Konturen des kritischen Diskurses in den Gesundheitswissenschaften

ÖKONOMISIERUNG, KOMMODIFIZIERUNG, KOMMERZIALISIERUNG – KONTUREN DES KRITISCHEN DISKURSES I: DIE FRÜHEN KRITIKER

Im Gegensatz zum herrschenden Reformdiskurs im deutschen Gesundheitswesen (—> wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik) zeichnet sich der kritische Diskurs dadurch aus, dass die Diskursbeiträge und -positionen sich zu einzelnen Aspekten des institutionell-organisatorischen Wandels kritisch verhalten oder sogar die gesundheitspolitischen Paradigmenwandel insgesamt für problematisch erachten. Es geht im Folgenden weniger um die beschriebenen Prozesse der mit einer dieser Kategorien (Ökonomisierung, Kommerzialisierung, Kommodifizierung) bezeichneten sozialen Realität, sondern vielmehr um die Klärung ihrer begrifflichen Dimensionen, beschriebenen Inhalte und der analytischen Weite der konfligierenden Signifikanten. Die Auswahl früher kritischer Diskurspositionen behauptet keinen Anspruch auf umfassende Darstellung kritisch-medizinsoziologischer Forschung (vgl. hierzu als Einstieg: Rakowitz 2004). Dennoch können beide hier diskutierten kritischen (Medizin-)Soziologen als institutionell und diskurspolitisch wichtige Stimmen des kritischen Diskurses begründet werden.

Der  Begriff der Kommerzialisierung wurde vor allem von dem Frankfurter Medizinsoziologen Hans-Ulrich Deppe in den kritischen Diskurs eingebracht (vgl. v.a. Deppe 1976, 2004, 2005, 2008, 2010). Den Begriff der Kommerzialisierung bindet Hans-Ulrich Deppe vor allem an eine neue Qualität, einen „Kulturwandel in der Medizin“ (Deppe 1999: 183-185), medizinischer Entscheidungen und medizinisches Handels auf der Mikroebene, also handlungstheoretisch, wo sich ein Spannungsfeld zwischen ökonomischer Logik und berufsethischen Prinzpien aufspannt, das jedoch in eine neoliberale Umgestaltungsstrategie eingepasst sei.

„Mit der wachsenden Durchdringung medizinischen Handelns von betriebswirtschaftlichen Konstrukten und Anreizen findet eine immer stärkere Kommerzialisierung statt. Entscheidungen werden – zunächst bewusst und später unbewusst – zunehmend nach Gesichtspunkten der Rentabilität gefällt. Das ist keineswegs neu. Im ambulanten Sektor kennen wir seit langem den niedergelassenen Arzt als Unternehmer, der um seiner Existenz willen sein investiertes Kapital amortisieren muss. Aber durch die neoliberale ökonomische Orientierung nimmt dieser Druck zu und weitet sich auf Felder wie die stationäre Versorgung oder die Krankenpflege aus. Es verschiebt sich die Grauzone, wo die Eigendynamik konstruktiver wirtschaftlicher Regulierung in destruktives ärztliches Handeln umschlägt.“ (Deppe 2008: 136f.)

Die Kommerzialisierung der Gesundheits- und Krankenversorgung ist dieser Analyse zufolge eine Konsequenz der gesundheitspolitisch verfolgten Strategie der „Übertragung ökonomischer Gesetze und Instrumente auf außerökonomische Sachverhalte“, also der „Ökonomisierung“ (ebd.: 133), wobei er unterschiedliche Grade der Ökonomisierung synonym mit dem Begriff der Kommodifzierung identifiziert, jedoch nicht expliziert (ebd.: 134). Den Begriff der Ökonomisierung beschreibt Deppe wie folgt (ebd.: 133f.)

