenen Sammelband sticht in ungewöhnlicher Weise heraus. Das gilt weniger für die theoretische Ausarbeitung und empirische Fundierung des Textes als für die positive Bewertung von Privatisierungsprozessen im deutschen Krankenhaussektor, die ein wenig quer steht zu den ansonsten recht kritischen Äußerungen und Beiträgen über Privatisierungsprozesse im Krankenhaussektor (wenig überraschend sucht man den Namen von Rainer Sibbel unter der abschließenden Stellungnahme der Arbeitsgruppe am Ende des Bandes, S. 195ff., vergeblich).

Der Beitrag ist demgemäß vor allem unter ideologiekritischen Gesichtspunkten von Interesse, konstruiert er doch ein recht grobschlächtiges Narrativ, das zwar nicht völlig plump die grundsätzliche Überlegenheit privatwirtschaftlich geführter Krankenhäuser in den Mittelpunkt stellt, sondern einem professionellen Management von Krankenhäusern, das sich freilich an erfolgreichen privatwirtschaftlich geführten Krankenhäusern ausrichtet, den entscheidenden Faktor zubestimmt bzw. zuweist, ein erfolgreiches Krankenhausmanagement durchzuführen. Hinter dem Rücken kommt dann aber eben doch das Narrativ des effizienteren privaten Krankenhaussträger hervor (kritisch zu diesem verbreiteten Narrativ: Mosebach 2013).

Seine Argumentation laviert mehrfach hin und her. Die wesentlichen Bausteine seiner Argumentationsganges sind (i) die Beschreibung des Strukturwandels im Gesundheitswesen als trägerübergreifende Rahmenbedingungen, (ii) die Skizze der Motive von Privatisierungen öffentlicher Krankenhäuser, (iii) der Stand der Privatisierung von Krankenhäusern in Deutschland und (iv) der Versuch, die Zunahme von Privatisierungsprozessen durch spezifische Erfolgsfaktoren privater Klinikbetreiber zu erklären.

ad 1) Unter Verweis auf seine eigene Habilitationsschrift (Sibbel 2004) beschreibt Rainer Sibbel zunächst sechs zentrale Faktoren, die als Treiber des Strukturwandels im Gesundheitswesen fungieren. Hierzu gehören neben den üblichen Verdächtigen, demographische Entwicklung und medizinischer bzw. medizinisch-technischer Fortschritt, auch Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse (Globalisierung) sowie der Wertewandel innerhalb der Gesellschaft, der mit anspruchsvolleren Konsumenten einhergeht – auch ein Bestandteil eines internationalisierten Narrativs – und schließlich noch gesetzliche Rahmenbedingungen, mit denen die Kostendämpfung einerseits und die Einführung des DRG-Systems andererseits gemeint ist. Der ökonomische Druck auf öffentlich geführte Krankenhäuser nimmt durch diese gesetzlichen Rahmenbedingungen und die kostentreibenden Randbedingungen erheblich zu, so dass schließlich sich öffentliche Träger für eine materielle Privatisierung von Krankenhäusern entscheiden.

Hiermit „… zieht sich der öffentliche Träger aus der Verantwortlichkeit für die Leistungserstellung zurück, letztlich weil alle anderen Handlungsoptionen – wie beispielsweise eine formelle Privatisierung, das heißt die Umwandlung von öffentlich betriebenen Kapitalgesellschaften – als weniger zielführend bzw. Erfolg versprechend erscheinen bzw. sich als solches erwiesen haben.“ (Sibbel 2010: 45)

Die Zielsetzung des Gesetzgebers – wie er unmittelbar davor schreibt – sind die „kontinuierliche Erhöhung des Kosten- und Wettbewerbsdrucks, die Wirtschaftlichkeit der Leistungserstellung in den Versorgungseinrichtungen zu verbessern, sektorenübergreifende integrierte Leistungsstrukturen zu fördern und gleichzeitig die Leistungsqualität transparenter zu machen.“ (Womit en passant alle ideologischen Bausteine der hegemonialen Strategie der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik aufgebaut worden sind: Mosebach 2018) Der vorstehende ausführlich zitierte Textausschnitt suggeriert natürlich, dass die Zielsetzungen des Gesetzgebers am besten durch die materielle Privatisierung von Krankenhäusern erreicht werden. Genau das versucht Sibbel mit dem zweiten Baustein seines argumentativen Baukastens zu begründen.

ad 2) Gleich zu Beginn seines zweiten Bausteins überrascht der Autor mit der beiläufig hingeworfenen Bemerkung, dass „regulatorische Ansätze und öffentlich geprägte Strukturen“ sich als häufig „(zu) schwierig bzw. zu beharrlich“ erweisen würden, „um Qualitäts- und Effizienzpotenziale in ausreichendem Maße und zeitgerecht zu realisieren“ (ebd.: 46). Die Deregulierung und Einführung von Markt- bzw. Wettbewerbsprinzipien würde besonders durch die Privatisierung angeheizt. Diese Aussagen sind relativ evidenzfrei, vor allem wenn man die empirischen Ergebnisse des vorherigen Beitrags von Franziska Prütz reflektiert.

Das zweite Motiv für Krankenhauprivatisierungen, auf das Sibbel hinweist, handelt von den Entlastungen der öffentlichen Haushalte. Eine empirische Betrachtung zahlreicher Privatisierungsprozess von Krankenhäusern in einer Parallelveröffentlichung zu dieser Zeit legt auch hinsichtlich dieses zweiten Arguments eine gewisse Skepsis nahe. Einige Fallstudien aus dem Sammelband „Privatisierung von Krankenhäusern“ (Böhlke et al., Hamburg 2009) unterstützen eher die Interpretation, dass manche Privatisierungsprozesse zumindest mittelfristig mit erheblichen Finanzierungsrisiken für die öffentlichen Haushalte einhergegangen sind, da betriebliche Pensionslasten und vage Investitionszusagen die öffentlichen Haushalte keineswegs so sehr entlastet haben, wie der hier besprochenen Beitrag suggeriert.

Öffentliche Träger intervenieren Sibbel zu Folge zudem zu stark in die strategischen Entscheidungen von Krankenhausträgern, so dass das unprofessionelle Management von öffentlichen Krankenhäusern maßgeblich für die Defizite dieser Krankenhäuser sei. Dieses Argument ist wegen manifester historischer Ungenauigkeit und offensichtlichzem theoretischem Unverständnis recht irritierend. Zunächst gilt dieses Argument grundsätzlich nur für öffentliche Krankenhäuser in öffentlicher, und zwar vor allem nicht-selbständiger, Rechtsform. Wie Franziska Prütz in Ihrem vorhergehenden Beitrag nachdrücklich gezeigt hat, ist es das Ziel von formalen Privatisierungsprozessen, genau diese enge Bindung des Krankenhausmanagements von öffentlichen Einrichtungen an die politischen Entscheidungsträger zu überwinden. Dass öffentliche Träger trotz formaler Privatisierung immer noch zu viel intervenieren, müsste erst einmal empirisch nachgewiesen werden; das macht Sibbel jedoch nicht. Insofern ist die Aussage von Rainer Sibbel aufgrund der massiven Ausweitung formaler Privatisierungen hier mutmaßlich historisch überholt und folglich argumentativ leer.

