Politische Ökonomie des Health Care State

Was soll ‚Politische Ökonomie des Gesundheitswesens‘ bedeuten? Was kann eine solche Sichtweise helfen, das deutsche Gesundheitswesen besser zu verstehen? Politische Ökonomie meint zunächst einmal nur, dass das Gesundheitswesen nach politischen und ökonomischen Logiken, genauer: durch das konflikthafte Zusammenwirken dieser Logiken  gesteuert wird. Dabei ist zu allererst unterstellt, dass das Gesundheitswesen, also die institutionelle und funktionale Ordnung der Finanzierung und Erstellung von Gesundheitsdienstleistungen und -gütern, nicht einer ausschließlich eigenen Logik folgt (z.B. der gern behaupteten Ideologie aller gesundheitspolitischen Akteure [Ärzteschaft, Krankenkassen, Pfleger*innen, Politiker*innen usw.], die Gesundheit aller Bürger*innen und Patient*innen zu  verbessern), sondern von politischen und ökonomischen Gesichtspunkten innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens beeinflusst wird.

Was aber sind nun ‚politische‘ und ‚ökonomische‘ Gesichtspunkte? Politische Gesichtspunkte werden zumeist mit der  von Aneignung politischer Macht, der Verfolgung eigener Interessen und politischen Ränkespielen selbstverliebter Politiker assoziiert, während ökonomische Gesichtspunkte als Anwendung rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen in Unternehmen und privaten Haushalten verstanden werden. Beide Aspekte sind keineswegs falsch, aber beschränkt. Denn beide gehen von einem isolierten Individuum aus, das seinen Nutzen zu maximieren versucht. Es sagt viel über unsere Gesellschaft aus, wenn diese keineswegs unüblichen Vorstellungen von Politik und Ökonomie von vielen für wahr gehalten werden. Politische Ökonomie setzt sich dagegen von solchen individualistischen Robinsonaden ab. Der US-amerikanische Ökonom William K. Tabb (1999: 16) hat in seiner viel beachteten historischen Rekonstruktion der zwei ‚Traditionen‘ von Politischer Ökonomie auf diesen zentralen Unterschied hingewiesen:

Political economy begins with the social individual facing contingent choices and bounded rationality, and considers institutions and governance mechanisms that constrain and guide individual and group activity. Political economy is an effort to study as endogenous variables the parameters usually held constant by economists— technology, property rights, the state.

Die vielen verschiedenen Ansätze von Politischer Ökonomie widmen sich also der Analyse von Institutionen und sozial handelnden Individuen, die dies heutzutage meist in Organisationen tun. Denn die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts sind keine liberalen Ansammlungen von Individuen, d.h. privaten Clubs von Eigentümern wie im entstehenden Industriekapitalismus, der noch ziemlich undemokratisch organisiert war. Sie sind ‚Organisationsgesellschaften‘; was aber nicht impliziert, dass diese per se demokratisch sind. Es bedeutet nur, dass die liberalen Vorstellungen politischer Demokratie, die den einzelnen Citoyen in den Mittelpunkt stellen, genauso obsolet sind wie ökonomische Vorstellungen der Bedeutsamkeit vom allein unternehmenden Bourgeois (vgl. Schumpeter 1944; Bobbio 1988). Organisationen sind dabei nicht starr, sondern verändern sich ständig. Davon handeln nicht nur die politischen und ökonomischen Erzählungen in der Tagespresse, sondern auch die soziologische Theorie der kapitalistischen  Organisationsgesellschaft (vgl. Türk 1995Ortmann/Türk/Sydow 1997; Jäger/Schimank 2005). Organisationen, also Zweckverbände zur Erreichung kollektiver Handlungsziele, stiften ‚Ordnung‘, machen Gesellschaften ‚vorstellbar‘, indem sie ‚Gebilde‘ begründen und verteilen Menschen in zahlreiche, oftmals konfligierende, aber auch überlappende ‚Gemeinschaften‘. Die deutschen Soziologen Klaus Türk, Thomas Lemke und Michael Bruch (2006: 14ff.) weisen zudem darauf hin, dass durch diese drei Dimensionen von Organisationen ’nicht-organisationale Folgen‘ produziert werden. Denn die konflikthafte Interaktion zahlreicher Organisationen (auch: korporative Akteure genannt) ziehen politische und ökonomische Implikationen nach sich. Politisch bedeutet die strukturelle Dominanz besondere Organisationen die Entstehung von Macht und Herrschaft, mithin die politische Ordnung der Dinge im und durch den (mittlerweile demokratisierten) Rechtsstaat (vgl. ebd.: 38ff.). Ökonomisch hingegen sind faktisch alle (post-)modernen Organisationsgesellschaften kapitalistische Marktwirtschaften, so dass die Beziehungen zwischen ökonomischen Akteuren (Unternehmen, privaten Haushalten) bzw. Arbeitgebern (Kapitalbesitzern) und Arbeitnehmern (Lohnarbeitern) ebenfalls über (konfligierende) Organisationen und andere Kollektivakteure (z.B. soziale Bewegungen) vermittelt sind. Das Kapitalverhältnis im Sinne der Marx’schen Theorie, also die strukturelle Beziehung zwischen Kapital und (Lohn-)Arbeit, ist also letztlich auch ein Organisationsverhältnis. Für Türk, Lemke und Bruch (2006: 45) folgt daraus eine wichtige Spezifizierung dessen, was Politische Ökonomie heißt:

Für die Beschreibung moderner Gesellschaft folgt daraus, dass sie nicht (nur) von ihrer Ökonomie im engeren Sinne her verstanden werden kann, vielmehr ist die Konstitution der Ökonomie als ein eigenständiges Feld selbst erst der Effekt umfassender gesellschaftlicher Organisation. Es ist daher notwendig, den Ökonomiebegriff weiter zu fassen, um Organisierung als eine bestimmte Ökonomie gesellschaftlicher Regulation und Herrschaft zu verstehen, d.h. als eine bestimmte Allokations-, Akkumulations- und Distributionsweise gesellschaftlicher Güter im weitestesten Sinne. Auf dieser Basis könnte man unseren Ansatz als eine ‚Kritik der Politischen Ökonomie der Organisation‘ nennen, und zwar in einem doppelten Sinne: gegen einen a-politischen Ökonomiebegriff, der Organisationen als neutrale Instrumente zur Erreichung kollektiver Zwecke fasst und für einen politisch-historisierenden Ökonomiebegriff, der Organisationen als zentralen Modus moderner Herrschaft begreift.

Die Politische Ökonomie des Gesundheitswesens handelt nicht nur von den institutionellen Regeln, sondern eben auch von jenen Kollektivakteuren, Organisationen (d.h. korporativen Akteuren) und sozialen Bewegungen, die erst das Gesundheitswesen als institutionell verfasstes ‚Gebilde‘ in historisch vergangenen Konflikten hervorgebracht haben. Das deutsche Gesundheitswesen, und dieses Axiom gilt für alle anderen Gesundheitssysteme in gleicher Weise, ist die institutionalisierte Kodifizierung und organisierte Verdichtung historisch geronnener Gesundheitspolitik. In kapitalistischen Marktwirtschaften sind dabei die Institutionen wie Organisationen der Gesundheits- und Krankenversorgung strukturell in deren Doppelstruktur als kapitalistische Arbeits- und Geldgesellschaften eingebunden (vgl. Altvater 2012). Das bedeutet, dass nicht nur Organisationen innerhalb des Gesundheitswesens einen ‚Kampf um Lebenschancen‘ (Alber 1992: 41) führen. Es bedeutet auch, dass scheinbar nicht-gesundheitspolitische Prozesse und Entscheidungen für die institutionen- und organisationsmäßige Ausgestaltung des jeweiligen Gesundheitssystems von Bedeutung sind. Das in vielen gesundheitspolitischen und gesundheitswisseschaftlichen Kreisen bekannteste ist die mittlerweile mehrfach rechtlich kodifizierte Forderung nach der ‚Stabilität der Beitragssätze‘ der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), aber auch anderer Sozialversicherungen (etwa der Pflegeversicherung). Die öffentliche Finanzierung von Gesundheitssystemen (von der privaten ganz zu schweigen) kann sich daher genauso wenig von den Effekten der (derzeit gültigen) kapitalistischen Allokations-, Akkumulations- und Distributionsweise lösen wie die Organisation der Leistungserbringung in kapitalistischen Marktwirtschaften kaum von den Regeln der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft abstrahieren kann, selbst wenn die Entstehung von Gesundheitssystemen stark von karitativen Tätigkeiten geprägt war und zum Teil immer noch ist. Mit anderen Worten, die Entwicklung des Gesundheitswesens ist in einen großen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet, der in Zeiten der Globalisierung schon auch mal globale Ausmaße annehmen kann (vgl. Lee 2003).

