Ivan Illichs Medizinkritik revisited – alles gut?

In den 1970er Jahren erschien im Rowohlt Taschenbuchverlag ein Buch eines wortgewaltigen, streitlustigen und höchst unorthodoxen Intellektuellen unter dem Titel „Die Enteignung der Gesundheit“ (1975), der sich im Verlauf der folgenden Neuauflagen (1977 und 1979) in „Die Nemesis der Medizin“ verwandelte. In der letztmalig vom Autor autorisierten Neuauflage (1995) wechselte der Autor den Verlag (nun C.H. Beck), doch jenseits eines Nachwortes blieb das Buch weitgehend auf den Stand der 1970er Jahre. Der beigefügte Untertitel „Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ war letztlich ein marketinginduziertes Labeling, das auf die Medizinkritik in einem bestimmten sozialen Millieu abzielte, jedoch den durchaus aufklärerischen Intentionen des Autodidakten Ivan Illich hier entgegenstand. Nicht überraschend wird es in der internationalen Health Research Community weitgehend als Polemik und überschießender Medizinerhaß abgetan, der die „Erfolge der Medizin“ schlichtweg übersehe.

Zu dieser völlig überzogenen Kritik von Seiten der sich nunmehr evidenzbasiert verstehenden neuen Medizinerzunft (Vogd 2011) kam es – wenigstens in Deutschland – auch, dass der Titel publikumswirksam und reißerisch daherkam. Im englischen Original heißt es im Haupttitel schlicht „Limits to Medicine“ – und genau das wird in durchaus zugespitzter, positiv eingesetzter Polemik in dem Buch auch verfolgt. Ivan Illich ist alles andere als ein esoterischer Medizinkritiker, sondern er bezieht sich explizit auf den zu seiner Zeit verfügbaren Wissensstand der evidenzbasierten Medizin. Wer anderes behauptet, hat das Buch – vermutlich gilt das für die meisten Kritiker:innen – niemals gelesen oder polemisiert schlicht gegen die medizinkritische Infragestellung eminenzbasierten bzw. nunmehr institutionenbasierten Wissens, weil die Implikationen und offenen Fragen des Buches – auch heute noch – nicht gelegen kommen (siehe zum hiermit angesprochenen medizinisch-industriellen Komplex: ).

Dabei ist das Buch von seinen Fragen hochaktuell, denn wir befinden uns mitten in einer neuen, molekulargenetisch-digitalen, Revolution der Medizin, die alte Fragen, die Ivan Illich vor 50 Jahren kritisch gegen übliche Antworten neu bearbeitete, neu aufwirft: nutzt uns die Medizin wirklich? Welche Rolle spielen Ärzte, die Pharmaindustrie, aber auch der zunehmend sich kommerzialisierende Präventionssektor im Erlangen und Erhalten „unserer Gesundheit“ wirklich? Werden die Versprechen einer kommerzialisierten und genetifizierten Medizin und Public Health-Fürsorge wirklich eingehalten? Oder handelt es sich – wieder, erneut oder immer noch – um einen erneuerten Imperialismus der Medizin, der – in Habermas’scher Terminologie (1981) – die Lebenswelten kolonisiert? Welche Rolle spielen die Bürger und Bürgerinnen dabei selbst und ist dieser ganze Prozess des Weges in eine „Gesundheitsgesellschaft“ (Kickbusch/Hartung 2014) eigentlich zu begrüßen oder schlicht die Finalisierung der von Ivan Illich avisierten Dystopie einer entmenschlichten Gesellschaft?

In diesem Essay sollen die Grundbausteine der Ilich’schen kritischen Invektiven gegen die Medizin und das medizinische System kritisch rekonstruiert und – sofern für einen Einzelnen im derzeitigen „akademischen Kapitalismus“ (Münch 2001) möglich – aktualisiert werden. Dabei werde ich den Essay in zwei Teile gestalten. Während im ersten Teil die kritische Bestandsaufnahme Ivan Illichs im Hinblick auf seine Dreifachdiagnose von klinischer, sozialer und kultureller Iatrogenesis aus der Perspektive einer fünfzigjährigen Entwicklungsgeschichte von (auch: Kritischer) Public Health-Bewegung in seinen Grundaussagen auf ihre Zukunftsfähigkeit geprüft werden soll, widmet sich der zweite Teil einigen Fallstudien der (jüngeren) Medikalisierungsforschung (Mosebach 2010; Hehlmann et al. 2018), von deren Existenz Ivan Illich in seinen fulminanten Kritiken aus den 1970er Jahren (noch) nichts wissen konnte, deren potentiell invasiven Macht- und Wirkeffekte auf den Einzelnen und die Gesellschaft aber erheblich sind: der Genetifizierung und Digitalisierung der Medizin und von Public Health (vgl. für viele: Borck 1996; Peterson/Bunton 2002; Lemke 2003; Brown/Webster 2004; Gelhaus 2006; Lupton 2010, 2020; Cathomen/Puchta 2018).

I. Die Nemesis der Medizin – 50 Jahre Medizinkritik: was bleibt von Illichs kritischer Dreifachdiagnose?

Wird weitergeführt… (06. Januar 2024)

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