Einige notwendige Klarstellungen zum „großen Fremdeln“ der Ökonomisierungskritiker*innen im Gesundheitswesen
Bei aller Kritikwüdigkeit, die ich selbst in meinem Text (Mosebach 2018) sehe, verwundert mich die Lektüre des Beitrags von Hartmut Reiners in der Sozialismus-Ausgabe vom März 2019 nun doch. Bei aller zutreffenden Nähe meiner Position zu seiner skeptischen Einschätzung in Fragen des Moral Hazard (Reiners 2019: 17) kommt ihm die „Ökonomisierungskritik“, in die er Alexander Braun und mich kurzerhand einsortiert, als ein „großes Fremdeln“ vor. Eine solche, womöglich auch noch lustig gemeinte, Verballhornung von Argumenten von widerständigen Beschäftigten im Gesundheitswesen gegen die „Ökonomisierung“ von Care-Arbeit ist ziemlich respektlos. Hier sind einige Klarstellungen nötig.
Klare Ansage zum produktiven Widerspruch
Meine Irritation über Reiners Replik möchte ich an drei Punkten verdeutlichen: erstens begreift Hartmut Reiners die Ausgangsfrage meines Beitrags nicht (Mosebach 2018: 24), die von jener Paradoxie handelt, warum der neoklassische Nachweis von ubiquitärem Marktversagen im Gesundheitswesen dennoch zur realen Einrichtung von Wettbewerb im Gesundheitswesen, und zwar nicht nur im Diskurs der Gesundheitsökonomik (wie Reiners meint [2019: 18] , sondern auch in der Realität geführt hat – und zwar ziemlich genau so, wie es ein gewisser Herr Enthoven paradigmatisch vorgedacht hatte (Enthoven 1988). Das ist erklärungsbedürftig. Theorien haben reale Effekte und zwar dann, wenn sie praktisch werden. Das wusste schon der olle Marx. Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik sind also keineswegs zwei voneinander isolierte Diskurse.[1] Die analytische Figur der politischen Simulation des Marktes im Gesundheitswesen als Kernüberzeugung der gesundheitsökonomischen Disziplin (Mosebach 2018: 23) bleibt ihm leider ein in seinen Wirkungen unverstandenes Rätsel.[2]
Zweitens behauptet Hartmut Reiners, für mich würden „Kategorien wie Preise, Kosten und Wettbewerb im Gesundheitswesen nichts zu suchen haben.“ (Ebd.: 16) Wer meinen Text gelesen hat, der muss sich ob dieser Unterstellung verwundert die Augen reiben. Ich bin in der Tat allerdings sehr skeptisch, dass sich die präskriptive Überlegenheit von Wettbewerb im Gesundheitssystem gesundheitsökonomisch begründen lässt. Und hier liegt der Hase im sprichwörtlichen Pfeffer. Zwar stimmt Hartmut Reiners in die Wettbewerbskritik zumeist ein, wenn es sich um neoklassische Argumente für (ideologischen?) Wettbewerb im Gesundheitswesen handelt (Reiners 2019: 17ff.). Was er allerdings bis heute in seinen Veröffentlichungen brachliegen lässt, ist eine konsistente theoretische Begründung der Überlegenheit des von ihm durchaus zustimmend betrachteten „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren“ (Friedrich August von Hayek) im Gesundheitswesen oder wenigstens eine Sammlung empirischer Belege dafür, den Wettbewerb als undogmatische “Steuerungstechnik“ (Reiners 2006: 28ff.) nutzen zu können – was immer das auch jenseits der reinen Faktizität von Wettbewerb, mit dem politisch umgegangen werden muss, heißen soll. Das zeigt sich auch in seinen Argumenten gegen die Ökonomisierungskritiker*innen, die merkwürdig hin und her eiern.[3]
Drittens ignoriert Hartmut Reiners komplett mein Plädoyer, von Kommerzialisierung als dem Kernproblem im deutschen Gesundheitswesen zu sprechen (Mosebach 2018: 27f.) und liest in meinen Text eine Ablehnung der normativen Bedeutung wirtschaftlicher Effizienz, die ich dort gar nicht erhebe. Ganz ähnlich wie Friedhelm Hengsbach bin ich der Überzeugung, dass man Ökonomisierungsprozesse von Kommerzialisierungsprozessen in der Tat unterscheiden muss.[4] Meine Kritik am G-DRG-System, die ich in dem zitierten Beitrag (Mosebach 2018) überhaupt nicht äußere, beruht nicht darauf, dass ich so begriffsstutzig bin, das administrieren Preissystem der in Deutschland angewandten G-DRGs mit „Marktpreisen“ zu verwechseln, wie Hartmut Reiners (2019: 19) unterstellt. Meine Kritik an den Effekten des G-DRG-System ist gar nicht so weit weg von seiner eigenen. Im Kern ist es eine politökonomische, die makro- und mikroökonomische Argumente zu integrieren versucht, dabei aber Kommerzialisierungsprozesse im Krankenhauswesen als nicht-intendierte Effekte der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik begreift, die kein Akteur strategisch verfolgt, aber alle – gewissermaßen wider Willen – durch ihre Praktiken herstellen.[5] Soviel (theoretische) Emergenz muss möglich sein.
Wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik als hegemoniale Modernisierungsstrategie
Der von mir in die Debatte geworfener analytische Begriff der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik benötigt einige Klarstellungen. Hartmut Reiners wirft mir vor, dieser Begriff habe gesundheitspolitisch keine Bedeutung gehabt: „Diese Strategie gibt es in der gesundheitsökonomischen Literatur, aber nicht in der deutschen Politik.“ (Reiners 2019: 18) Eine genauere Lektüre meines Beitrags hätte ihm jedoch einige Hinweise darauf geben können, wie diese gesundheitspolitische Reformstrategie zu interpretieren ist. Ich spreche bewusst nicht davon, dass ein einzelner Akteur diese Strategie verfolgt hätte. Von einer „systematischen“ Verfolgung der Politik der „wettbewerblichen Steuerung“ (ebd.) ist in meinem Beitrag keine Rede. Hier besteht ein großes Missverständnis. Die Politik der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik ist mit der wettbewerblichen Steuerung, wie sie in der gesundheitsökonomischen Literatur vorherrscht, überhaupt nicht identisch (das suggeriert jedoch Reiners). Das konnte ich in der Kürze des Textes nicht weiter ausführen, lediglich andeuten.
Das Missverständnis beruht m.E. darauf, dass Hartmut Reiners von einem rationalistisch verkürzten Strategiebegriff ausgeht. Er unterstellt – zumindest implizit –, dass politische Akteure, die über entsprechende Entscheidungskompetenz verfügen, eine weit gehende Kontrolle über die Effekte ihrer politischen Entscheidungen hätten. Dies bezweifle ich nachdrücklich.[6] Politische Akteure, zu denen auch staatliche Akteure (Ministerien auf Bundes- und Länderebene) gehören, stehen in einem politischen Kräftefeld und können politische Entscheidungen oftmals nur über konsensuale Aushandlungsprozesse treffen (wie Hartmut Reiners aus praktischer Erfahrung selbst weiß), von einer zielgerechten Umsetzung der Politiken ganz zu schweigen.
Die gegenseitigen Abhängigkeiten bei der Politikformulierung von den Dynamiken solcher aufgrund der föderalen Struktur notwendigen Verhandlungslösungen auf den gesundheitlichen Politikfeldern schließen eine Kontrolle der nicht-intendierten Effekte dieser Entscheidungen aus. Sie sind m.E. diskursiv-ideologisch überdeterminiert.[7]
Vielleicht lässt sich mein Argument anhand eines Beispiels veranschaulichen: die Einführung der freien Kassenwahl, die er als „zwangsläufige Folge der Gleichstellung von Arbeiter*innen und Angestellten“ (Reiners 2019: 18) betrachtet, lässt sich keineswegs auf diesen sozialrechtlichen Automatismus reduzieren.[8] Das ist bestenfalls ein politisches Narrativ im historischen Rückblick. Denn: wieso war die Gleichstellung von Arbeiter*innen und Angestellten nicht in der Einrichtung einer (regionalisierten) Einheitsversicherung möglich? Die Antwort darauf ist so banal wie analytisch folgenreich. Eine solche Lösung bewegte sich nicht im Bereich des politisch Denkbaren und wurde folglich bereits in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Strukturreform der Gesetzlichen Krankenversicherung (1990) als ein möglicher Entwicklungspfad ausgeschlossen.
Die Kommissionsmehrheit, die von Abgeordneten und wissenschaftlichen Sachverständigen der christlich-liberalen Bundesregierung gestellt wurde, war der Ansicht, dass eine regionale Einheitsversicherung durchaus möglich gewesen wäre, um die sozialrechtliche Diskriminierung von Arbeiter*innen zu beenden. Die Kommissionsmehrheit – von der sozialdemokratisch-grünen Minderheit gab es keine explizite Ablehnung dieser Schlussfolgerung[9] – lehnte ein solches Modell mit folgenden Argumenten ab: wegen der weiterhin „hohen Akzeptanz“ des (möglicherweise auch modifizierten) gegliederten Systems (von Primär- und Ersatzkassen) komme eine regionale Einheitsversicherung nicht in Betracht: „Solange sich auch nicht im entferntesten eine Chance abzeichnet, eine Einheitsversicherung politisch durchzusetzen, bleiben entsprechende Programme politische Rhetorik. Daher wird auf eine Ausdifferenzierung dieses Konzepts im Weiteren verzichtet.“ (Deutscher Bundestag 1990: 202)
Die weitere gesundheitspolitische Geschichte des Übergangs von einer „berufsständischen zu einer wettbewerblichen Gliederung der GKV“ lässt sich ganz wunderbar im zusammen mit dem Gesundheitspolitik-Insider Franz Knieps verfassten und sehr lesenswerten Buch von Hartmut Reiners zu den Gesundheitsreformen in Deutschland nachlesen (Knieps/Reiners 2015: 101ff.). Diese Geschichte – und das ist mit den analytischen Folgen, von denen ich oben sprach, gemeint – verläuft in jenen Diskursbahnen und Akteurskonstellationen, die nicht nur mit der Enquete-Kommission offenbar, sondern in den darauf folgenden Jahren auch durch die notwendigen großen (Sach-)Koalitionen gesetzlich kodifiziert und manifest wurden.