Der britische Politikwissenschaftler Michael Moran (1999: 10ff.) hat diesen systematischen Zusammenhang der Institutionen und Organisationen im Gesundheitssystem mit Institutionen und Organisationen der weiteren Gesellschaft als ‚gesellschaftliche Einbettung des Gesundheitssystems‘ bezeichnet. Wer Gesundheitspolitik verstehen will, tut gut daran, sich dieses Zusammenhangs bewusst zu werden. Er hat diese Erkenntnis in eine viel zitierte und pointierte Sentenz übersetzt (ebd.: 4):

There is more to health care politics than health care policy…

Was soll das heißen? Gesundheitspolitik (health care policy) wird von mehr Interessenkonflikten (politics) bestimmt als diejenigen, die sich auf die Verbesserung oder auch Veränderung von Gesundheitspolitik (health care politics) beziehen – und deren wissenschaftliche Bewertung der gesundheitswissenschaftlichen Politikforschung so wichtig ist (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2014: 15f). Der hierin anklingende englische Politikbegriff ist differenzierter angelegt als im Deutschen, wo Gesundheitspolitik die verschiedenen Dimensionen jenes Sprachgebrauchs nicht erfassen kann, weil sie im homogenen Wort ‚Gesundheitspolitik‘ bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen. In der englischen Sprache unterscheidet man daher ‚polity‘ von ‚policy‘ und ‚politics‘, um verschiedene, aber zusammenhängende Aspekte des Politischen kenntlich zu machen. Der Begriff polity steht für die ‚Kennzeichnung der Organisationsform und des Normengefüges‘ (Böhret/Jann/Kronenwett 1988: 7) des Politischen, während mit dem Konzept policy sich auf politische Aspekte der ‚Inhalte, der Art und Weise der Bearbeitung der öffentlichen Angelegenheiten bzw. Aufgaben, der gestaltenden Leistung, der Problemlösung und ihrer Instrumente‘ (ebd.) bezogen wird. Politics hingegen – wie schon angedeutet – wird zur ‚Kennzeichnung des konfliktreichen, durch Interessenkonkurrenz geprägten Prozesses der Austragung von Konflikten, der Durchsetzung von Inhalten, Zielen und Interessen‘ im politischen Prozess benutzt. Mit dieser Begriffstrias werden die konstituierenden Prinzipen des Politikbegriffes deutlich; sie lassen sich aber zumeist empirisch kaum trennen, sondern sind historisch, logisch und dynamisch miteinander verknüpft (ebd.):

Die drei Dimensionen des Politikbegriffs hängen offensichtlich eng zusammen, sie können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. So sind z.B. gesellschaftliche Normen und Institutionen (z.B. Verfassungen, Gesetze, Verhaltensregeln, Organisationen) immer zugleich Ergebnis (‚geronnene Politik‘) wie auch Voraussetzung (‚Weichenstellung‘) für zukünftige politische Prozesse (Politics) und Inhalte (Policies).

Die Inhalte der Gesundheitspolitik, so folgt hieraus, sind institutionell verfasst (z.B. im Rahmen des fünften Sozialgesetzbuches [SGB V] für die Gesetzliche Krankenversicherung), und werden gemäß dem Slogan ’nach der Reform ist vor der Reform‘ von stetigen Gesetzesänderungen (Policies) verändert, die ein Ausbalancieren bzw. eine Artikulation von Interessen (Politics) kollektiver Akteure (Parteien, Verbände, Körperschaften) darstellen. Wären diese pluralen Interessen nicht nur formal gleichberechtigt (wie z.B. das Modell des ‚legislativen Zirkels‘ unterstellt: siehe hierzu Mosebach/Schwartz/Walter 2014: 379ff.), sondern auch materiell, d.h. in Bezug auf ihre Diskurs-, Macht-, Recht- und Geldressourcen, gleichgestellt, wäre eine Art Verhandlungsdemokratie die beste aller politischen Welten. Allerdings ist dem nicht so. Und genau hier setzt die genannte Idee der ‚Einbettung des Gesundheitswesen‘ in die Gesellschaft an. Gesundheitspolitik (health care policy) wird demnach von politischen und ökonomischen Prozessen bzw. vom politisch-ökonomischen System eingerahmt.

