Finanzierung: Jenseits von Bismarck und diesseits von Beveridge

Die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems wurde historisch maßgeblich geprägt von der Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch den Reichskanzler Otto von Bismarck im Jahre 1883. Historisch anschließend an selbstorganisierte Sicherungskassen der Arbeiter und Handwerker, deren Tradition bis in das Mittelalter zurückreicht, und eingebettet in die staatliche Strategie der Eindämmung der „gefährlichen Umtriebe der Sozialdemokratie“ ist damit die institutionelle und organisatorische Tradition der Finanzierung des Gesundheitssystems in Deutschland auf einen Entwicklungspfad gesetzt worden, der mit dem Begriff der Sozialversicherung unmittelbar verknüpft gewesen ist. Eine Sozialversicherung unterscheidet sich von einer privaten Versicherungsform in vielfältiger Hinsicht. So ist die Sozialversicherung eine historisch besondere Form der solidarischen Absicherung  von Lebensrisiken in einer kapitalistischen Marktwirtschaft und hat sich insbesondere in Kontinentaleuropa einer besonderen politischen, sozialen und ökonomischen Beliebtheit erfreut. Sie basiert auf der Idee der Beitragszahlung von Lohnabhängigen und/oder ihren Arbeitgebern und kann als institutionelle Manifestation des fordistischen Klassenkompromisses in den kontinentaleuropäischen Ländern wie Deutschland, Österrich, Niederlande oder Frankreich angesehen werden.

Die Bedeutung der Sozialversicherung für die Absicherung gegen soziale Lebensrisiken in Kontinentaleuropa hervorzugeben bedeutet jedoch nicht, dass diese Form nicht die einzige Form der sozialen Absicherung gegen die genannten Lebensrisiken in einer kapitalistischen Marktwirtschaft ist. Eine weitere, besonders in Nordeuropa vorzufindende Form der kollektiven Absicherung gegen das Lebensrisiko Krankheit bzw. Verletzung ist die direkte staatliche Finanzierung über Steuereinnahmen des Zentralstaates und/oder darunter liegender Gebietskörperschaften. Während die Art und Weise der Erhebung von Sozialversicherungsabgaben historisch und räumlich sehr variabel ist, bleibt doch die Gemeinsamkeit von Sozialversicherungen gebenüber der steuerlich finanzierten Absicherung gegen Lebensrisiken erhalten. Sozialversicherungsabgaben sind hinsichtlich der Beitragserhebung proportional zu den jeweils unterschiedlichen Einkommenshöhe, die der Pflicht der Sozialabgaben unterworfen sind. Mit einem Wort: sie sind einkommensabhängig. Im Gegensatz zu den Einkommenssteuern jedoch differenzieren sich die Beitragssätze zur Sozialversicherung nicht entlang der jeweiligen Einkommenshöhe. Sie sind im Grundsatz für alle Einkommen gleich, auch wenn hier und da unterschiedliche Beitragssätze durchaus angewandt werden (zum Beispiel der erniedrigte Beitragssatz in der Gesetzlichen Krankenversicherung).

Auch die finanzielle Absicherung gegen Lebensrisiken mittels privater Versicherungsformen kann dem Sinn nach als eine „kollektive Finanzierung/Absicherung“ betrachtet werden, insofern das auch hierin zum Ausdruck kommende Versicherungsprinzip eine überindividuelle Absicherung gegen Lebens- und soziale Risiken ist. Dies anzuerkennen, bedeutet noch lange nicht die grundsätzlichen Unterschiede einer Sozialversicherung und einer privaten Versicherungsform zu leugnen. Während die letztere Form sich in der Regel am so genannten Äquivalenzprinzip orientiert (nachdem die Höhe derVersicherungsprämie sich gleichwertig mit der wahrscheinlichen Inanspruchnahme der Versicherungsleistung entwickelt), bricht die Sozialversicherung mit diesem Prinzip. Stattdessen gilt in Sozialversicherungen das so genannte Solidarprinzip, das nicht mit dem Versicherungsprinzip als solchem verwechselt werden darf. Das Solidarprinzip besagt im Kern, dass die Höhe des Sozialversicherungsbeitrags von der Wahrscheinlichkeit und dem Volumen der Inanspruchnahme der „Versicherungsleistung“ entkoppelt ist. Und diese Entkopplung ist eine bewusste politische Entscheidung zur gegenseitigen Unterstützung von hilfebedürftigen Teilen der Bevölkerung, ohne dass Einkommensunterschiede oder Versicherungsrisiken eine Rolle spielen sollen.