„Eine Ökonomisierung tritt in der Regel dann ein, wenn das Gewinnkalkül oder der Tauschwert das Übergewicht über seinen Träger, den Gebrauchswert, gewinnt. Von der Ökonomisierung wird auch dann gesprochen, wenn die Eigendynamik der Ökonomie diese aus der Gesellschaft entbettet, um sich ihr dann allerdings wieder wie ein Alb aufzulegen. An der Ökonomisierung wird zu Recht kritisiert, dass die Menschen, die davon betroffen sind, auf das Konstrukt des homo oeconomicus, den natürlich egoistischen und Nutzen maximierenden Menschen, reduziert werden. Es geht bei einer solchen Zuspitzung keineswegs um eine generelle Verurteilung der Ökonomie, sondern um die Kritik ihres Allmachtsanspruchs. Zu fragen ist dabei nicht nur nah dem Zuviel an Ökonomie, also dem Grad der Kommodifizierung, sondern auch danach, ob die eingesetzten Instrumente dem jeweiligen Sachverhalt angemessen sind.“ (Hervorhebung i.O.)

Ökonomisierungsprozesse im Gesundheitswesen werden Hans-Ulrich Deppe zufolge somit zu einem Problem, wenn sie „Grenzen sprengen“ (Ebd.: 134) und – um einige analytische Begriffen aus Pierre Bourdieus soziologischem Ansatz (20XX: ) zu nutzen – ökonomische Denkschemata und Handlungskalküle zum domierenden Merkmal bzw. normativem Vorbild werden. Doch die Frage der Ökonomisierung wirft auch legitime Aspekte auf, die Deppe allerdings in seinem Text nicht ausführt, auf deren Bedeutung aber z.B. Hagen Kühn (2004) – wie wir unten noch sehen werden – besonderen Wert legt.

Hinsichtlich der Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems spiele dem Frankfurter Medizinsoziologie zufolge das heutige „hegemoniale(n) Modell(s) von Ökonomie“ (Hervorhebung: KM) eine bedeutende Rolle, dem zufolge vor allem die „Logik der Mikroökonomie“ und die „betriebswirtschaftliche Rationalität“ stes auf die „Rentabilität“ und den „Gewinn des einzelnen Betriebes“ (Deppe 2008: 135) ausgerichtet sei. Diese mikroökonomische oder auch betriebswirtschafliche Logik könne aber nicht nur insgesamt (z.B. im Umweltschutz), sondern auch im Gesundheitswesen im Widerspruch mit gesamtwirtschaftlichen Zielsetzungen liegen und erhebliche „soziale Kosten“(ebd.) hervorrufen.

„So kann bespielsweise die Verschiebung von Kosten aus dem ambulanten in den stationären Sektor und umgekehrt durchaus für die jeweilige Institution einen Vorteil bedeuten, obwohl sie unter einer Gesamtsicht verteuernd wirkt. MIt betriebswirtschaftlichen Verfahren lässt sich in der Beziehung zwischen sozialer Arbeit und ihren Adressaten allensfalls messen, ob etwas richtig getan wird, nicht aber, ob auch das Richtige getan wird.“ (ebd.: 135f.)

Die Kommerzialisierung der Gesundheits- und Krankenversorgung ist demzufolge eine entscheidungstheoretische Konsequenz der neoliberalen Ökonomisierungsstrategie für das deutsche Gesundheitssystem, welche mittels der Einrichtung von Märkten, Wettbewerb und Privatisierungen im Gesundheitswesen umgesetzt wird. Ökonomisches Denken – vor allem auf der betriebswirtschaftlichen Ebene und im Sinnes jenes neoliberalen „hegemonialen Modells von Ökonomie“ (135) – könne eine solidarische Gesundheits- und Krankenversorgung unterminieren, indem es das Arzt- und Patienten-Verhältnis in ein (misstrauensförderliches) Vertragsverhältnis transformiere und eine kommerzialisierungsförderliche, aber patientenunfreundliche Kulturwende in der Medizin anfache (ebd.: 139ff.), insbesondere für Patient*inn*en aus niedrigen sozialen Schichten. Diese sozialen, verletztlichen Gruppen benötigten jedoch „am Gemeinwohl orientierte Schutzzonen“ (ebd.: 142, Hervorhebung i.O.). Dabei handele es sich „keineswegs um periphere oder marginale gesellschaftliche Probleme.“ Denn immerhin zähle „das Recht auf Gesundheit zu den Menschenrechten.“ (ebd.: 144). Die ökonomischen Grenzen im Gesundheitswesen sollten  Deppe zufolge strikt gezogen werden, denn:

Gelegentlich verleitet die schamlose Instrumentalisierung von sozialen Grundwerten für eine Verschleierung privater Interessen zu der falschen Annahme, dass sich der Sinn von Menschenrechten in ihrem Missbrauch erschöpfe. Aber: Menschenrechte lassen sich nicht kommerzialisieren, sie lassen sich auch nicht vermarkten, ohne dass sie daran zerbrechen.“ (Ebd.; Hervorhebung i.O.)