Das heißt auf der einen Seite, dass  ‚Staatlichkeit‘ ein wesentliches Merkmal jedes Gesundheitssystems und von Gesundheitspolitik ist, denn der Begriff des Staates umfasst mehr als der berühmte ’nationale Gesundheitsdienst‘ in England und die von Ärzteschaft und Krankenkassen gelegentlich befürchtete ‚Staatsmedizin‘ in Deutschland. Staatlichkeit ist der Kern der Organisationsgesellschaften des 21. Jahrhunderts. Dabei sollte jedoch erkannt werden, dass hier nicht von ‚dem‘ Staat die Rede ist. Umgangssprachlich, aber auch im Journalismus-Slang wird gern von dem ‚Staat‘ als einem einheitlichen Akteur gesprochen. Dies ist jedoch nicht richtig und widerspricht praktisch jeder theoretischen Grundauffassung in Soziologie und Politikwissenschaft (gelegentlich wird gern in der ökonomischen Zunft von ‚dem Staat‘ gesprochen, was aber genauso falsch ist wie die Auffassungen der allgemeinen Bevölkerung und journalistisch tätiger Menschen). Ein erster Schritt zur ‚Dekonstruktion‘ dieses Mythos besteht darin zu erkennen, dass der Begriff Staat zunächst nichts anderes ist als ‚die Selbstbeschreibung des politischen Systems‘, wie es der deutsche Soziologe Niklas Luhmann einmal formulierte. Als zweiter Schritt ist anzuerkennen, wie es selbst der politikwissenschaftliche Institutionalismus akzeptiert, dass der Staat einen ‚institutionalisierten Handlungskontext‘ darstellt, ‚in dem Individuen, Gruppen (kollektive Akteure) oder Organisationen (korporative Akteure) zusammenwirken […], um gesellschaftliche Probleme zu lösen bzw. öffentliche Aufgaben zu erfüllen.‘ (Benz 2008: 99). Der politikwissenschaftliche Begriffs des Staates ist also gewissermaßen eine begriffliche Zuspitzung – ganz im Sinne von Luhmanns Invektive – höchst vermittelter Prozesse. Arthur Benz (ebd.) schreibt über diesen politikwissenschaftlichen Begriff des Staates daher:

Er berücksichtigt nicht nur die Staatsorganisation, sondern den institutionellen Rahmen insgesamt, der auch Regelungen über das Gebiet, die Mitgliedschaft (Staatsvolk), die grundlegenden Funktionen der Staatsgewalt und die Verfassung einschließt. Der Begriff Institution verweist darüber hinaus auf die Notwendigkeit der Anerkennung von Regeln. Als Akteure gelten nicht nur die Amtsinhaber im Staat oder Staatsorgane, sondern alle Bürger in ihrer Eigenschaft als politisch handelnde Mitglieder des Staates sowie Organisationen der gesellschaftlichen Interessenvermittlung. Das kollektive Handelnd der zahlreichen Akteure im Rahmen der staatlichen Institutionenordnung macht die Staatstätigkeit aus. […] Staatstätigkeit bedeutet also nicht Tätigkeit des Staates, sondern Tätigkeit der Akteure im Staat. [Hervorhebung: KM]