Neben diesen drei Finanzierungsquellen kollektiver Art können theoretisch natürlich auch noch direkte Zahlungen von privaten Haushalten zur Finanzierung des Gesundheitssystems beitragen. In diesem Fall können sowohl Zuzahlungen oder Gebühren zur Finanzierung im Grundsatz kollektiv finanzierter Krankenversicherungsleistungen als auch der Einsatz privaten Geldes zum Erwerb privater Leistungen außerhalb des jeweiligen Leistungskataloges gemeint sein. Die Finanzierung (nicht nur) des deutschen Gesundheitswesens, also der Leistungen für Prävention/Gesundheitsförderung, Kuration, Rehabilitation und Altenpflege, zeigt einen Finanzierungsmix aus Sozialversicherungen, privaten Versicherungsformen, staatlichen Steuern und direkten Zahlungen von privaten Haushalten. Laut Michael Simon (2017: 78f, Tab. 3-1) wurden 69,2 % aller Gesundheitsausgaben von unterschiedlichen Trägern der Sozialversicherung finanziert; das Gros dieser Ausgaben trägt dabei die gesetzliche Krankenversicherung mit 58,5 Prozent aller Ausgaben. Weitere Sozialversicherungszweige, die einen Teil der Gesundheitsausgaben finanzieren sind: die soziale Pflegeversicherung (7,8%), die gesetzliche Unfallversicherung (1,6%) und die gesetzliche Rentenversicherung (1,3%). An zweiter Stelle stehen mit 13,2% aller Ausgaben bereits die privaten Haushalte, wobei jedoch bemerkt werden muss, dass hierunter auch private Organisationen ohne Erwerbszweck (also zum Beispiel kirchlichen Träger Diakonie, Caritas usw.) fallen. An dritter Stelle liegen die Träger mit privater Versicherungsform, also die private Krankenversicherung sowie als Pendant die private Pflegeversicherung mit insgesamt 8,9 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben im deutschen Gesundheitssystem.

Obwohl also auf den ersten, statistischen, Blick bei der Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems die Sozialversicherung zu dominieren scheint, eröffnen sich bei der Betrachtung institutioneller und organisatorischer Veränderungen der Finanzierungsstruktur des deutschen Gesundheitssystems grundlegende und weiterführende Fragen. In der international vergleichenden Literatur zur Transformation von Wohlfahrtsstaaten des Sozialversicherung-Typs wird mittlerweile unisono ein möglicher Abschied vom ursprünglichen Bismarckschen Entwicklungsweg diskutiert (Palier 2010; Klenk et al. 2012), der besonders bei der Finanzierung von Gesundheits- und Krankenversorgung Dienstleistungen hervorsticht (Rothgang etal. 2010; Pavolini/Guilen 2013). Der Kern des Argumentes lautet, dass erstens die ursprünglich am Berufsstatus orientierten und damit institutionell und auf die Leistungshöhe und -art hochgradig fragmentierten Sozialversicherungsmodelle (der Krankenversorgung) seit Mitte der 1970er Jahre sich zunehmend universalisiert haben. Diese universalisierenden gilt sowohl für die Art und monetäre Bewertung der Leistungen als auch für die Angleichung der Regulierungen in den vormals fragmentierten Versicherungszweigen. Zweitens – und mit dem ersten Gesichtspunkt natürlich verbunden – zeigen sich Tendenzen, dass die Beitragssätze zur Krankenversicherung auf der Ebene von Nationalstaaten vereinheitlicht und vom Staat in einer Art Quasi-Steuer festgesetzt werden. Im deutschen Gesundheitssystemen gilt dies nicht nur seit der Einführung durchgängig für die soziale Pflegeversicherung, sondern seit der Einführung des so genannten Gesundheitsfonds in die Gesetzliche Krankenversicherung selbst in dieser. Hinsichtlich der genannten Merkmale bewegt sich also der Finanzierungsmodus großer Teile des deutschen Gesundheitssystems in Richtung einer staatlich induzierten Vereinheitlichung, die im Rahmen des Bismarckschen Sozialversicherungsmodells eher untypisch ist. Wird dadurch das deutsche Gesundheitssystem hinsichtlich der institutionellen und organisatorischen Regelungen seiner Finanzierungsgrundlagen zunehmend dem britischen bzw. nordeuropäischen Beverdige-System ähnlich?

Obwohl unzweifelhaft hier ein Annäherungsprozess stattzufinden scheint, der sogar noch dadurch bestärkt wird, dass unter der britischen Labour-Regierung mittels einer so genannten nationalen, lohnbezogenen Versicherungsabgabe der strukturell unterfinanzierte nationale  Gesundheitsdienst in England finanziell gestärkt wurde, bleiben grundlegende Unterschiede dennoch bestehen. So wird – nicht nur – der englische nationale Gesundheitsdienst zu großen Teilen durch staatliche Steuern finanziert, sondern auch ein Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen bzw. Krankenkassen ist in den nationalen Gesundheitsdiensten Nordeuropas (die durch Steuern finanziert werden) ausgeschlossen, da es keine konkurrierenden Finanzierungs- bzw. Kostenträger gibt. Obwohl also die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems sich jenseits von seinen institutionellen und organisatorischen Fundamenten zu Bismarcks Zeiten befindet, ist die Finanzierung trotz aller Universalisierung und Verstaatlichung immer noch diesseits von Beveridge. Möglicherweise aber bewegen sich beide Systeme – ebenso wie das US-amerikanische Gesundheitssystem – einem gemeinsamen Transformationspfad folgend und unabhängig von den unterschiedlichen Finanzierungstraditionen in eine gemeinsame Richtung: in einer zunehmend kommerzialisierten Gesundheits- und Krankenversorgung. Doch das ist ein anderes Thema.