Ein weiterer wichtiger Kritiker der Ökonomisierungsprozesse im deutschen Gesundheitswesen ist der – mittlerweile ebenfalls emiritierte – Berliner Gesundheitswissenschaftler Hagen Kühn (2004, 2008). Ausgehend von seinen frühen  empirischen Studien zu grundlegenden Wandlungsprozessen des US-amerikanischen Gesundheitssystems (Kühn 1993, 1996, 1997) und anknüpfend an seine pionierhafte Arbeit über die Politsche Ökonomie der Krankenhausversorgung in Deutschland (Kühn 1978) beschäftigte er sich als einer der ersten Gesundheitswissenschaftlicher erstens mit Fragen einer von den USA ausgehenden Kommodifizierung der (deutschen) Krankenversorgung, die er auch als „kommerzieller Bürokratie“ bezeichnete (Kühn 1997), und zweitens inbesondere mit den Effekten auf die Steuerung von Gesundheits- und Krankvenversorgungsleistungen im Krankenhauswesens (Kühn/Simon 2001, WAMP, 2008). In seinem Aufsatz über die „Ökonomisierungstendenz in der medizinischen Versorgung“ (Kühn 2004) setzt er den Begriff der Ökonomisierung mit dem Begriff der Kommodifizierung insofern gleich, als letzterer die englische Übersetzung sei. Was aber meint Ökonomisierung im Sinne Kühns? Er definiert ihn wie folgt:

„Der Begriff der Ökonomisierung bedeutet nicht abstrakte Wirtschaftlichkeit oder Effizienz. Das weitgehend marktorientierte amerikanische System gilt als das unwirtschaftlichste der westlichen Welt. Es geht nicht darum, mit gegebenen Mitteleinsatz einen möglichst großen Gesundheitseffekt zu erzielen oder einen gegebenen Effekt mit möglichst geringen Ressourceneinsatz zu schaffen. Ökonomisierung meint vielmehr die der kapitalistischen Marktwirtschaft innewohnende Tendenz der gesellschaftlichen ‚Landnahme‘ (Lutz) durch die Prinzipien durch die Prinzipien der Kapitalverwertung bzw. des Rentabilitätskalküls, selbst dort, wo kein Kapital verwertet wird.“ (Kühn 2004: 29)

Genauso wie Hans-Ulrich Deppe bestimmt Hagen Kühn den Ökonomisierungsbegriff über die Priorität der Erzielung eines Gewinns bzw. des Rentabilitätskalküls gegenüber anderen relevanten Fragen eines effizienten Ressourceneinsatzes etwa, das Deppe unter Verweis auf das widersprüchliche Verhältnis betriebswirtschaftlicher Gewinnkalkulation und gesamtwirtschaftlicher Effizienz thematisiert (’soziale Kosten‘). In einem Aufsatz zur ‚Managed-Care-Revolution‘ im US-amerikanischen Gesundheitssystem der 1980er und frühen 1990er Jahre nutzt Hagen Kühn den Begriff der Kommerzialisierung mit dem Begriff der Ökonomisierung in identischer Weise (Kühn 1997: 35ff.). Tatsächlich taucht das Lautbild „Ökonomisierung“ trotz der begrifflichen Identität nicht prominent auf, was möglicherweise auf das US-amerikanische Fallbeispiel oder eine Verschiebung des diskursiven Kontextes zurückgeführt werden kann. Der theoretische Gleichklang der beiden Ökonomisierungskritiker drückt sich auch im zustimmenden Verweis Deppes (2008: 133f., s.o.) auf eine besonders griffige Formel Hagen Kühns aus, in der letzterer den Begriff der Ökonomisierung im Hinblick auf die Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert an einem Beispiel aus der Versorungssteuerung plausibilisiert (Kühn 2004: 32):