Auf der anderen Seite ist diese Staatlichkeit – und hier geht Moran (1999: 10ff.) über den politikwissenschaftlichen Institutionalismus hinaus – und damit auch Gesundheitspolitik (health care policy) in kapitalistische Marktwirtschaften eingefasst, deren historisch kontingtente Verbindung – zumindest in weiten Teilen des ‚Westens‘ – als kapitalistische Demokratien gekennzeichnet wird. Die derzeitigen ‚autoritären Tendenzen‘ hoch entwickelter kapitalistischer Gesellschaften haben freilich auch Auswirkungen auf die Art der Gesundheitspolitik, wie sie z.B. sehr erschreckend in den Krisenstaaten der Europäischen Union beobachtet werden kann (vgl. Deppe 2013Stuckler/Basu 2013Jessop 2016). Gesundheitspolitisches Handeln ist wird daher sowohl von der Wirkungsweise der kapitalistischer Marktwirtschaft als auch von der historisch entwickelten Logik der demokratisch verfassten Interessenauseinandersetzung im Staat (im Sinne von Benz) geprägt, indem dem gesundheitspolitisch Handeln involvierter (Kollektiv-)Akteure einerseits Beschränkungen auferlegt, aber andererseits auch Möglichkeiten eröffnet werden. Moran folgt dabei einer strikt historisierenden Rekonstruktion von Gesundheitssystemen und Gesundheitspolitik; ähnlich wie Türk, Lemke und Bruch gefordert haben und auch der skizzierte Politikbegriff nahelegt. Genau wegen der ‚gesellschaftlichen Einbettung‘ unterscheidet Moran auch unterschiedliche Politikbereiche auf dem Feld der Gesundheitspolitik, die ohne Bezug zur institutionellen und organisatorischen Realität der jeweiligen (demokratischen) Kapitalismusmodells unverstanden bleiben müssen. Zunächst kennzeichnet die Governance of Consumption die schlichte Tatsache, dass Gesundheitsdienstleistungen, Einrichtungen, Arzneimittel usw. finanziert werden müssen. Und diese Finanzierung ist abhängig von der derzeitigen ‚kapitalistischen Allokations-, Akkumulations- und Distributionsweise‘ (Türk/Lemke/Bruch 2006). Die finanziellen Mittel, die für die Gesundheits- und Krankenversorgung bereit stehen, sind daher zum Teil Ergebnis des politischen Wettbewerbs (via Wahlen), aber auch des Wettbewerbs zwischen beteiligten Organisationen im Kampf um ihre Überlebenschancen (Alber 1992) und deren Einfluss auf die Inhalte der Gesundheitspolitik (Policies). Die Governance of Provision bezeichnet jenes Subfeld, das das Verhältnis der gesundheitlichen Professionen (bei Moran nur: der Ärzteschaft) zur kapitalistischen Marktkonkurrenz und zum demokratischen Staat betrifft. Es geht hier um die Frage, wie das professionelle Selbstverständnis, das den meisten Gesundheitsberufen inhärent ist, zu Fragen der staatlichen Regulation und marktlichen Konkurrenz stellt. Wie ist die Leistungserbringung, beginnend von der Ausbildung über die Qualitätssicherung bis hin zur Regelung von Professionsfragen reguliert? In Bezug auf die Governance of Technology (auch als: production politics bezeichnet), die sich der Frage widmet, wie Medizintechnologien, Arzneimittel, aber auch Krankenhausneubauten zum Zweck der Gesundheits- und Krankenversorgung reguliert sind, schließt für Moran an den Kern staatlichen Handelns an, der auf die staatliche Sicherstellung kapitalistischer Akkumulation zielt. ‚Production in health care systems, when it takes place in capitalist economies, is entangled with economic statecraft.‘ (Moran 1999: 12) Diesen drei Politikbereichen von Gesundheitspolitik lässt sich ein weiteres anfügen, das Moran nicht thematisiert hat: Governance of Public Health. Hiermit sind jene Handlungserwartungen, Normen und Anreize impliziert, die zum Zweck der Verbesserung der sog. ‚Bevölkerungsgesundheit‘ den Bürgern und Unternehmen auferlegt oder als ‚gesunde Lebensstile‘ propagiert wurden, zusammengefasst. In Ergänzung von Morans Trias geht es darum, jenseits der reinen (zumeist auf den individuellen Patienten fixierten) Krankenversorgung (health care) den Gedanken einzufügen, dass ’staatliches Handeln‘ auch im Sinne von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung (prevention, health promotion) erfolgen kann (vgl. Mosebach/Walter 2006Labisch/Woelk 2012Hurrelmann/Klotz/Haisch 2014).