Mein Begriff der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik bezieht sich als Ex-Post-Strategie nicht auf einen einzelnen Akteur, sondern verweist auf einen konsensualen Kern einer hegemonialen Modernisierungsstrategie, die sich in den genannten Diskursbahnen und Akteurskonstellationen herausgebildet hat.[10] Um mein analytisches Konzept verständlich zu machen: die politisch-ideologische Hegemonie auf diesem Politikfeld besteht nicht darin, dass sich die gesundheitsökonomischen Wettbewerbsmodelle eines Alain Enthoven (oder wessen auch immer) nahezu unverändert in die Gesundheitspolitik übersetzen, sondern darin, dass der gesundheitsökonomische Diskurs in seiner ganzen Breite in die regulative Idee der politischen Konstitution des Marktes im Gesundheitswesen fließt und dadurch denkbare alternative (nicht-marktliche) Lösungen aus dem Reformdiskurs nachdrücklich ausgeschlossen werden. Sie erscheinen notgedrungen als politisch unrealistisch.[11]
Dass zudem die Mehrheit der Gesundheitsökonomik keineswegs die (staatliche) Budgetierung der Gesundheitsausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) empfohlen hat, vielmehr dieser Aspekt der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik auf das Interesse des Staates an sich selbst (Offe 1975) zurückgeht und wesentlich von dem wirtschaftspolitischen Dogma der Lohnnebenkostensenkung herrührt, unterstreicht nochmals nachdrücklich, dass mit dem Begriff der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik als einer Ex-Post-Strategie weder die gesundheitsökonomische Vision einer wettbewerblichen Steuerung des Gesundheitswesens noch die konkrete Handlungsstrategie eines (korporativen) Akteurs gemeint ist. Es ist bedauerlich, dass Hartmut Reiners nicht erkennt, dass sich sein Vorschlag für eine rationale Nutzung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen in den Aporien und Widersprüchen dieser hegemonialen Modernisierungsstrategie bewegt. Politische Steuerung ist nicht so einfach möglich, wie sich das praktische Politiker*innen gern im Nachhinein zusammenbasteln.[12]
Schlechte Argumente gegen Ökonomisierungskritiker*innen im Krankenhaus
Ziemlich unerklärlich im Beitrag von Hartmut Reiners ist seine reichlich verzerrte Darstellung der Kritik an „Ökonomisierungsprozessen“ im Krankenhaussektor, deren Korrektur ich mich hier etwas länger widmen muss. Sein Kernvorwurf, „Ökonomisierungskritiker*innen“ würden nicht verstehen, dass das G-DRG-System kein Marktpreissystem sei, zeugt von bemerkenswerter Ignoranz. Die „Ökonomisierungskritiker*innen“ begreifen sehr wohl, dass das administrierte Vergütungssysteme auf kalkulierten Durchschnittskosten beruht – für wie blöd hält Reiners die Kritiker*innen?
Was aber Hartmut Reiners (und viele Befürworter der These, im Gesundheitssystem gebe es keinen marktwirtschaftlichen Wettbewerb) offenbar nicht begreifen kann, ist, dass das G-DRG-System als eine politische Simulation des neoklassischen Marktwettbewerbs begriffen werden muss und eine solche theoretische Konstruktion die einzige Möglichkeit ist, einen Wettbewerb im Gesundheitswesen schlüssig zu begründen.[13] Bekanntermaßen sind im neoklassischen Wettbewerbsmodelle die einzelnen Unternehmen Preisnehmer und reagieren über Mengenanpassung. Der neoklassische Auktionator, der zur Feststellung des Marktpreises modellinhärent notwendig ist, wird im stationären Vergütungssysteme durch das System administrierter Preise ersetzt.
Im neoklassischen Marktmodell führt die produktivitätssteigernde Konkurrenz der Unternehmen zu sinkenden Produktionskosten bei einzelnen Unternehmen, wodurch bei gegebenem Marktpreis diese Unternehmen einen Extragewinn erwirtschaften können. Unter der Annahme eines zunehmenden Markterfolgs dieser Unternehmens wird sich der Marktpreis nach und nach in Richtung Produktionskosten des effizientesten Unternehmens verschieben und insgesamt sinken. Was bitte ist das im Kern anders als im G-DRG-System mit politisch-regulativen Mitteln erreicht werden soll?