Die argumentativen Leerhülsen gehen im Folgenden fröhlich weiter. Kein Argument ist zu dünn bzw. schlecht belegt, um die Überlegenheit von materiellen Privatisierungsprozessen anzupreisen. Zum einen hindere die Verfolgung des Sachziels: Versorgungsbedarfsdeckung die öffentlich geführten Krankenhäuser daran, ihre hierarchischen Organisationsstrukturen zu überwinden, eine bessere Kooperation zwischen den beteiligten Berufsgruppen zu etablieren und ihre Personalkosten zu senken. Angeblich alles Faktoren, die bei privatwirtschaftlich geführten Krankenhäusern besser sind – wie Sibbel natürlich unter Verweis auf die üblichen RWI- Auftragsstudien der privaten Krankenhausverbände zu belegen behauptet. Im DRG-System werden auch die Formalziele bei freigemeinnützigen und öffentlichen Krankenhäusern aufgewertet, zumal das Sachziel für sich genommen kaum für eine qualitativ hochwertige Versorgung genügen dürfte. Sibbel verweist selbst darauf, dass beide Ziele bei allen Trägern unter den neuen krankenhauspolitischen Bedingungen wichtig sind (Sibbel 2010: 51). Umso unverständlicher ist seine hier behauptete enthistorisierte Ineffizienz öffentlicher Krankenhausträger.

Unter Bezugnahme auf das SVR-Gesundheit 2001 behauptet Sibbel weiter, das „durch die mangelnde Prozessorientierung und Standardisierung sowie eine häufig ineffiziente veralteter Infrastruktur“ „die Selbstfinanzierungskraft des Krankenhauses durch eigenen erwirtschaftete Überschüsse insgesamt stark geschwächt [würde] bzw. […] nicht in ausreichendem Maße erschlossen werden“ könne (Sibbel 2010: 48). Seine Einschätzung der Gründe für die Privatisierung öffentlich geführter Krankenhäuser scheint eindeutig, wiederholt aber nur das leere Mantra dieses argumentativen Bausteins: „Letztlich erweisen sich die Defizite öffentlicher Strukturen aber häufig als zu groß, weshalb trotz der durchaus hohen Zahl formeller Privatisierungen letztlich [SIC!] oft doch der Verkauf des Krankenhauses einen privaten Träger die Ultima Ratio darstellt und erfolgt.“

ad 3) Im dritten Unterabschnitt, der mit „Stand der Privatisierung von Krankenhäusern in Deutschland“ (ebd.: 48) überschrieben ist, geht es nur am Rande um diesen Punkt. Eigentliches Thema ist die Spannung zwischen dem krankenhauspolitischen Oberziel der bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen, wie es im Krankenhausfinanzierungsgesetz niedergelegt ist (§ 1 Abs. 1 KHG), einerseits und dem betriebswirtschaftlichen Kernziel eines jeden Unternehmens, der „langfristige[n] Existenzsicherung als universelle[r] oberste[r] Zielsetzung“ (ebd.: 49) andererseits. Traditionellerweise werden in betriebswirtschaftlicher Hinsicht Formalziele (Erfolgsziele, Finanzziele) von Sachzielen (Leistungszielen, ethische Ziele) unterschieden. Während privatwirtschaftlich geführte Krankenhäuser eher den Formalzielen nacheifern, zielen öffentlich-rechtliche als auch freigemeinnützige Krankenhäuser eher auf die Erfüllung versorgungsbezogener Sachziele.

„Für öffentliche und freigemeinnützige Krankenhäuser ist finanzieller Erfolg Grundlage, um auch in Zukunft leistungsfähig im Sinne der Sachziele zu sein. Private Träger hingegen haben eher die Möglichkeit, die Sachziele so auszurichten, dass eine hohe Zielerreichung bei den Formalzielen daraus resultiert. Beiden muss aber bewusst sein, dass nur ein ‚Spielen auf beiden Manualen‘ langfristig die Existenz sichert.“ (Sibbel 2010: 51)

Dieses Zitat ist bemerkenswert. Im Grunde genommen sagt es aus, dass privatwirtschaftliche Krankenhäuser vor allem gewinnorientiert agieren. Wieso, so stellt sich Rainer Sibbel die Frage, konnte die Anzahl privatwirtschaftlicher Krankenhäuser in Deutschland dann derart wachsen, obwohl ein Teil der Gewinne „an die Anteilseigner […] als Renditen ausgeschüttet“ (ebd: 52) werden musste. Eine wirklich überzeugende Antwort liefert er an dieser Stelle nicht. Im Grunde sagt er, dass durch den hohen Kostendruck und die Steigerung der Leistungsverdichtung in privatwirtschaftlichen und freigemeinnützigen Krankenhäusern „ein höheres Effizienzniveau in ihrer Leistungserstellung“ (ebd.: 54) erreicht werden konnte (zu möglichen Qualitätseinbußen sagt er nichts). Wieso sind dann nicht die freigemeinnützigen Krankenhäuser in gleichem Maße gewachsen wie die privatwirtschaftlichen Krankenhäuser? Wie – so die auf den Nägel brennende Frage – kommt die höhere Effizienz zustande? (Beiläufig sei erwähnt, dass der Beitrag von Franziska Prütz zeigt, dass die Behauptung einer höheren Effizienz von privatwirtschaftlichen Krankenhäusern fragwürdig wird)

ad 4) Im letzten Absatz seines Beitrags widmet sich Rainer Sibbel (2010: 54ff.) den „Erfolgsfaktoren privater Klinikbetreiber“ (ebd.: 54) Und verwirrt den Leser zugleich mit einer knalligen Einschränkung: es lasse sich „kaum allgemein und vollends evidenzbasiert nachweisen, was die Erfolgsfaktoren privater Klinikbetreiber sind“ (ebd.). Der weitere Argumentationsgang ist nicht weniger kurios. Man höre und staune: der Erfolg der privatwirtschaftlichen Krankenhäuser lasse sich erstens aus den Schwächen, „die Institutionen allgemein und Krankenhäusern in öffentlicher Trägerschaft in besonderen zugeschrieben [SIC!] werden“ klar ableiten! Jetzt kommt es – zweitens – mit Knall: „Als marktbezogene Erfolgsfaktoren wird privaten Krankenhäusern und Trägern eine deutlich klarere und systematische Patienten-, Markt- und Wettbewerbsorientierung zugesprochen [SIC hoch 2], die bei einer Vielzahl von Fragen des strategischen Managements ansetzen.“ (Ebd.) Man reibt sich verwundert die Augen. Der Markterfolg der privatwirtschaftlichen Krankenhäuser beruht nur auf einem mehr oder weniger zugeschriebenen oder zugesprochenem Hörensagen?