Sind hiermit nun die vier gesundheitspolitischen Handlungsfelder demarkiert, bleiben jedoch die beiden Fragen noch offen, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen und wie sich die ‚gesellschaftliche Einbettung‘ auf diese Subpolitikbereiche auswirkt. Grundsätzlich sind dies empirische Fragestellungen, die sich kaum zusammenfassend oder gar a-historisch definieren lassen. Dennoch lassen sich einige allgemeine Aussagen über die Wechselbeziehungen und Bedingungsverhältnisse machen. Die vier Politikbereiche folgen alle einer spezifischen Logik, die von Funktionen des ‚Staates‘ beeinflusst wurden und die sich historisch herausgebildet haben. Um diesen Gedankenschritt nachvollziehen zu können, ist es notwendig, noch einmal den oben dargelegten institutionalistischen Staatsbegriff zu hinterfragen.  Zwar ist der von Arthur Benz angelegte (deskriptive) Staatsbegriff eines ‚institutionalisierten Handlungskontextes‘ von Akteuren keineswegs falsch, aber seine Annahme einer ‚Autonomie des Politischen‘ (Benz 2008) ignoriert die aus der Kritik der Politischen Ökonomie abgeleitete ’strukturelle Macht‘ (Gill/Law 1988) oder ‚ökologische Dominanz‘ (Jessop 2016) des Kapitals im Zeitalter des ‚Global Capitalism‘ (Panitch/Gindin 2012). Der Staat in kapitalistisch verfassten Marktwirtschaften ist daher zwar ein Institutionenensemble, das jedoch als eine ‚Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse‘ (Poulantzas 2002) interpretiert werden muss, wo die Kapitalseite einen strukturellen Vorteil aufweist. Der Staat besitzt daher nur eine ‚relative Autonomie‘ gegenüber der Gesellschaft. Staatlichkeit hat sich zudem auch noch internationalisiert, so dass – zumindest im Hinblick auf die Europäische Union, aber gelegentlich auch darüber hinaus – die  ‚Internationalisierung des Staates‘ die Konstitutierung eines politischen Mehrebenensystems zur Folge hat (—> Gesundheitspolitik als Mehrebenensystem). Er ist daher aber auch nicht schlicht und immer die willfährige Einrichtung der ökonomisch herrschenden Eliten, Gruppen oder Klassen. Die regulative Idee und normative, wenn auch bisweilen widersprüchliche, Wirklichkeit rechtsstaatlicher Demokratie(n) sollte daher nicht unterschätzt werden. Die Folgen der gesellschaftlichen Einbettung von Gesundheitspolitik und Gesundheitssystem sind daher nicht nur historisch kontingent, sondern auch komplex und konfliktreich. Michael Moran (1999: 14f.) schreibt hierzu:

Capitalist economics […] is not simply in tension with pressures for popular provision; when capitalist economies do well they both stimulate and accommodate the pressure for provision [of health care, KM]. The impact of capitalist competition is both more benign and less benign than is suggested by a simple model of tension between capitalism and democracy. It is more benign because […] its impact can be as much enabling as constraining – and that is only to focus on the consumption sphere and to ignore professional  politics and production politics. It is less benign because the single most important impact of capitalist competition is destabilisation. At any one moment the government of consumption, of professions and of production [and of public health, one might add, KM] is the result of a particular political settlement reached between important interests.[…] One of the most obvious consequences of capitalist competition is constantly to disrupt any equilibrium between interests: it enriches some social groups and impoverishes others; it leads to technological innovations which undermine the economic position of some occupations, and advantages others; it destroys some large and powerful firms and creates others; it changes the internal structure of interests by likewise altering the balance of competitive advantage between different groups in the market place; it even profoundly alters the relationship between whole nations as economies rise and fall through international competition. […] If market capitalism produced both constraints and opportunities in the consumption sphere, the same is true of democratic politics. If capitalism and the welfare state are uneasy bedfellows, the same can be true of democracy and the welfare state.

Angewandt auf die Gesundheitspolitik bedeutet dies, dass die ‚ökonomische Funktion‘ von moderner Staatlichkeit in kapitalistischen Arbeits- und Geldgesellschaften darin besteht, wirtschaftliche Interessen und die kapitalistische Akkumulation zu fördern. Historisch hat sich dagegen über Demokratisierungsprozesse und die Entstehung moderner Wohlfahrtsstaaten im ‚goldenen Zeitalter des Kapitalismus‘ (Hobsbawm 1994) eine demokratische und eine wohlfahrtsstaatliche Funktion staatlichen (Kollektiv-)Handelns herausgebildet. Beide Aspekte haben erhebliche Auswirkungen auf den Bereich der Gesundheitspolitik gehabt, indem etwa die öffentlichen Versicherungssysteme gegen Krankheit / Verletzungen auf alle Bürger*innen ausgeweitet wurden (Universalität), wenn auch nicht immer im gleichen Maß (vgl. Esping-Andersen 1990; Alber/Schenkluhn 1992; Wendt 2013). Demokratische Willensbildungsprozesse und wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen folgen auch einer eigenständigen Interessensbildungs- und Politiklogik, die jenseits des gesundheitspolitischen Feldes liegt (vgl. Lijjpart o.J.).  Schließlich impliziert die Sicherstellung der Existenz eines ‚gesunden Staatsvolkes‘ die Förderung gesunder Lebensverhältnisse und Lebensstile, die zudem überwacht und/oder sanktioniert werden können (vgl. de Swaan 1988; Petersen/Lupton 1996). Staatliche Funktionen beinhalten daher auch  immer das Moment der Disziplinierung und Überwachung von (einzelnen oder Gruppen von) (il-)legalen Bewohnern des Staatsgebietes. Staatlichkeit bedeutet daher immer auch ‚Herrschaft‘ von Organisationen über Organisationen und anderen Akteuren. Insgesamt vernüpfen sich diese verschiedenen Staatsfunktionen zu einer institutionell-organisationalen Matrix eigenständiger (nationalstaatlicher) Sozialmodelle (vgl. Lessenich 2003: 63ff.). Folglich stehen sowohl die vier Subpolitikbereiche als auch die erweiterten – und natürlich genau so wie im Gesundheitswesen institutionalisierten und organisierten – vier Staatsfunktionen in permanenter Wechselwirkung und in einem sich historisch wandelnden Artikulationsverhältnis (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Health Care State