Zudem verschärft sich der Konkurrenzdruck im Krankenhaussystem noch dadurch, dass die gesamten stationären Gesundheitsausgaben budgetär gedeckelt sind. Die gesundheitsökonomische Begründung dafür ist, dass Ärztinnen und Ärzte nicht nur medizinisch, sondern auch ökonomisch an die eigene Tasche denken (Reiners 2019: 19); um also eine nicht-indizierte Mengenausweitung zu verhindern, bedarf es Budgets. Das ist das gesundheitsökonomische Theorem der angebotsinduzierten Nachfrage und abstrakt betrachtet plausibel.
Reiners Argument (ebd.) nun, Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus würden nicht verstehen, dass das stationäre Entgeltsystem auf Durchschnittskosten beruht (und weswegen sie eine Einzelfallmentalität an den Tag legten), ist geradezu grotesk. Ein Blick in die soziologische Krankenhausforschung hätte Reiners von einer solch irrigen Behauptung abgehalten (Vogd 2011; Bode/Vogd 2016). Für eine Begründung der Notwendigkeit von Budgets ist es zudem überhaupt nicht tauglich, da das Argument das Pferd erneut von hinten aufzäumt: ein Effekt des G-DRG-Systems wird als Ursache seiner Budgetierung begründet.
Sein Argument zudem, die tagesgleichen Pflegesätze hätten in der Vergangenheit zu „medizinisch nicht indizierten Verlängerungen der Verweildauer“ (Reiners 2019: 19) geführt und Ökonomisierungskritikerinnen wollten daher in ein idyllisch verklärtes System zurück, mag zwar das dominante politische Narrativ sein, das „Ökonomisierungskritiker*innen“ entgegen gehalten wird; empirisch evident ist es dadurch noch lange nicht. Man muss schon ziemlich weit zurückgehen, um diese (vermeintliche) Idylle zu erreichen: Ende der 1980er Jahre.
Dass dort die (durchschnittliche) Verweildauer im Krankenhaus länger war, bestreitet niemand, sagt aber noch lange nichts über die Kostenaufwändigkeit der Krankenhausfälle und die komparative Effizienz der Vergütungssysteme aus. Über den langen historischen Zeitraum sind sinnvolle Vergleiche schlicht unmöglich. Kritiker*innen heutiger Verhältnisse im Krankenhaus zu unterstellen, sie wollten idyllische Zeiten zurückhaben, gleicht dem jede Diskussion beendenden historischen Argument: „geh’ doch nach drüben“ – hilfreich zur Klärung der kritischen Argumente gegen (als problematisch) betrachtete Ökonomisierungsprozesse im Krankenhaus ist dies nicht.
Die Budgetierung der Krankenhausausgaben hat mit der Beschränkung der nicht-medizinisch notwendigen Mengenausweitung durch Ärztinnen und Ärzten zudem nicht viel zu tun. Eine solche Feinsteuerung bis hinunter auf die Ebene von Krankenhäusern ist schlicht nicht möglich; die Budgetierung ist vor allem makroökonomischer Natur (wohltuend: Simon 2008a). Wenn etwas die Fallzahlen im Krankenhaus in den letzten 30 Jahren angeheizt hat, dann das G-DRG-System selbst, indem es das ökonomische Gewinnkalkül zur ultima ratio machte und Mengenausweitungen trotz Budgetierung ermöglichte.
Aufgrund der dadurch bewirkten Arbeitsintensivierung noch davon zu sprechen, dass im G-DRG-System ausreichend finanzielle Mittel für die Pflege vorhanden wären, wenn die Länder genug Investitionsmittel bereit gestellt hätten, bringt mehrere argumentative Ebenen durcheinander. Zu behaupten, dass eine „ausreichende Finanzierung der Pflege“ (Reiners 2019: 20) im Rahmen des G-DRG-System möglich wäre, ignoriert die gut belegte Kritik, dass die Pflege als solche zunächst überhaupt keine Rolle spielte bei der Kalkulation der Relativgewichte. Was finanziert wurde, waren die Durchschnittskosten der Pflege je DRG, die von einem irgendwie gearteten Verständnis von qualitativ hochwertiger Pflege absehen (Simon 2008b). Seine Argumente müssen pflegebewegten Kritiker*innen der „Ökonomisierung im Krankenhaus“ wie Hohn vorkommen ob der zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen in der stationären Krankenversorgung – von der Altenpflege ganz zu schweigen. Pflegeaufwändigkeit wurde sukzessive mehr berücksichtigt, wird aber paradoxerweise in der pflegeökonomischen und krankenhausökonomischen Literatur weitgehend nur als weitere Möglichkeit zur zusätzlichen Einnahmengenerierung betrachtet. Mit anderen Worten: wenn es sich rechnet, wird auch gute Pflege gemacht (vgl. z.B. das jährlich erscheinende „Handbuch für Pflege & Vergütung“ – Wieteck et al. 2019).