In diesem ideologischen Freistil, der völlig evidenzfrei losmarschiert, geht es fröhlich weiter. Nicht, dass seine präsentierte empirische Evidenz fragwürdig wäre – es werden an dieser zentralen Stelle seines Textes schlicht keine Studien, die seine Argumentation stützen könnten, zitiert. Vielleicht verwechselt Rainer Sibbel die angloamerikanische und deutsche Bedeutung des Wortes evident. Zudem behauptete er, „Patientensicherheit und Qualitätsmanagement werden ggf. [SIC hoch 3] deutlich strukturierter und systematischer angegangen“ (ebd.), das Einweisermanagement und die Kommunikation mit den niedergelassenen Ärzten werde optimiert („Beziehungspflege“).

„Insgesamt erweisen sich private Träger bzw. Krankenhäuser häufig als flexibler und zukunftsorientierter im Hinblick auf die Entwicklungen im Gesundheitssystem und dessen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise die Entwicklung und Diskussion rund um medizinische Versorgungszentren zeigt.“ (Ebd.).

Genau. Das ist ja evident. Was also sind seine Argumente? Ernst genommen, behauptet er, dass sich privatwirtschaftliche Krankenhäuser systematisch dem besseren Krankenhausmanagement verschreiben, wie er dankenswerterweise in seiner Habilitationsschrift gezeigt hat (er zitiert sich wirklich als einzige Quelle an dieser Stelle!). Aber die Beschreibung, wie etwas perfekt läuft bzw. laufen sollte oder könnte (präskriptive Unternehmensberatung), hat mit der realen Entwicklung nur bedingt etwas zu tun. Hier wird in klassischer Weise das Modell für die Realität gehalten. Nicht zu Unrecht ist eine solche Verwechslung von Realität und naivem Modelldenken als Modellplatonismus bezeichnet worden. Bestenfalls – und mit mehrfach gekreuzten Fingern – lassen sich seine Aufzählung theoretisch konstruierter und präskriptiv angepriesener Erfolgsfaktoren als „Hypothesen“ für Forschungsprojekte über mögliche Erfolgsfaktoren rechtfertigen. Um dies zu tun – und der Rezension eines weitgehend hilflosen Textes eine positive Wendung zu geben – wird der zentrale Absatz seiner Arbeit hier wörtlich zitiert (ebd.: 55):

„Als maßgebliche Erfolgsfaktoren aus produktions- und kostenorientierter Perspektive ist die konsequente Nutzung von Synergien und Vorteilen zu nennen, die sich einerseits aus Marktmacht und Unternehmensgröße, beispielsweise in der Beschaffung, erschließen lassen und die andererseits auf Spezialisierungs- und Erfahrungskurveneffekten basieren. Dazu zählen gerade auch Ansätze zur Standardisierung der Leistungsprozesse beispielsweise mit Hilfe von Clinical Pathways oder Checklisten sowie eine an den Prozessen ausgerichtete Organisations- und insbesondere auch Infrastruktur [Selbstzitat: hier]. Das geht häufig einher mit gezielten Strategien zur Personalakquisition wie zur Fort- und Weiterbildung [f&w-Beitrag zitiert]. Entscheidend dafür, die angeführten Erfolgspotentiale umsetzen und ausnutzen zu können, ist die gerade auf Seiten privater Träger oftmals vorhandene hohe Finanzkraft und Investitionsfähigkeit gepaart mit klareren Entscheidungs- und Rechtstrukturen, die es erlaubt, Zielsetzung gerechter und schneller auf veränderte Anforderungen und Potenziale reagieren zu können [SIC hoch 4]. Grundpfeiler insbesondere des wirtschaftlichen Erfolgs gerade der privaten Krankenhausbetreiber in einem DRG-System, d.h. bei pauschalierten Leistungsentgelte, ist die Effizienz der Leistungserstellung.“

Ein wahrlich grußeliger Absatz. Und nun kippt die Argumentation erneut. In dem letzten Absatz dieses vierten Abschnitts behauptete er – und damit seine ganze bisherige Argumentation auf den Kopf stellend –, dass der Erfolg der privatwirtschaftlichen Krankenhäuser vor allem auf den Schwächen und dem Beharrungsvermögen der öffentlich-rechtlichen Strukturen und Krankenhäuser beruhe. Mit einem Mal ist es jetzt plötzlich nicht mehr die Trägerschaft, die entscheidend ist, sondern die professionelle Führung (die man ja auch beraten kann!). Nachdem eben noch die privatwirtschaftlichen Krankenhäuser strukturell besser waren, ist es jetzt plötzlich nur noch das Management:

“ Wie sehr auch immer diese verschiedenen Faktoren im einzelnen oder in ihrer Wechselwirkung den Erfolg von Krankenhäusern und Klinikketten in privater Trägerschaft ausmachen, letztlich erscheint keiner der genannten Faktoren so zwingend und nachhaltig, dass Krankenhäuser in öffentlichen Strukturen unter professioneller Führung und mit entsprechend motivierten Personal diese nicht auch anstreben und realisieren könnten, die letztlich einige Beispiele öffentlicher Krankenhäuser und Krankenhausverbände auch zeigen.“ (Ebd.: 56)

Kein Wunder, dass ihn die anderen Autoren in der abschließenden Stellungnahme der Arbeitsgruppe nicht dabeihaben wollten. Es ist ein sehr dürftiger Beitrag zur Diskussion um Privatisierungsprozesse im deutschen Krankenhauswesen.

Krankenhausprivatisierung: auch unter DRG-Bedingungen ein Erfolgsmodell?

Review von Petersen/Lupton, New Public Health – zwanzig Jahre später

Alan Petersen/Deborah Lupton (1996): The New Public Health. Discourses, Knowledges, Strategies, London: Sage.

Dreißig Jahre nach der Verabschiedung der Ottawa-Charta und zwanzig Jahre nach dem Erscheinen eines der ersten kritischen Erörterungen der neuen New Public Health-Bewegung aus einer an Michel Foucault anschließenden Perspektive ist es Zeit, sowohl die Erfolge (und Misserfolge) der Ottawa-Charta als auch die analytische Fruchtbarkeit der Governmentality-Studies im Anschluss an Michel Foucault im Hinblick auf eine kritische Bewertung und kritisch-konstruktive Weiterentwicklung des New Public Health-Gedankens einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Hierzu werde ich erstens die Grundthesen und -kritiken des pionierhaften Buches von Petersen/Lupton (im Folgenden mit PL abgekürzt) rekapitulieren, um dann vor dem Hintergrund der  institutionellen,  organisatorischen und diskursiven Weiterentwicklung (und Fortschreibung) der Ottawa-Charta in einem zweiten Schritt erörtern, ob die paradigmatische und originelle Kritik von PL an der New Public Health (NPH) immer noch lesenswert und (zumindest zum Teil) noch gültig ist.