Es ist diese Wechselwirkung, die den britischen Politikwissenschaftler und Gesundheitssystemforscher Michael Moran (1999: 4f.) dazu veranlasst haben, die  eingängige, aber zunächst auch irritierende Metapher des Health Care State vorzuschlagen, um die (durchaus verschiedene) staatliche Verfasstheit jedes Gesundheitssystems und die mannigfaltigen Wechselwirkungen zwischen den Institutionen und Organisationen des Gesundheitssystems und des weiteren Staates zu unterstreichen.

‚Health care state‘ is an obvious echo of ‚welfare state‘, but health care politics are more than a subset of welfare politics and the health care state is more than a subsystem of the welfare state. Indeed, the best analogue is not the welfare state at all, but the modern industrial state, for as we shall see there are important connections between the industrial state and the health care state. States and health care systems pervade each other. It is precisely this pervading character which makes summary characterisations like ‚retreat‘ [of the state, KM] so unconvincing. There is more to health care politics than health care policy; the scale of health care institutions [as well as organisations, KM] means that they have ramifications for the modern state well beyond conventional health care arenas. Like any state, the health care state is about governing; and in the act of governing states shape health care institutions; and are in turn shaped by those institutions.

Diesem Analyserahmen folgend können konkrete Politikentscheidungen, Interessenkonflikte und historische Entwicklungen des Gesundheitswesens im Rahmen von Fallbeispielen verstanden und erklärt werden. Dabei kann das Modell des Health Care State zum Verständnis und zur Analyse von gesundheitspolitischen Entscheidungen und Prozessen noch dahingehend erweitert werden, dass gesellschaftliche Machtressourcen reflektiert werden, die in unterschiedlichem Maße den beteiligten (Kollektiv-)Akteuren offen stehen.  Ohne hier systematisch auf die Macht- und Akteurskonstellationen im deutschen Gesundheitswesen eingehen zu können (–> Institutionenlehre), soll doch darauf aufmerksam gemacht werden, dass in einer zunehmend ‚medial vermittelten Gesellschaft‘ letztlich ‚drei Machtkonfigurationen um die Konstituierung und Durchsetzung von politischen Maßnahmen‘ interagieren (vgl. zur Begründung des Modells: Messner 1995; Körte/Fröhlich 2004: 23ff.).

Der administrative Macht des Staates (i.e.S.), die sich gegen föderale Vetopositionen durchsetzen muss, stehen die auf Steuerungsressourcen beruhende soziale Macht von gesellschaftlichen Organisationen und Verbände(n) gegenüber. Beide zusammen bilden ein komplexes System von überlappenden und auf identifizierbare Politikfelder bezogenen Politiknetzwerken. Schließlich ist die medial vermittelte kommunikative Macht innerhalb der politischen Öffentlichkeit ein weiterer potentieller Machtfaktor. Die Steuerungsmöglichkeit des Staates (zuständiger staatlicher Akteure) im engeren Sinne hängt also nicht nur von den Steuerungsressourcen [und der Kooperation] vieler staatsnaher und staatsferner Organisationen ab, sondern ist wegen des föderalen wie gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses stets dem Risiko ausgeliefert, sich Veto-Positionen gegenüber zusehen, die bestimmte Maßnahmen blockieren können […]. (Mosebach/Walter 2006: 22, Fn. 8)