Die These, dass die finanziellen Mittel zur Investitionsförderung zu gering seien, deckt sich zwar mit dem empirisch beobachtbaren Rückgang der öffentlichen Investitionsmittel, die die Länder zur Verfügung gestellt haben. Auch die Finanzierung mancher Investitionsgüter aus den Beitragsmitteln der Krankenkassen, die eigentlich für die Pflege benötigt würden, trifft sich mit der Kritik der Ökonomisierungskritiker*innen. Was aber Reiners – oder andere Ökonomen – nicht thematisieren, ist die zweifelhafte Modellrechnung, die der Kalkulation eines „Investitionsstaus“ zugrundeliegt (Mosebach 2013): nämlich die Investitionsquote der deutschen Wirtschaft – als wäre der öffentliche Krankenhaussektor ein Erwerbszweig wie jeder anderer! Die empirische Schlüsselfrage, die noch keiner beantwortet hat, ist: für welche Krankenhausleistungen werden eigentlich Investitionsmittel auf betrieblicher Ebene eingesetzt? Für solche, die ertragreiche Bereiche ausbauen können? Kritische Gesundheitsökonom*innen würden eine solche Verwendung als entscheidendes Merkmal von Kommerzialisierungsprozessen im Gesundheitswesen bezeichnen (Koivusalo/Mackintosh 2005) – und das unabhängig davon, aus welcher Quelle die Investitionsmittel stammen.
Die größte argumentative Schwäche zeigt sich in seinem Beitrag allerdings darin, dass er sich in der Bewertung von Wettbewerbsprozessen in der stationären Krankenversorgung überhaupt nicht an das von ihm selbst ins Spiel gebrachte analytische Unterscheidungsmerkmal von Makro-Kommerzialisierung und Mikro-Kommerzialisierung von Friedhelm Hengsbach (2015) hält. Makro-Kommerzialisierung wäre wohl das, was oben als politische Simulation von Marktwettbewerb beschrieben wurde. Genau zu diesem Zweck wurde das stationäre Vergütungssystem reformiert und unter der Annahme, dass sich durch den politisch simulierten Marktwettbewerb die effizienteste Art der Dienstleistungserbringung durchsetzen würde, das G-DRG-System installiert.
in diesem Vergütungssysteme existieren in der Tat „Anreize zur Spezialisierung und Mengenausweitung, umso unter den Normkosten zu bleiben und Gewinne zu machen“ (Reiners 2019: 19). Das Geschäftsmodell privater Krankenhausträger wird dabei en passant zur idealen Folie zukünftiger Krankenhausversorgung erkoren (ebd.), Privatisierungsprozesse und deren Folgen im Krankenhaus bagatellisiert (Böhlke et al. 2009; Heubel et al. 2010; Engartner 2016).
Hiermit wird letztendlich die Mikro-Kommerzialisierung, von der Friedhelm Hengsbach spricht, geadelt. Natürlich spricht überhaupt nichts gegen die betriebswirtschaftliche Kalkulation von Gesundheitsausgaben auf der Ebene von Krankenhäusern. Zu suggerieren, die Ökonomisierungskritiker*innen würden das tun, baut einen argumentativen Pappkameraden auf und ist (dünne) Nirwana-Kritik.
Völlig überraschend kippt die Kritik von Hartmut Reiners schließlich von einer Verteidigung des G-DRG-Systems in die Beschreibung der Grenzen finanzieller Anreize. Die Kritikerinnen, so seine Argumentation, gingen den neoklassischem Gesundheitsökonomen auf den Leim, weil sie deren Überschätzung quasi negativ teilten, ein Gesundheitswesen ließe sich „über monetäre Anreize und Wettbewerb stets effektiv steuern“ (ebd.: 20). Plötzlich sind es Arbeitskulturen und ethische Normen in Krankenhäusern, die darüber entscheiden, ob die „Grenzen zwischen Erwerbstätigkeit und Profitstreben im Krankenhaus“ (ebd.: 19) überschritten sind. Man reibt sich verwundert die Augen: so weit waren die Ökonomisierungskritiker*innen schon lange.
Es ist ziemlich irritierend, dass Reiners zur Verteidigung des G-DRG-Systems dieses von dessen Wirkungen auf Arbeitskulturen und ethische Normen (Privatisierung!) entkoppelt. Damit ignoriert er eine ganze Reihe von Erkenntnissen der vergleichenden Krankenhausforschung, die eine ambivalente Wirkung des G-DRG-Systems auf Arbeitskulturen und ethische Handlungsnormen zumindest nahe legen (vgl. z.B. Klinke 2008; Braun et al. 2010; Vogd 2011; Braun 2014; Bode/Vogd 2016; Mohan 2018; Vogd et al. 2018).
Denn sie wissen nicht, was sie tun: „Kommerzialisierung wider Willen“ in der Krankenhauspolitik
Hartmut Reiners’ Kritik der Ökonomisierungskritiker*innen ist m.E. also schlecht begründet und schießt bei manchen Punkten weit über das Ziel hinaus. Bei aller notwendigen Kritik bin ich jedoch auf seiner Seite, dass Ökonomisierungsprozesse von Kommerzialisierungsprozessen getrennt werden sollten. Die Krankenkassen haben in der Tat hat die Aufgabe, ihre Ausgaben beisammenzuhalten und natürlich tendieren Ärztinnen und Ärzte sowie Kliniken dazu, im Zweifelsfall und bei Möglichkeit ihre Einkommen zu steigern.