Das Buch ist voller interessanter Sichtweisen und Kritiken, die hier nicht in umfassender Weise vorgetragen werden können. Ein Lektüre ersetzt dieser Review somit nicht, wenn die Tiefe und Detailliertheit der Argumentation interessiert. Allerdings lassen sich die grundlegenden Thesen zum Thema in einigen Punkten konturiert zusammenfassen. Was also ist zunächst der Gegenstand? Was ist, mit anderen Worten, New Public Health? PL beziehen sich auf eine autoritative Definition der beiden britischen Gesundheitswissenschaftler J Asthon und J Seymour. Diese definieren New Public Health in kritischer Abgrenzung zu biomedizinischen Konzepten und Ätiologien einerseits und in Fokussierung auf vor allem chronisch Erkankte andererseits. New Public Health ist also ein gesundheitspolitischer Ansatz, der von einer anderen epidemiologischen Situation ausgeht als jene Old Public Health im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, als es noch um die „Bekämpfung“ übertragbarer Krankheiten ging. Mitterweile stellen eben nicht-übertragbare Krankheiten das Gros der Krankheitslast in (post-)modernen Gesellschaften dar. Im Gegensatz zu individualistisch ausgeprägten medizinischen Ansätzen will New Public Health ein „blaming the victim“ verhindern, stellt jedoch den „lifestyle“ in den Mittelpunkt, der von Ashton und Seymour als soziales Konzept verstanden wird.  Der Gegenstand und Zugang von NPH wird von diesen beiden Autoren – in Übereinstimmung mit heute noch gültigen Zielsetzungen (vgl. zum Beispiel Rosenbrock 2001) – mit folgenden Worten beschrieben:

Many contemporary health problems are therefore seen as being social rather than solely individual problems; underlying them are concrete issues of local and national public policy, and what are needed to adress these problems are ‚Healthy Public Policy‘ – policies in many fields which support the promotion of health. In the New Public Health the environment is social and psychological as well as physical. (1988, p. 21). [zit.n. PL, P. 4]

Was kann gegen eine solche thematische Fokussierung, normative Fundierung und analytische Rahmung von New Public Health kritisch eingewandt werden? Petersen und Lupton wissen, dass ihre Kritiken den normativen Überzeugungen von NPH-Aktivisten einem gewissen Stress aussetzen. Ihre Kritik wendet sich weniger gegen die normativen Zielsetzungen von NPH per se wie sie in der obigen Definition zum Ausdruck kommen, sondern mehr gegen ihre gesellschaftliche Realität und politische Umsetzung. Ihr Hauptkritikpunkt besteht darin, dass NPH an den bestehenden gesellschaftlichen Machtbeziehungen, sozialen Werten und diskursiv durch Experten konstituierten Wissensregimes nichts ändert und sich mit der neoliberalen Gesellschaftlichkeit, deren Kern im Umbau der politökonomischen Grundlagen (neoliberaler Globalkapitalismus) und institutionellen Fundamante des Wohlfahrtskapitalismus (Flexibilisierung) – beginnend im anglo-amerikanischen Raum – ist, arrangiert. Das theoretische Fundament ihrer Kritik an NPH sind die in den 1990er Jahre aufkommenden Erkenntnisse der Governmentality-Studies, einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Lemke 1997, 2000), über deren Implikationen und Auswirkungen auf die Implementierung der neuen gesundheitspolitischen Strategie sich die Befürworter von NPH (in den angloamerikanischen Ländern) entweder keine  Gedanken gemacht oder aber sogar begrüßt haben.

THEORETISCHE BAUSTEINE: NEOLIBERALISMUS, POLITISCHE MACHT UND NEOSOZIALE MORALITÄT

Im ersten Kapitel (PL 1996: 1-26) entwerfen Petersen und Lupton das Grundgerüst ihrer Argumentation. Sie kritisieren, dass die Konzeptionen und die Praxis von New Public Health eine „neue Moral“ begründe, in einen Diskurs über Pflichten eingebettet sei. Vermeintlich ihre Freiheit verfolgende Individuen orientierten sich via eingeübter Selbsttechnologien und staatlichen Herrschaftstechniken an diesen konstituierten Normen und werden, die nicht nur von Expertenwissen und Diskursen über „Gesundheitsrisiken“ maßgeblich geprägt werden, sondern auch zu einer Einpassung der individuellen Strategien in einen überindividuellen Herrschaftszusammenhang führten. Die Grundauffassung jener als „Neoliberalismus“ bezeichneten wohlfahrtsstaatskritischen Philosophie und Praxis fassen PL (1996: 10f.) in Anlehnung an Burchell et al. (1991) sowie Rose/Miller (1992) paraphrasierend wie folgt zusammen:

The emphasis on individual and collective entrepreneurialism in health and welfare, and the devolution of responsibility for health care and other social services to ‚communities‘ […]. Briefly put, neo-liberalism reinstates liberal principles, including the notion that individuals are atomistic, rational agents whose existence and interests are prior to society; scepticism about the capacities of political authorities to properly govern; vigilance over attempts of such authorities to govern; an emphasis on markets over planning as regulators of economic activity […]. Neo-liberalist rule operates not through imposing constraints upon citizens but rather through the ‚making up‘ of citizens capable of exercising regulated freedom (Rose & Miller 1992, p. 174). Personal autonomy, therefore is not antithetical to political power, but rather is part of its exercise since power operates most effectively when subjects actively participate in the process of governance.

Neben dieser Inklusion bzw. aktiven Mitkonstitution von (vermeintlich) frei handelnden Individuen in eine bzw. der neoliberale(n) Herrschaftsstrategie sticht vor allem der Mechanismus des Marktes  hervor. Neoliberalismus ist im Verständnis des gouvernementalitätstheoretischen Ansatzes sowohl mit Staatlichkeit als auch der (selbststilisierten) persönlichen Autonomie des Einzelnen, zum Teil auch eben gegen den Staat vereinbar. Neoliberalismus bedeutet nicht das Ende des Staates, sondern – wenn überhaupt – eine theoretische wie praktische Kritik des Wohlfahrtsstaates, die zu seiner Transformation führt (vgl. ausführlicher: Lessenich 2012, 2013).

Neo-liberal government, then, is dependent upon technologies for ‚governing at a distance‘, seeking to create localities, entities and persons able to operate a regulated autonomy (Rose & Miller 1992, p. 173). One of the chief mechanisms of neo-liberalism is the attempt to create and sustain a ‚market‘. Although the state ist still seen to have a role in defending the interests of the population in the international sphere and in creating a legal framework for social and economic life, the emphasis is on “autnomization‘ of the state from direct controls over, and responsibility for, the actions and calculations of business, welfare organisations, and so forth‘ (Rose & Miller 1992, p. 199). (PL 1996: 11)

In Bezug auf New Public Health bedeutet diese theoretische Grundierung, dass die mit ihr verbundenen Strategien der Gesundheitsförderung (‚health promotion‘), des sozialen Marketing (’social marketing‘), aber auch der Epidemiologie, Biostatistik, dem diagnostischen Screening, Immunisierung sowie der gemeindebezogenen Partizipation, umfassender Gesundheitspolitik (‚healthy public policy‘), intersektoraler Zusammenarbeit, Anwaltschaft (‚advocacy‘) und Gesundheitsökonomie (‚health economics‘) in einem anderen Licht  betrachtet werden (müssen). Die neue Moralität oder – wie Stephan Lesssenich (2008: 84) es ausdrückt – die „neosoziale Gouvernementalität“ in diesem New Public Health-Diskurs „…seek[s] to transform the awareness of individuals in such a way that they become more self-regulating and productive both in serving their own interests and those of society at large.“ (PL 1996: 12).