„Ökonomisierung meint das zunehmende Übergewicht des Tauschwerts über den Gebrauchswert. Alle inhaltlichen Konzeptionen zur gesundheitspolitischen Gestaltung lassen sich danach unterscheiden, ob sie auf Nutzenziele- oder auf Geldziele orientieren. Ein typisches Beispiel für Tauschwert- bzw. Geldorientierung im Gesundheitswesen sind die Steuerungsversuche durch monetäre Anreize ebenso wie das Verhalten derjenigen Ärzte, die darauf in gewünschter Weise respondieren. Beispiele für am Gebrauchswert orientierte Steuerungsversuche sind evidenzbasierte Leitlinien oder Qualitätsmanagement, wenn es nachweislich die Morbidität senkt und die Lebensqualität erhöht“.

Trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung über den Begriff der Ökonomisierung / Kommerzialisierung bringt Hagen Kühn noch eine weitere Dimension des Ökonomisierungsbegriffes ins Spiel, das eine Detaildifferenz zwischen den beiden Gesundheitswissenschaftlern offenbart, ohne dass jedoch der gemeinsame Kern betroffen sein müsste. Während Hans-Ulrich Deppe (2008: 135) einen Widerspruch zwischen betriebwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Logik unterstellt, weist Hagen Kühn – zumindest implizit – auf das durchaus logische Ineinandergreifen neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik hin, wenn er die Auswirkungen der Beibehaltung des neoliberalen Kerndogmas des „Prinzips der Beitragsstabilität“ auf die GKV unter der Errichtung eines „finanziellen Drucks“ (Kühn 2004: 28) diskutiert. Hiermit verweist er auf einen Kernzusammenhang jener wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik, die ein wesentliches Treibmittel der Kommerzialisierung des deutschen Gesundheitssystem ausmacht (–> wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik).

„Dieser [finanzielle, KM] Druck wird mittels prospektiver Finanzierungsanreize (Bugets, Pauschalen) an die Leistungserbringer weitergegeben, die es ihrerseits an ihre Klientel weiterreichen können. Die binneninstitutionellen Anreiz- und Sanktionssysteme wiederum sollen Ärzte und Pflegepersonal dazu veranlassen, in ihrem eigenen (Einkommens- und Arbeitsplatz-) Interesse die relative Wertsenkung der kollektiven Lohnbestandteile gegenüber den Patienten umzusetzen. Sie folgen den Sparanreizen meist in dem Bewustsein, verantwortlich für ‚die Gesellschaft‘ zu handeln, wenn sie tatsächlich die ökonomische Entwertung der Arbeitskraft (fallende Lohnquote) mit der Entwertung des sozialversicherten Patienten fortsetzen.“ (Kühn 2004: 28)

Im Gegensatz zu der normativ aufgeladenen Hoffnung auf eine Widersprüchlichkeit zwischen betriebswirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität thematisiert Hagen Kühn hier mögliche (psychologische, aber institutionell-organisiert gestützte) Mechanismen, über die die mikroökonomische/betriebswirtschaftliche Logik mit der makroökonomischen Logik und sogar den ethischen Standards im Kontext eines sich ökonomisierenden Gesundheitssystems versöhnt werden können. Daher bezieht er sich auch auf psychologische Konzepte eines Re-Framing bzw. ökonomischen Bezugrahmens um die gewissermaßen ideologische oder doch wenigstens legitimierende Funktion der zunehmenden Steuerung des deutschen Gesundheitswesens über das Medium Geld kritisch zu beleuchten. Zwei Stellen in seinem Beitrag machen den Zusammenhang deutlich:

„Die monetäre Steuerung der Krankenversorgung legitimiert also staatlicherseits das Kalkül des Gelderwerbs als handlungsleitendes Motiv und trägt damit zur Veränderung des kulturellen Rahmens bei.“ (Kühn 2004: 36)

Und:

„Durch Marktsimulation und Wettbewerb im Gesundheitswesen wird tendenziell die Marktlogik zum Bezugsrahmen der Behandlungs- und Pflegeentscheidungen. Diese moralischen und gesundheitlichen Kosten monetärer Steuerung werden bislang nicht bedacht.“ (Kühn 2004: 38)

Hagen Kühn macht hier auf einen wichtigen handlungs- und strukturtheoretisch folgenreichen Bewusstseins- und Wahrnehmungswandel der involiverten Akteure aufmerksam, für die unter Umständen auch der von Deppe betonte Widerspruch zwischen betriebswirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität, der zu „sozialen Kosten“ führe, unproblematisch ist bzw. gar nicht besteht, weil unerkannt bleibt (vgl. auch Kühn 2004: 28). In nachfolgenden Forschungsbeiträgen spricht Hagen Kühn (2007: 75ff.) hier von einer „moralischen Dissonanz, die sich in den betroffenen Akteuren (Ärzt*inn*en und Pflegekräften) als ethischer Interessenkonflikt zwischen dem ökonomisch und medizinisch/pflegerisch Notwendigem offenbare. Mit anderen Worten, der von der Ökonomisierung des Gesundheitswesens angestoßene Kulturwandel in der Medizin, der – wie dargestellt – auch von Deppe (1999) thematisiert wird, trägt Kühn (2004: 38ff., 2007: passim) zufolge jedoch eigene Selbststabilisatoren in sich, die um so gewichtiger werden, je mehr sich die medizinische und pflegerische Berufstethik verschiebt. Das ist der zunehmende ökonomische Bezugsrahmen der Akteure im Gesundheitswesen für medizinische und pflegerische Entscheidungen (vgl. Kühn 2004: 36ff; 2007: 72ff.; Braun et al. 2010: 142ff.).

Den Ursprung des Kulturwandels der Medizin vermutet Hagen Kühn im US-amerikanischen Gesundheitssystem, das – frei nach Marx – den Nachzüglern seine Zukunft zeigt. Wenn auch theoretischen Überlegungen und empirischen Prozesse der zunehmenden Kapitalwirtschaftsorientierung im Gesundheitswesen bei Kühn im Dunkeln bleiben, ist seine Auswahl des US-amerikanischen Gesundheitssystems aus genannten Grund eben nicht zufällig, sondern in dessen Vorbildcharakter begründet (Kühn 1993: 17, 1997: 9; auch: Mosebach 2003). Kühn (2004: 39f.) zitiert ausführlich einen amerikanischen Medizinethiker (George Annas), der Ende der 1980er Jahre die moralisch-ethische Grammatik des zukünftigen US-amerikanischen Gesundheitssystems umschreibt, das heutgen Beobachter*inn*en des hiesigen Gesundheitssystems nicht allzu fremd erscheinen dürfte:

„Die Rolle der Ärzte hat sich radikal verändert, insofern sie heute von Managern unterwiesen werden und somit nicht länger Anwälte des Patienten sein können. Stattdessen müssen sie Anwälte der Versicherungen sein. Das Ziel der Medizin wird eine gesunde Bilanz anstatt einer gesunden Population. […] Der Schwerpunkt liegt auf Effizienz, Profitmaximierung, Kundenzufriedenheit, Zahlungsfähigkeit, Planung, Unternehmertum und Wettbewerb. DIe Ideologie der Medizin wird ersetzt durch die Ideologie des Markts. Vertrauen wird ersetzt durch caveat emptor. […] In dem Maße, in dem die Medizin zum Kapitalunternehmen wird, wird die medizinische Ethik durch die Geschäftsethik verdrängt. Auch die gemeinnützigen (nonprofit) Einrichtungen tendieren dazu, das Wertesystem ihrer kommerziellen Konkurrenten zu übernehmen. Ein Abschluss in Betriebswirtschaftslehre wird mindests so wichtig wie ein Abschluss in Medizin. Öffentliche Institutionen, die von ihrer Aufgabe her gar nicht konkurrenzfähig sein können, risiken ihr Ende, einen Zweite-Klasse-Status oder schlicht die Privatisierung.“