Es ist nur leider eine Grundlüge der Krankenhauspolitik, dass durch die Manipulation der Kosten- und Gewinnkalküle vermittels des G-DRG-Systems eine Quadratur des Dreiecks aus effizienter Versorgung, qualitativ hochwertiger Dienstleistungen und innovativer Gesundheitswirtschaft für alle möglich wäre.
Auch ist völlig richtig, dass das Vergütungssysteme nicht die Quelle aller Steuerungsprobleme im Krankenhaussektor ist. Das G-DRG-System soll in der Tat über Produkt- und vor allem Prozessinnovationen die technische und allokative Effizienz der Krankenhausversorgung verbessern. Zusammen mit der sektoralen Budgetierung der Krankenhausausgaben zielt es auf die Ökonomisierung der Krankenhausversorgung, d.h. die Verbesserung der Effizienz der Versorgung ohne dass die Qualität der Leistungen schlechter wird. Diffizile Feinsteuerung ist hier nötig und im Dickicht der Interessenartikulation kaum möglich – muddling through ist Prinzip.
In einem sozial- und wirtschaftspolitischen Umfeld jedoch, in der die Reduktion der so genannten Lohnnebenkosten und fiskalpolitische Austerität vorherrscht, verwandelt sich die scheinbar elegante Ökonomisierungsstrategie in einen die Haushalte der Trägerschaften von Krankenhausunternehmen halsabschneiderischen Verdrängungswettbewerb, in dem vor allem öffentliche Krankenhäuser verlieren und privatwirtschaftliche Krankenhausträger im Volumen zugenommen haben.
In der Folge reagieren die Krankenhausorganisationen wie alle anderen Organisationen damit, ihre Existenz unter den gegebenen Bedingungen zu retten. Und da es den Krankenkassen bis heute nicht gelungen ist, das Angebot an Krankenhausleistungen auf der Mikroebene zu steuern – etwas, was ihnen sui generis nie gelingen kann, außer sie würden mit am Bett stehen (Vogd 2016) – versuchen Krankenhäuser bzw. ihre auf Markterfolg getrimmten Kommandohöhen, ihren Marktanteil entweder über Fusionen oder punktuelles Mengenwachstum zu erhöhen.[14]
Hierzu müssen keinesfalls (privatwirtschaftliche) Profitinteressen dominant sein; eine ungünstige Marktlage genügt völlig, damit versucht werden muss, die Verluste in einem Segment durch Überschüsse in einem anderen auszugleichen. Kommerzialisierung bedeutet nicht Privatisierung!
Konsequent ist dann, einerseits jene Verlustbereiche abzustoßen oder Kosten zu senken; dass dies über Produktivitätssteigerungen nicht so einfach sein dürfte, versteht jeder, der begreift, dass Kapital und Arbeit nicht frei substituierbar sind (schon gar nicht im Gesundheitswesens), dass also im Krankenhaus limitationale Produktionsfunktionen vorherrschen dürften (was die ökonomische Kehrseite der schlechten Standardisierbarkeit der Behandlung von vor allem chronisch-multimorbiden Patient*innen ist, für deren schlechte Versorgung im G-DRG-System es durchaus Indizien gibt: Braun 2014; Vogd 2006, 2011).
In der Konsequenz verschärften Kostendrucks wird dann der Faktor Arbeit auf das minimalst mögliche Niveau abgesenkt, weshalb es nicht überraschend ist, dass derzeit (endlich) wieder über Pflegepersonaluntergrenzen bzw. Personalmindeststandards diskutiert wird. Denn wegen der eher limitationalen Produktionsfunktionen im Krankenhaus schlägt irgendwann Personalmangel in schlechtere Pflege- und Medizinqualität um – auch wenn das Hartmut Reiners nicht wahrhaben möchte. Andererseits werden Überschussbereiche ausgebaut, was zur Umschichtung von Kapital und Arbeit führt oder zu finanziellen Zuschüssen seitens der Krankenkassen oder Bundesländer, sofern es die Krankenhausplanung erfordert.
Die (Erfolgs-)Logik der wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik beruht folglich auf der Prämisse, dass in einem budgetär begrenzten – aber durchaus wachsenden – Markt für Krankenhausleistungen entweder – schwierig zu realisierende – Produktivitätsfortschritte (limitationale Produktionsfunktion) oder aber Verlagerungsprozesse von Teilaspekten in vor- und nachgelagerte bzw. konkurrierende Krankenhausunternehmen mit einer besseren Erlöse-Kosten-Bilanz Versorgungsbereiche die krankenhausindividuellen Betriebskosten senken können, ohne die Qualität zu verschlechtern. Gelingt es nicht, medizinische und pflegerische Arbeit durch Kapital zu ersetzen (alternativ könnten auch Tätigkeiten an den Kranken oder seine Angehörigen abgegeben werden: Leistungsprivatisierung) oder steigen sogar noch die Fallzahlen, ist eine Arbeitsverdichtung unvermeidbar, mit allen möglichen Folgen.