Diese sowohl herrschaftlich ‚verordnete‘ als auch sozial ‚erwartete‘ neosoziale Moralität, die sich in gesundheitlichen Imperativen des ‚Beweg dich!‘, ‚Iss weniger Fett!‘ und ‚Reduziere Deinen Stress!‘ ausdrückt, liegt – so die These von Petersen und Lupton – nicht nur in der faktischen Praxis des NPH begründet, sondern eben auch schon in der konzeptionell-theoretischen Anlage. Obwohl oder – wie PL womöglich sagen würden – gerade wegen der Absage der „Bewegung“ für NPH an modernistische Konzepte wie Medizin, Krankenhauskasernierung und trotz des Einsatzes von NPH-Aktivisten für multisziplinäre, intersektorale und partizipatorische Prozesse der Gesundheitsförderung, verharre die NPH-Konzeption in zutiefst modernistischen Rationalitätsansprüchen, gegen deren Wahrheitsansprüche gerade die poststrukturalistische Kritik im Sinne von Foucault und anderen angegangen sei (vgl. zu einem prägnantem Überblick über Postmoderne/Poststrukturalismus: Ritzer 2008: 600ff.; Moebius 2009: 419ff.).

It is not only the strategy of health economics that privileges evaluation; for example there is currently an emphasis upon evaluation, using rational strategies, in all activities of the new public health, including those involving community participation, to see whether they ‚work‘ successfully. Medical, scientific, epidemiological and social scientific knowledges are routinely employed as ‚truths‘ to construct public health ‚problems‘ and to find solutions for dealing with them. (PL 1996: 8)

Eine besondere Rolle bei diesen in rationalistische Konzepte von Ursache, Wirkung, Evaluation eingebetten NPH-Strategien nehmen dabei institutionell und organisatorisch ausgewiesenen ‚Experten‚ und entsprechend rationalistisches ‚Expertenwissen‘ ein. Insbesondere von Bedeutung seien hier die vermittels des (bisweilen sozioökologisch erweiterten) Risikofaktorenmodells erarbeiteten wissenschaftlichen Expertisen über „schädliche Lebensstile“ (‚lifestyles‚), die als – mehr oder wenig verbrämtes – Ergebnis einer individuellen Wahlhandlung betrachtet würden: „Lifestlye theory posits the individual subject as a rational, calculating actor who adopts a prudent attitude in respect to risk and danger.“ (PL 1996: 15). Eine besondere Bedeutung komme bei diesen Expertisen der gesamte WHO-Komplex der „Health-For-All“-Strategie zu, die PL im weiteren Verlauf des Buches noch genauer betrachten. Die Bedeutung der Expertise und der zugehörigen Expertinnen und Experten breche sich daher an der (vermeintlichen) Bedeutung von Empowerment und Partizipation im Diskurs der New Public Health.

Professional expertise remains privileged over lay expertise, as is highly evident in health educational advise to populations on how they should regulate their lives to achieve good health. Thus, while the new public health may draw on a ‚postmodernist‘ type of rhetoric in its claims, it remains at heart a conventionally modernist enterprise. (PL 1996: 8)

Vor diesem (meta-)theoretischem Hintergrund identifizieren Petersen und Lupton im weiten Verlauf ihres Buches zahlreiche Ambivalenzen, Verkürzungen und Blindflecken zentraler NPH-Strategien, die sie im Sinne der Erarbeitung einer „reflexiven Praxis“ (PL 1996: 181; meine Übersetzung) für nötig erachten, um nicht in die ‚NPH-Falle‘ (KM) unsichtbarer Herrschaft und gut gemeinter Strategien zu tappen, denn bekanntlich gilt: „The road to hell is paved with good intentions …“

KRITIK DER EPIDEMIOLOGIE: DER MYTHOS WISSENSCHAFTLICHER ‚FAKTEN‘ UND DIE SOZIALE KONSTRUKTION DES ‚RISKANTEN SELBST‘

Epidemiologie (=Lehre von der Verteilung der Gesundheitszustände und deren Determinanten in der Bevölkerung) gilt als die methodologische Basis der Gesundheitswissenschaften und beruht auf der grundlegende Annahme der statistischen Berechenbarkeit des (Krankheits- und Sterbe-)Risikos und der experimentellen Bewertung der Wichtigkeit und (potentiellen) Kausalitätspotenz von Risikofaktoren (vgl. Klemperer 2015: 157ff.; Razum/Breckenkamp/Brzoska 2017; Egger/Razum 2018: 31ff.). PL (1996: 27ff.) kritisieren die dominante Stellung der Epidemiologie in zweifacher Hinsicht. Zum einen unterstelle die Epidemiologie die im Prinzip unproblematische Kreation von ‚epidemiologischen Fakten‘ und suggeriere damit die Erreichung einer (quasi-naturwissenschaftlichen) objektiven Wahrheit über das ‚Wesen‘ und die Ursachen von Krankheitszuständen. Diese oftmals in der Praxis epidemiologischer Forschung unreflektierte Prämisse halten Petersen und Lupton aus wissenschaftstheoretischer Perspektive für unhaltbar. Zum anderen werfen sie in der Folge dieser wissenschaftstheoretischen Infragestellung objektiver Wahrheiten die Frage nach der Art und Weise sowie den Folgen der sozialen Konstruktion von Wahrheiten oder (um mit Foucault zu sprechen) ‚Epistemen‘ durch epidemiologische Forschung auf.  Die ‚governing by numbers‘ (PL 1996: 27) durch staatliche Bürokratien sei mit dem Aufstieg der Epidemiologie zur Kontrolle und Disziplinierung der ‚Bevölkerung‘, dem Beginn der liberal-gouvernementalistischen ‚Bevölkerungspolitik‘ (vgl. Lemke 2007; Poczka 2017), eng verbunden und führe im Kontext neoliberaler Gesellschaftlichkeit zu Normalisierungsprozessen und der sozialen Konstitution und Moralbedürftigkeit des ‚riskanten Selbst‘.

‚Epidemiologische Fakten‘ sind – wie Petersen und Lupton (1996: 30ff.) zeigen – sozial konstruiert. Im epidemiologischen Selbstverständnis werden unabhängige und abhängige Variablen auf statistisch signifikante Assoziationen untersucht. Während es sich in der Regel bei abhängigen Variablen um (scheinbar) klar operationalisierbare Krankheitszustände handelt, können die unabhängigen, potentiell determinierenden Variablen aus einer ganzen Sammlung von Daten stammen: „…variables as gender, age, social class, race, ethnicity and place of residence are relatedto such ‚outcomes‘ as longevity, heart disease, cancer, respiratory, alcohol consumption, smoking behaviour, and so on.“ (Ebd.: 32) Doch weder die unabhängigen noch die abhängigen Variablen seien so objektiv und klar, wie es epidemiologische Forschung benötige und gern – kontrafaktisch – unterstelle.  So seien weder Begriffe wie „social class“ oder „race“ (ebd.) in ihrer theoretischen Begründung und Operationalisierung unproblematisch; noch sei die „Quantifzierung“ von Todesfällen via ärztliches Attest frei von systematischen und sozial bedingten Fehlern (ebd.: 38f.). Das kausaltheoretische Modell, welches – immer noch – in der epidemiologischen Forschung gültig sei (vgl. zum Ur-Risikofaktorenmodell und seiner biopsychosozialen Weiterentwicklung: Klemperer 2015: 50ff.), basiert auf der Idee eines „‚web of causation'“, wie PL in Anlehnung an die Harvard-Epidemiologien Nancy Krieger (1994) betonen. Zwar lehnten Befürworter dieses „Netz-Modells“ einfache Verursachungsmodelle  ab und akzeptieren multifaktorielle Kausalbedingungen (insbesondere) von chronisch-degenerativen Erkrankungen, aber die empirische Fokussierung auf zentrale Faktoren ist keineswegs „neutral“. PL (1996: 32f.) paraphrasieren zustimmend Nancy Kriegers (1994) Kritik an der theorielosen Epidemiologie der Datenfriedhöfe:

While it [the ‚web-of-causation‘-model, KM] is typically described as ’non hierarchical‘, the ‚web‘ construct tends to privilege some explanations over others, focusing particular attention on the risk factors that are relatively contained and closest to the outcome under investigation (Kriegler [SIC!] 1994, p. 890). Thus, although ‚fuzzy‘ factors such as socioeconomic status will often be included as potential risk factors, few solutions for how to ‚eradicate‘ these risks will be offered, simply because they are complex societal structural features compared with more discrete and therefore more approachable risk factors such as contaminated water supply. The ‚web‘ model also tends to be temporally unidimensional, losing sight of historical changes in disease causation. While the ‚web‘ model acknowledges there is often no single cause of  illness, it still emphasises the ways in which multiple causes combine to have an impact upon a socially atomised individual, often ignoring or playing down the social context (Kriegler [SIC!] 1994, p. 892).

Epidemiologische und biostatistische Daten sind jedoch keine ‚Fakten‘, sondern sozial konstruierte Quantifizierungen, welche im gleichen Atemzug als „Probleme“ konstituiert würden (ebd.: 33). Bezugnehmend auf den Wissenschaftshistoriker Ludwig Fleck unterstreichen sie, dass „Fakten“ nicht nur durch das (Vor-)Wissen und Weltanschauungen („belief systems“) der involvierten Wissenschaftler, sondern auch im Kontext professioneller Eigeninteressen, Machtbeziehungen und Ressourcenallokationen auf dem Feld der Wissenschaft geprägt werden (ebd.). Die quantifizierende Bestimmung von unabhängigen und abhängigen Variablen, also ihre Operationalisierung, ist in theorielosen und unreflektierten Studien oftmals nur eine Bestätigung bereits vorhandenen ‚impliziten Wissens‘, die Auswahl besonders politisch beeinflussbarer Faktoren kein Ausweis neutraler Wissenschaft, sondern gesellschaftlich geprägt. Im Neoliberalismus – so ließe sich die Argumentation von PL zuspitzen – werden vor allem (individualistische) Risikofaktoren als sinnvolle Ansatzpunkte von Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention betrachtet  (die beiden deutschen Gesundheitswissenschaftler Hagen Kühn und Rolf Rosenbrock [1994: 39ff.] haben in treffender Weise für diesen Zusammenhang das „Darwinsche Gesetz der Präventionspolitik“ formuliert). Epidemiologische ‚Fakten‘ und ‚Wahrheiten‘ sind daher kontextsensibel und überschnelle Generalisierungen universellen Wahrheitsanspruchs sind kritisch zu betrachten. Allgemein gilt: „It is clear that pre-established assumptions about the cause of a disease may shape the manner in which research is carried out to then ‚prove‘ this causal link.“ (PL 1996: 45). Daher plädieren wissenschaftstheoretisch reflektierte Epidemiologinnen, wie zum Beispiel die US-amerikanische Wissenschaftlerin Nancy Krieger (2011), zu einer bewussteren theoretischen Reflexion epidemiologischer Forschung. Petersen und Lupton (1996: 39) fassen ihre Skepsis gegenüber epidemiologischen ‚Fakten‘ präzise zusammen:

The very choice of what phenomena require measurement and surveillance is a product of sociocultural processes, related to such factors as the research interest of the epidemiologists involved, current knowledges systems about the links between human behaviours or embodied characteristics and illness and disease, access to resources to fund research and surveillance strategies, the interests of the organisations in which epidemiologists are located, feasibility of measurement, and ethical and political considerations.

Durch die soziale Konstruktion von „Risikofaktoren“ bzw. „Risikoverhalten“ als gesellschaftlichen Problemen werden die „Abweichler“ von Normierungen und Normalisierungsprozessen zum „Problem gemacht“ (Hacking 1990). Zudem treten die Erkenntnisse und Wissenssysteme von Laien und Epidemiologen auseinander, mit der Annahme, dass Laien-Ätiologien weniger wert sind als diejenigen von „Experten“. Das mit Hilfe epidemiologischer Instrumente sozial konstruierte Verständnis von Gesundheitsrisiken reduziere sich allzuoft auf die individuelle Ebene, etwa Rauchverhalten, ohne dass soziale Gründe für dieses „Risikoverhalten“ überhaupt konzeptionell in den Blick genommen würden. Der Kampf gegen „unhealty lifestlyes“ (PL 1996: 49) im New-Public-Health-Diskurs beinhalte ein „…strong element of moralism and emphasis on personal responsibility.“ (Ebd.: 48) Die Kehrseite dieser neosozialen Moralität – wie ich sie oben benannt habe – ist PL zufolge freilich die abgrenzende und stigmatisierende Konstruktion des „Anderen“ bzw. „Andersartigen“ der von der Norm(alisierung) abweicht, wie Petersen und Lupton anhand Alkohol- und Drogensüchtigen sowie des (rassistisch geprägten) HIV-Verdachts ausgesetzten Menschen anderer Hautfarben beschreiben (ebd.: 55ff.). Die Kritik von PL (1996: 60) an der (unreflektierten) Epidemiologie fällt vernichtend aus:

Epidemiology is thus one of the central strategies in the new public health used to construct notions of ‚health‘ and, through this construction, to invoke and reproduce moral judgments about the worth of individuals and social groups. What implications does this have for the conduct of oneself as a citizen?

KRITIK DES GESUNDHEITSFÖRERLICHEN REDUKTIONISMUS: DIE KONSTRUKTION EINES ‚GESUNDEN BÜRGERS‘ UND DIE WANDLUNGEN DER GENDERASPEKTE

Das Konzept des Staatsbürgers („citizinship“) hat sich im Prozes der Zivilisation seit der Renaissance herausgebildet und war eng mit der Entstehung des Selbst-Konzeptes (’selfhood‘) verbunden (vgl. Elias 1997). Petersen und Lupton schreiben diesem bürgerlichen Selbst einige Kernmerkmale zu, dessen Verwirklichung historisch in seiner Zeit der Entstehung vor allem freien, besitzenden Bürgern (eben: männlichen Geschlechts) vorbehalten waren.