 

ÖKONOMISIERUNG, KOMMODIFIZIERUNG, KOMMERZIALISIERUNG – KONTUREN DES KRITISCHEN DISKURSES II: KRITIK NACH DEM ENDE DER INSTITUTIONALISIERTEN KRITIK

Die frühe kritische Ökonomisierungskritik im deutschen Gesundheitswesen war stark mit in die politischen Auseinandersetzungen um die Idee der Einführung von „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ (Stegmüller 1996) durch das Gesundheitsstrukturgesetz 1993 eingebunden. Dieser mit diesem als historisch bezeichneten Gesundheitsreformgesetz in Gang gesetzte „gesundheitspolitische Paradigmenwandel“ (Gerlinger 2002) kulminierte in der diskursiven Herausbildung und institutionell-organisatorischen Verfestigung jener wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik, die bis heute die Grunlinien der Gesundheitspolitik nicht nur in Deutschland maßgeblich markiert. Im historischen und zum Teil auch direkten institutionell-organisatorischen Anschluss an die beiden genannten pionierhaften Ökonomisierungskritiker im deutschen kritischen Gesundheitsdiskurs entwickelte sich eine zweite Generation von KritikerInnen an Ökonomisierungsprozessen im deutschen Gesundheitssystem, die insbesondere mit der Einführung des auf diagnosebezogenen Fallpauschalen beruhenden neuen Vergütungssystems im deutschen Krankenhaussektor einsetzte und an Fahrt gewann (z.B. Bölke et al. 2009; Braun 2014; Simon 2014) und dabei auf bereits bestehende Fallstudien zu Ökonomisierungsprozessen im Umfeld der frühen Pioniere von Ökonomisierungs- bzw. Kommerzialisierungsprozessen (Simon 1997; Kühn/Simon 2001) aufbauen konnte.

Dabei kam zum einen zu einer Verbreiterung der kritischen Forschung zu Folgewirkungen von Ökonomisierungsprozessen in anderen Sektoren des deutschen Gesundheitssystems in Richtung der Altenpflege (Slotala 2008; Slotala 2010; Slotala 2014), des ambulanten medizinischen Sektors (Schnee 2014), der Prävention und Gesundheitsförderung (Dahme/Wohlfahrt 2007), der Sozialen Arbeit und der Sozialen Dienste (Dahme/Wohlfahrt 2000; Buestrich/Burmester/Dahme/Wohlfahrt 2010; Müller et al. 2016). Von besonderer Bedeutung für diese neue Welle kritischer Ökonomisierungsstudien war dabei auch der zwanzigjährige „Geburtstag“ der Einführung der Idee des Wettbewerbs in das deutsche Gesundheitsystem (BKK 2013; Manzei/Schmiede 2014) sowie der Einführung des neuen Steuerungsmodells in die kommunale Sozialpolitik (Dahme/Wohlfahrt 2014; Müller et al. 2016). Es geht an dieser Stelle nicht um die Beschreibung von Ökonomisierungs- und Kommerzialisierungsprozessen in all diesen Sektoren (–> Fallstudien zur Kommerzialisierung). Im Mittelpunkt der Betrachtung steht vielmehr, wie der Begriff der Ökonomisierung in dieser zweiten Generation gefasst wird. Die Leitfrage der folgenden kritischen Bewertung ausgewählter Beiträge aus dieser zweiten Generation ist, ob die neue Ökonomisierungsforschung neue Aspekte und/oder Dimensionen der hinterfragten Ökonomisierungs- und/oder Kommerzialisierungsprozessen im deutschen Gesundheitssystem in den kritischen Diskurs gebracht hat. Dabei ist es wissenschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch von besonderer Bedeutung, dass sowohl das Frankfurter Institut für Medizinische Soziologie, die akademisch-intellektuelle Heimat des Medizinsoziologen Hans-Ulrich Deppe, als auch die AG Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin, an der Hagen Kühn forschte, mittlerweile – man muss wohl sagen – abgewickelt wurden. Diese frühe institutionalisierte Kritik an Ökonomisierungs- und Kommerzialisierungsprozessen hat offenbar einen Teil ihrer (Ver-)Fassung verloren. Insofern ist die zweite Generation in gewisser Weise eine Erneuerung der Kritik nach dem Ende der institutionalisierten Kritik.