Strategien der Ökonomisierung (im positiven Sinn von Hartmut Reiners) können also in Kommerzialisierungsprozesse umschlagen, die dadurch charakterisiert sind, dass der „monetäre Geschäftsgewinn (Renditeziel)“ (Kettner 2011: 8) zum zentralen Organisationsziel eines Krankenhauses wird. Um weiter zu differenzieren, ließe sich hier noch zwischen Kommerzialisierung ersten Grades , wenn die erwerbswirtschaftlich freie Verwendung der akkumulierten Überschüsse nicht möglich ist, von einer Kommerzialisierung zweiten Grades unterscheiden. Letztere Form der Kommerzialisierung würde dann tatsächlich die Profitorientierung im erwerbswirtschaftlichen Sinne bzw. – betriebswirtschaftlich ausgedrückt – die Formalziele des Organisation Krankenhauses zur ultima ratio machen. Dass dies vor allem bei privatwirtschaftlich organisierten Krankenhäusern bzw. Krankenhauskonzernen der Fall sein dürfte, liegt auf der Hand. Welche Verwerfungen hierdurch auf der Mikroebene entstehen, lässt sich nicht in abstracto und empiriefrei lösen. Die vorhandene empirische Evidenz allerdings schüttet erheblich Wasser in den beschwichtigten Wein von Wettbewerbsbefürwortern unter neoliberalen Bedingungen. Die Strategie einer wettbewerbsbasierten Kostendämpfungspolitik im Krankenhaussektor gleicht daher einem Blindflug. Die krankenhauspolitischen Entscheider*innen wissen offenbar nicht immer, was sie tun: sie betreiben womöglich die Kommerzialisierung der Krankenhausversorgung wider ihren (erklärten) Willen.
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Wieteck,
Pia/Hausherr, Stephanie/Hirt, Kathrin/Bonkowski, Kerstin/Schindler, Manuel
(Hrsg./2019): Handbuch 2019 für Pflege & Vergütung. Alles über
Pflegekomplexmaßnahmen-Score (PKMS), Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung
(PpUGV) und Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz (PpSG). 10., überarbeite und
erweiterte Auflage, Kassel: RECOM.
[1] Um hier schon Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass meine These nicht behauptet, dass gesundheitspolitische Entscheidungen von einzelnen Akteuren vorgedacht und dann einfach nur noch umgesetzt werden. Dies ist zurecht als Verschwörungstheorie kritikwürdig. Allerdings ist es ebenso kritikwürdig, die diskursive Macht von strategischen Akteuren einerseits und die Wirkung von sich überlagernden (Fach-)Diskursen auf die Deutungsschemata und Handlungsorientierungen von Akteruen in diversen Politikfeldern andererseits zu unterschätzen. Das gilt auch für die Interaktion des gesundheitsökonomischen und gesundheitspolitischen Diskurses.
[2] Wohl als einer der ersten im kritischen Ökonomisierungsdiskurs, der diesen Gedanken der politischen Simulation von Märkten im Gesundheitswesen als politisches Projekt formulierte, war Hagen Kühn (z.B. 2004: 29), der an der zitierten Stelle allerdings nicht scharf genug zwischen Ökonomisierung und Kommerzialisierung differenziert, sondern stattdessen (auch) noch den Begriff der Kommodifzierung ins Spiel bringt.
[3] Die Forderung, in der Zukunft „eine sozialökonomische Theorie des Gesundheitswesens“ (Reiners 2019: 20) zu erarbeiten, ist zweifellos sinnvoll. Den Gesetzen der allgemeinen Logik folgend kann diese zukünftige Theorie aber nicht die gegenwärtige Überlegenheit oder auch nur Sinnhaftigkeit des Wettbewerbs im Gesundheitswesen begründen. Hier ist bereits heute ein wenig mehr theoretische Erkenntnis und empirische Skepsis möglich als Reiners meint.
[4] Vgl. die wirtschaftethischen Beiträge von Matthias Kettner (2010, 2011), der bereits deutlich früher eine solche analytisch sinnvolle Differenzierung vorgeschlagen hat.
[5] Vgl. für einen ersten Versuch einer solchen Interpretation: Mosebach (2010: 11ff.); siehe auch Gerlinger/Mosebach (2009: 13ff.).
[6] Diese Annahme scheint z.B. durch seine Behauptung durch, dass das Bundesversicherungsamt, welches den Gesundheitsfonds reguliert, die Strategie der Risikoselektion (d.h. der „Überbewertung von Risiken“) von Krankenkassen vermittels des „Kränker-Machens“ ihrer Versicherten (was ceteris paribus zu höheren Zuweisungen aus dem Fonds führen würde) effektiv habe unterbinden können (Reiners 2019: 18). Diese Behauptung beruht allein auf der Annahme, dass die Verringerung der finanziellen Über- und Unterdeckungen der Krankenkassen hinsichtlich der finanziellen Deckung der realen Kosten pro Krankheitsklasse im derzeitigen Risikostrukturausgleich mit geringern Anreizen für jenes „Up-Coding“ einhergeht. Es ist kein Beweis dafür, dass dies nicht marktstrategisch von manchen Krankenkassen immer noch getan wird, denn Über- und Unterdeckungen sind immer noch vorhanden.