Civility is important to citizenship because participation as a citizen in participatory democracy involves self-control of the body and the emotions, the regulation of one’s demeanour and the cultivation of patience, enthusiasm and interest (Minson 1993, p. 203, zit.n. PL 1996: 63)

Im 20. Jahrhundert habe sich die soziale Normierung des Staatsbürgers im ‚Westen‘ zunächst im Zuge des Ausbaus der Sozialstaates – vor allem – nach dem Zweiten Weltkrieg inhaltlich in die Aufwertung von sozialer Verantwortlichkeit und kollektiver Solidarität entwickelt (ebd.), bevor im Zuge der 1980er Jahre und vor dem Hintergrund des (Wieder-)Aufstiegs neo-liberaler Philosophien der vorgängige passive und abhängige Staatsbürger sich erneut in einen aktiven und stark individualisierten verwandelt habe, dessen Kernidentität die Wahlentscheidung sei. Entgegen neoliberalen Freiheitsideologien unterstreichen PL jedoch, dass diese scheinbar freien Wahlentscheidungen mit einer Veränderung von Regierungsstrategien und -technologien einhergingen; jenem Kerngegenstand der von PL (1996: 63f.) favorisierten Gouvernementalitätsstudien:

…governmental programs and regulatory technologies have diversified still more, to construct an autonomous subject whose choices and desires are aligned with the objectives of the state and other social authorities and institutions.

Die gesellschaftliche Konstitution von Individuen als ‚Subjekte‘ gehorche einer – zugespitzt formuliert – Dialektik aus „techniques of governmental self-formation“ und „practices of ethical self-formation“ (ebd.: 64). Die bereits begrifflich eingeführte ’neosoziale Moralität‘ bewirkt eine Parallelisierung des generellen neuen Staatsbürgers mit dem im NPH-Diskurs konstruierten gesunden Bürger, dem „healthy citizen“ (ebd.: 64ff.). Dessen Aufstieg verläuft – wie PL unter Verweis auf grundlegende Arbeiten von Foucault, Herzlich/Pierret und Duden zeigen – ebenfalls in historischen Kontinuitäten und Brüchen. Der Kern des ‚gesunden Bürgers‘ sei die Selbsterhaltung seines Körpers, zum Zweck seiner (produktiven) Teilnahme an und (präventiven) Abwehr gesundheitlicher Gefahren für die Gesellschaft (vgl. zur Bedeutung des ‚Body‘-Konzepts in der Gesundheitssoziologie: Turner 1995: 204ff.; Lupton 2000: 50ff.; Turner 2004: passim; Nettleton 2006: 104ff.). Beginnend in der Aufklärungszeit „…governmental means of regulating the body began to shift from overtly coercive methods to those of self-regulation.“ (PL 1996: 66) Im Zuge der Neoliberalisierung und der zunehmenden Kommodifizierung kollektiver Güter – über den „Fordismus“ wird diesbezüglich recht wenig von PL geäußert; ggf. wegen der höheren Bedeutung der Medizin für die Passivierung des Patienten (Lupton 2012); die Sozialdemokratie als politisch-ideologische Verkörperung des Fordismus (Buci-Glucksmann/Therborn 1981) verstand sich ja auch als ‚kurierender‘ Arzt am Bett des Kapitalismus – verwandelt sich das liberale Normideal der Freiheit in das der gesundheitsbewussten Wahlentscheidung gesundheitsförderlicher Güter für jede Einzelne, ihre Familien und die ganze Gesellschaft:

Ideal ‚healthy‘ citizens have their children immunised according to state directives, participate in screening procedures such as cervical cancer smear tests and blood cholestrol tests (but only when they are deemed to be in the appropriate target group), control their diet according to dietry guidelines and take regular exercise to protect themselves against such conditions as coronary heart disease and osteoperosis. Not only do they take steps to protect their own health but their are also concerned about the health of others. (PL: 1996: 69)

Die Kehrseite solcher Regierungsprogrammen und liberaler Selbstverständnissen zur ‚Förderung‘ gesunder Bürger ist PL zufolge freilich die letzinstanzliche autoritative Durchsetzung der Verhaltensmerkmale der gesunden Bürgerin gegenüber stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen in der Gesellschaft, die nicht in der Lage sind oder –  aus der Perspektive neosozialer Moralität noch schlimmer – sich den staatlichen Programmen und sozialen Moralanforderungen gar widersetzen.  Trotz der Rhetorik der Freiwilligkeit und der freien Wahlentscheidung liege im Kern der Idee des NPH strikt die staatliche Durchsetzung sozialmoralischer Gesundheitsverhältnisse.  Von der (neo-)liberalen Wahlfreiheit bleibe folglich nur ein ideologischer Schein, sie werde , abweichendes Verhalten im Zweifelsfall staatlich erzwungen zu normalisieren versucht:

The state still takes a largely paternalistic approach to the task of monitoring and regulating its ‚citizens‘ health, albeit cloaked in the discourse of individual and community ‚voluntary participation‘. Public health represents the state as the agency responsible for guarding and ensuring the health of the populace. (PL 1996: 71)

Im weiteren Verlauf ihres Buches beschreiben Petersen und Lupton (ebd: 72ff.) den Genderaspekt des gesunden Bürgers (SIC!), indem sie darauf hinweisen, dass Frauen wesentlich stärker als Männer den Herrschaftstechniken des Staates unterworfen werden und sich als selbstverantwortliche (Mittelklasse-)Subjekte selbst in dieser Weise konstruieren. Diese besonders starke Regulierung des weiblichen Körpers geht auch einher mit der historisch zunächst begrenzten Zuweisung des Staatsbürgerstatus auf (weiße) Männer und der Zuweisung der (betreuenden) Mutterrolle von Frauen in den Familien der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Bewahrung gesunder Familienverhältnisse durch Kontrolle des weiblichen Körpers im Hinblick auf häusliche Sauberkeit, soziale Attraktivität, eheliche Sexualität und risikoaverses Verhalten (für Kind, Mann und – in dieser Reihenfolge – für sich) ziehe sich als moralische Anforderung an Frauen durch die gesamte Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und sei gegenüber weniger selbstkontrollierten Gruppen von Frauen (z.B. englischen Arbeiterfrauen) entweder staatlicherseits oder durch freiwilligen Dienst von Mittelklassefrauen eingefordert worden. Entsprechend den gesundheitsmoralischen Anforderungen an Frauen seien sie auch als besonders kontrollnotwendig (Risiken!) und kontrollbedürftig (geringe Selbstkontrolle, affektiv determiniert) angesehen worden. Im NPH-Diskurs habe sich trotz punktueller Variationen und neuartiger Risiken daher lange Zeit nichts Grundsätzliches am kritischen Verhältnis zu Frauen im Sinne  „liberaler Gouvernementalität“ (Poczka 2017: 421ff.)  geändert:

In the new public health discourse women are encouraged to monitor the shape and size of their bodies so as to maximise their sexual attractiveness and desirability, and to avoid practices such as smoking because men will find their breath unattractive or because it causes premature wrinkling. The feminine ‚healthy‘ citizen, it is suggested, should seek both soundness of body and physical allure through the self-care techniques proferred by the new public health. In these discourses there is an elision between the ideals of commodity culture and public health, for both promote the slim, attractive, healthy, physically fit, youthful body as that which women should seek to attain. (PL 1996: 80)