Der Bielefelder Kinder- und Jugendsoziologe Ullrich Bauer hatte in einem zusammenfassenden Aufsatz für die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte der Bundeszentrale für Politische Bildung bereits vor zehn Jahren die „sozialen Kosten der Ökonomisierung der Gesundheit“ thematisiert. Als damaliger Juniorprofessor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften bezog er den Begriff der Ökonomisierung der Gesundheit explizit auf die vom Berliner Gesundheitsforscher Hagen Kühn geprägte Formel von der „Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation in der Organisation des deutschen Gesundheitswesens“ (Bauer 2006: 18). Diese gelte jedoch nicht nur für privatwirtschaftliche Anbieter von Gesundheits- und Krankenversorgungsleistungen, sondern eben auch für öffentliche Anbieter, denn die neue Vergütungsform im Krankenhaussektor, prospektive Finanzierung genannt, erhöhe auch den Kostendruck auf solche Krankenhausträger. Ökonomisierungsprozesse seien daher nicht an Privatisierungsprozesse (Vermögensprivatisierung) gebunden.

„Patientenbezogene Entscheidungen werden als Folge prospektiver Finanzierungsformen zunehmend durch die einzelwirtschaftlichen Ziele der Krankenhäuser bestimmt. Die strenge Budgetorientierung führt in der Behandlungspraxis dazu, dass wichtige medizinische Leistungen sozial selektiv erbracht werden, das heißt, wichtige Versorgungsleistungen werden durch den Versuch zu Kostenverringerungen rationiert.“ (Ebd.: 20)

Sein Begriff der Ökonomisierung geht an dieser Stelle nicht über die bereits genannten Aspekte bei Hagen Kühn hinaus. Neben der kontinuierlichen „Mittelverknappung“ im Gesundheitssektor, die zu Prozessen der Ökonomisierung und Privatisierung führe (ebd.), verwandele sich Gesundheit zunehmend in eine eigenverantwortliche Tätigkeit. Dabei werde jedoch eine soziale Selektion eingezogen, denn die nunmehr stärker gesundheitspolitisch eingeforderte und durch Privatisierungsmaßnahmen (Leistungsausgrenzungen, Zuzahlungen) begünstigte eigenverantwortliche neue Rolle des Patienten erfordere Kompetenzen und Ressourcen, die „in den mittleren und oberen Sozialmilieus durchaus voraussetzbar“ seien, „nicht aber in den unterprivilegierten, ressourcenarmen Milieus“ (ebd.: 21) vorhanden wären. Hierdurch entstünde eine soziale Polarisierung, die die Solidarität mit unterprivilegierten Sozialschichten aufkündige. Diese würden in doppelter Weise bei der Nutzung der Versorgungssysteme benachteiligt, was ihre gesundheitliche Situation verschlechtere und die gesundheitliche Ungleichheit erhöhe. Denn erstens bedeute Ressourcenarmut nicht nur ein erhöhtes Erkrankungs- und Sterberisiko, sondern auch die „Angewiesenheit auf Versorgungsleistungen“ (ebd.), die durch Ökonomisierungs- und Privatisierungsprozesse unterminiert würden. Zweitens bedeute diese Ressourcenarmut und der Belastungsreichtum, dass sozial Benachteiligte ein unzureichendes Selbsthilfepotenzial aufweisen. Ullrich Bauer definiert daher das soziale Dilemma der Ökonomisierung der Gesundheit wie folgt:

„Dieselben Gruppen, die das größte Risiko tragen, zu erkranken, behindert zu sein oder frühzeitig zu sterben, verfügen zugleich über nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Kontrolle ihrer Lebensumstände. Sie haben die geringsten Einkommen und den niedrigsten Bildungsgrad. Sieverfügen kaum über Gestaltungsmöglichkeiten und erfahren am wenigsten Unterstützung durch soziale Netze (’social support‘) der gegenseitigen Hilfe und Kooperation.“ (Ebd.)