[7] Von Fachpolitikern und ExpertInnen wird zur Einhegung von nicht-intendierten Effekten gern das Mantra des Nachsteuerns herangezogen, wenn die politischen Zielsetzungen verfehlt werden. Ein technokratischer Begriff für die Aufrechterhaltung eines mythischen Primats der Poltiik. Die Musik spielt unterdessen woanders.
[8] Man kann in der Tat in dem Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (1990) nachlesen, dass diese Ungleichbehandlung als politisches Kernproblem der Organisationsstruktur der GKV anerkannt wurde. Dass hieraus jedoch automatisch eine Wettbewerbslösung fließt, ist freilich ein politisches Narrativ, das den politischen Diskursraum schließt und noch nicht einmal die Kommissionsmehrheit behauptet hat.
[9] Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Hartmut Reiners, der selbst als junger wissenschaftlicher Sachverständiger in dieser Enquete-Kommission tätig war, die politische und argumentative Komplexität der Mitarbeit an der Enquete-Kommission verdrängt zu haben scheint. Wegen der sozialdemokratischen „Niederlage“ bezeichnete er die Ergebnisse des Endberichts der Enquete-Kommission reichlich desillusioniert als „außer Spesen nichts gewesen“ oder bestenfalls als „Steinbruch, dessen Strecken von unterschiedlicher Ergiebigkeit sind“ (Reiners 1990: 17).
[10] Der Begriff der Ex-Post-Strategie ist gewöhnungsbedürftig für Aktivist*innen, Politiker*innen oder auch Wissenschaftler*innen, die in rationalistischen Akteursmodellen denken, die von konkreten Zielsetzungen und glasklaren Strategien, diese zu erreichen, ausgehen. Um Politik praktisch werden zu lassen, ist die (stets unwahrscheinliche) Annahme der Möglichkeit rationalistischer Politik natürlich motivierend, wird aber oft durch Kompromissnotwendigkeiten enttäuscht (siehe zur postrationalistischen Entzauberung der politikwissenschaftlichen Steuerungstheorie auch: Benz 2008: 169ff.). Der Begriff der (hegemonialen) Ex-Post-Strategie ist nun der analytische Versuch, für den Staat insgesamt oder für unterschiedliche Politikfelder jenen – vereinfacht gesagt – gemeinsamen strategischen Nenner unterschiedlicher Akteure zu entschlüsseln, der in den konfliktiven Aushandlungs- und nicht weniger umkämpften Implementationsprozessen auf einem Politikfeld institutionelle, organisatorische und praktische Form annimmt (vgl. z.B. Jessop 2016: 53ff. oder auch Hirsch 2005: 96ff. und Felder 2001: 95ff.).
[11] Dieser auch als diskursive Schließung beschreibbare Effekt selektiver Politikformulierung ist niemals vollständig, aber als politikwissenschaftliches Theorem unbestritten (vgl. z.B. Offe 1972; Scharpf 2000; Jessop 2016).
[12] Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese These einem gestandenen Gesundheitspolitiker wie Hartmut Reiners wie – bestenfalls – starker Tobak vorkommen mag. Es ist aber eine politikwissenschaftliche und soziologische Grunderkenntnis – und nicht meine persönliche Idiosynkrasie -, dass eine rationalistische politische Steuerung eines Politikfeldes wenn nicht unmöglich, so doch sehr unwahrscheinlich ist. Allein das bekannte Bonmot, Politik sei die Kunst des Möglichen verweist auf diese grundsätzlichen Beschränkungen. Insofern sollten im Rückblick politische Entscheidungsprozesse nicht als völig unzweifelhafte Vollzüge sachlogischer Argumente trivialisiert werden. Im gesundheitspolitischen Diskurs ist die Akzeptanz des Lohnnebenkosten-Dogmas die Eintrittskarte zur Teilnahme an demselben. Dies hat Konsequenzen.
[13] Nochmals zur Erinnerung: praktisch alle Gesundheitsökonomen gehen von der theoretischen Prämisse aus, dass im Gesundheitswesen grundsätzlich Marktversagen herrsche, aber mit intelligenter Regulierung dennoch (positive: Effizienz, Produkt- und Prozessinnovationen) wettbewerbliche Effekte erzielt werden könnten. Über die notwendigen Formen und Inhalte politischer Regulierung sind sie sich freilich nicht einig.
[14] Privatwirtschaftliche Krankenhäuser dürften hier aufgrund ihres in der Regel späten Marktzutritts und ihrer gezielten Nischenstrategie besonders gute Chancen haben, sich lukrative Versorgungsbereiche herauszufischen – eine Entwicklungsmöglichkeit, die Reiners überhaupt nicht in Erwägung zieht.