Der ‚gesunde Mann‘ war und ist in vielerlei Hinsicht konträr zu den moralischen Anforderungen, die an Frauen gestellt werden, konstruiert: „The male body is dominantly culturally represented and understood as ‚contained‘, dry and controlled compared with the soft, viscous body of a woman.“ (Ebd.: 81) Wenn die in Anklang an griechische Ursprünge oft muskulär geprägte männliche Körperlichkeit außer Kontrolle gerate – in Krankheitsepisoden etwa – werde die körperliche Identität des Mannes außer Kraft gesetzt; hier liegt gewissermaßen die identitätstheoretische Begründung für den sprichwörtlichen „Männerschnupfen„. Die Sorge des Mannes um seine Gesundheit, die Vermeidung exzessiven und risikobehafteten Verhaltens, welche seine ‚Kraft‘ demonstrieren soll, werde oft – so PL – mit (sozial und individuell abgewerteter) Homosexualität identifiziert.  „By contrast, engaging in activities that treathen one’s health, endanger one’s body, are often coded as masculine.“ (Ebd.: 83)

Diese Einschätzung von PL mag heute ein wenig veraltet erscheinen, doch ist es durchaus fraglich, ob die ‚Männlichkeit‘ heute, zwanzig Jahre später, trotz zunehmenden ‚verordneten‘ Gesundheitsbewussteins von Männern (z.B. Klotz/Hurrelmann/Eickenberg 1998 ; Altgeld 2004; Merbach/Bräler 2014) in gleicher Weise reguliert wird wie die weiterhin stark regulierte ‚Weiblichkeit‘. Aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive beispielsweise, die –  in positiver Weise – an die neo-liberalen Anforderungen der Subjektaktivierung und neosozialen Moralität anschließt (vgl. Lesssenich 2008: passim), wird eine Transformation von Geschlechterrollen identifiziert und in deren Folge soziale Anforderungen an diese gestellt, die nicht nur die Risikoneigung und überkommenden (gesundheitsrelevanten) Männlichkeitskonzepte, sondern auch traditionelle Weiblichkeitsrollen als sozialisationsbedingte Defizite identifizieren, mit denen eine erfolgreiche Integration in die Erwerbswelt verhindert werde (Siegrist/Möller-Leimkühler 2012: 127ff.).  Petersen und Lupton (1996: 85ff.) haben jedoch bereits unter Hinweis auf die „men’s health“-Bewegung diese modernistische Differenzierung männlicher Gesundheitskonzepte antizipiert. Motiviert durch die durchschnittlich geringer Lebenserwartung von Männern ziele diese Bewegung auf eine Einübung ‚gesünderer‘ Lebensstile und aktiveren Nutzung bestehender Gesundheitsdienstleistungen.

The [healthy citizen, KM] discourse […] represents an even greater extension of the new public health strategies of contiual monitoring and calculation of the population’s health status. The men’s health discourse, like that of women’s health movement that preceded it, underlines the ‚voluntary‘ nature of such surveillance, because the calls for the increased ‚medicalisation‘ of men’s bodies through greater access to health care services and medical screening technologies are not emerging from the state, but from community groups and individuals. (PL 1996: 87)

Obwohl PL hiermit eine gewisse Annäherung der Gesundheitskonzepte der ‚women’s-health“- und „men’s health“-Bewegungen suggerieren, bleibt die Frage ungeklärt, ob sich auch die Geschlechterrollen insgesamt anpassen. Ein flüchtiger Blick in die parallelen Zeitschriften ‚Men’s Health‚ und ‚Women’s Health‚ legt die Vermutung nahe, dass sich an grundlegenden Geschlechterrollen nicht viel geändert hat, außer mit der Qualifizierung, dass heutige Männer und Frauen sich entsprechenden den Anforderungen neosozialer Moralität gesünder zu verhalten suchen, dabei aber mutmaßlich immer noch soziostrukturelle Varianzen und Hierarchiemuster zu vermuten sind; Petersen und Lupton verfolgen leider diesen Gedanken nicht weiter. Eine klassentheoretische sensible Genderforschung hätte hier wohl anzusetzen. Zugleich stellt sich die Frage, ob diese neuen Strategien der gesundheitlichen Geschlechstkonstruktion wirklich mit traditionellen patriarchalischen oder gar sexistischen Reproduktionsformen brechen und wirklich eine doppelcodierte (bedingte) Maskulinisierung des Weiblichen sowie parallel eine (bedingte) Feminisierung des Männlichen stattfindet oder ob sie nur eine Transformation des Patriarchats darstellen (vgl. als Einstieg in und Überlick über die Gender-Studies: Abdul-Hussein 2014). Unabängig von diesen Gesichtspunkten wird der ‚healthy citizen‘  in gewisser Weise geschlechtsneutraler, gerade auch weil differente Aspekte von Gender bei der Konstitution von Gesundheit/Krankheit sowie gesundheitsförderlichem Verhalten berücksichtigt werden…

KRITIK DER SOZIAL-ÖKOLOGISCHEN GRUNDLAGEN VON NEW PUBLIC HEALTH: DIE MODERNISTISCHE KONSTRUKTION EINER ‚RISKANTEN UMWELT‘

Es ist ein weithin bekannter Truismus, dass der Aufstieg der politischen/sozialen Bewegungen für bessere gesundheitliche Verhältnisse unzweifelhaft mit einer Kritik an sozial-ökologischen Problemen und Auswüchsen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses einhergegangen ist (vgl. exemplarisch: Beck 1986; Trojan/Legewie 2001). PL unterziehen die sozial-ökologischen Grundlagen dieser Bewegungen für mehr Gesundheit einer kritischen Bewertung, wobei ihr Kernkritik darauf zielt, dass die von diesen Bewegungen kritisierten Modernisierungseffekte auf halbem Wege stecken bleiben, weil sie – nun in ‚kritischer‘ Absicht – weiterhin dem rationalistischem Aufklärungsglauben der Moderne anhängen. Ihre Kritik ist mithin eine Kritik an rationalistischen Modellen von Wissenschaft und Politik, die nicht nur den Schutz der und vor der „natürlichen Umwelt“, sondern auch der „sozialen Umwelt“ und des Einzelnen vor schlechten Einflüssen aus dieser betrifft.  Ihre wissenschaftstheoretisch inspirierte Kritk lässt sich mit ihren eigenen Worten wie folgt zusammenfassen:

In environmental discourses the inevitable contingencies, indeterminacies and uncertainties, the socially constructed nature of scientific knowledge, tend to be glossed over for a reliance upon ‚objective facts‘ (Grove-White 1993, p. 22). In turn, most solutions constituted to deal with environmental problems draw upon science and rational action. It is not knowledge base of science per se that is challenged, therefore, but rather the effects. of a ‚misused‘ science. (PL 1996: 118f.)

Diese resümierende Kritik soll im Folgenden in Bezug (i) auf die Figur des umweltbewussten Bürgers (ii) dem Begriff von Natur in diesen Diskurses und (iii) den sozialen Gesundheitsrisiken etwas ausführlicher rekonstruiert werden, bevor die Grundthese von PL im Hinblick auf Kohärenz und Aktualität abschließende diskutiert werden wird.

 

IN BEARBEITUNG…

LAST UPDATED: 2018-01-30