Institutionenlehre

Der alte Begriff der Institutionenlehre bezieht sich in der Regel auf die formellen und informellen Regeln, wie gesellschaftliche Subsysteme und die Gesellschaft insgesamt verfasst sind und ‚gesteuert‘ werden. Gegenstand einer solchen Institutionenlehre sind also normative Regelungssysteme sozialer Interaktionen von Organisationen und anderen (Kollektiv-)Akteuren wie etwa Clubs, Verbänden, sozialen Bewegungen oder Koalitionen. Organisationen sind wie alle anderen (Kollektiv-)Akteure institutionell gerahmt, also nach Regeln verfasst und in weiterführende Regelungssystem eingebettet, aber die differentia specifica einer Organisation (und anderer Kollektivakteure) im Gegensatz zu Institutionen besteht darin, dass sie bewusst gegründete Zweckeinrichtungen sind, um (materielle und immaterielle) Akteursinteressen im Wettbewerb mit anderen Organisationen und Kollektivakteuren strategisch zu verfolgen. Der institutionelle Kontext der Gesundheitspolitik und der Gesundheitssystementwicklung besteht demnach in jenen rechtlich kodifizierten Regeln, die die Interaktion von Organisationen und anderen Kollektivakteuren lenken. Dabei gilt:

Der Einfluss von Institutionen auf die Wahrnehmungen und Präferenzen und daher auch auf die Intentionen von Akteuren kann niemals vollständig sein. […] Die Kenntnis der Institutionen gibt uns also viel Aufschluß über die Optionen, Wahrnehmungen und Präferenzen bestimmter Akteure, aber sie kann gewiß nicht alle Fragen beantworten. (Scharpf 2000: 83)

In der hier darzustellenden Institutionenlehre des deutschen Gesundheitssystems geht es also darum, welchen rechtlichen Regeln die funktionalen Bereiche: Kuration, Rehabilitation, Pflege/Hospiz und Prävention/Gesundheitsförderung unterworfen sind. Im Gegensatz zu üblichen Darstellungen des deutschen Gesundheitssystems, die die ambulante von der stationären Krankenversorgung und die ambulante von der stationären Pflegeversorgung (Altenpflege) trennen, wird hier ein anderes Einteilungsschema übernommen. Es orientiert sich zum einen an den oben genannten ‚vier Säulen‘ des deutschen Gesundheitssystems: Kuration, Rehabilitation, Pflege/Hospiz sowie Prävention und Gesundheitsförderung. Zwar ist es richtig, gerade auch aufgrund der historischen Herausbildung des deutschen Gesundheitssystems, dass die genannten Bereiche in gewisser Weise eigensinnige institutionelle Regelungskreise darstellen (vgl. die in dieser Hinsicht ähnlichen Darstellungen in: Busse/Schreyögg/Stargadt 2014; Rosenbrock/Gerlinger 2014; Schölkopf/Pressel 2014; Simon 2017). Allerdings kann mit einer gewissen Berechtigigung auch festgestellt werden, dass der Anteil transmuraler oder auch integrierter Versorgungsweisen (in all ihren Fassetten) in den letzten 25 Jahren enorm zugenommen hat und sich aufgrund medizinisch-technologischer Innovationen die internen Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Krankenversorgung, Pflegeversorgung, Rehabilitation usw. radikal verändert haben (vgl. hierzu grundlegend: Amelung/Sydow/Windeler 2009). Es ist common sense, dass sowohl die vor-, nach- und teilstationäre Krankenversorgung als auch die ambulante Krankenversorgung im Krankenhaus – um nur einige bekannte Phänomene zu nennen – an Bedeutung gewonnen hat wie auch zahlreiche operative Eingriffe zunehmend ambulant (ob im Krankenhaus oder in einer Arztpraxis / Gemeinschaftspraxis ist zunächst einmal egal) durchgeführt werden (können). Insofern wird in dieser Institutionenlehre der konzeptionelle Sprung gewagt, die funktionalen Unterschiede in den Mittelpunkt der Darstellung und Rekonstruktion der institutionellen und organisatorischen Fundamente des deutschen Gesundheitssystems zu stellen und weniger die  gewachsenen, zunehmend aber in Frage gestellten institutionellen Regelungssystemen in den Fokus zu nehmen.

Dies ermöglicht zum anderen neben einer integrierten Sichtweise auf die funktionale Ebene eben auch die Anwendung des an anderer Stelle beschriebenen analytischen Ansatzes des Health Care State. Jedes funktionale Untersystem des deutschen Gesundheitssystems (Kuration, Rehabilitation, Pflege und Prävention/Gesundheitsförderung) lässt sich anhand des in dem genannten analytischen Ansatz niedergelegten Schemas der vier Subpolitikfelder rekonstruieren: (i) governance of consumption, (ii) governance of provision, (iii) governance of technology und (iv) governance of public health. Mit diesem einheitlichen Schema, das weniger eingefahrenen institutionellen Logiken, sondern einem grundlegenden analytischen Ansatz folgt, wird die Vernetzung dieser Subpolitikfelder in dem jeweiligen funktionalen Bereich in den Mittelpunkt gestellt. Welche analytischen Vorteile hat dieser Ansatz gegenüber der ‚klassischen Einteilung‘ wie in den genannten Lehrbüchern ausgewiesen? Erstens lassen sich Grenzverschiebungen und strukturelle Reallokationen zwischen ambulanten und stationären Versorgungssektor viel besser rekonstruieren, die ein wesentliches Ziel der Gesundheitspolitik seit dem Beginn der Diskussion um mehr integrierte Versorgung in den 1970er Jahren darstellen. Zweitens orientiert sich die Beschreibung der institutionellen und organisatorischen Grundlagen der vier Funktionsbereiche vor allem an der entscheidungstheoretischen Bedeutung von Finanzierungsmöglichkeiten von Dienstleistungen und Gütern im deutschen Gesundheitssystem, mit dem ein wesentliches Moment von Ökonomisierungs- und Kommerzialisierungsprozessen betont wird. Schließlich handelt die Politische Ökonomie des Gesundheitswesens im Kern von der Aufbringung und Verteilung finanzieller Ressourcen zum Zweck der Sicherstellung eines solidlarischen Gesundheitssystems und der Frage, wie diese Mittel durch individuelle (zumeist) ärztliche Entscheidungen verteilt werden. Mit anderen Worten, die hier gewählte Darstellungsform stellt die gesundheitsökonomische Idee der „angebotsinduzierten Nachfrage“ in den Mittelpunkt des Analyseschemas. Drittens  – und im Anschluss an die analytische Frage nach der Kommerzialisierung bzw. Ökonomisierung des Gesundheitswesens – ermöglicht diese funktionale Fokussierung, dass die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen – der praktische Kern der Gesundheits- und Krankenversorgung – in den Mittelpunkt gestellt wird und medizinisch-technologische Gesichtspunkte (Arzneimittel, Medizinprodukte etc.) von der Perspektive ihres möglichen Einsatzes in dem jeweiligen Funktionsbereich her rekonstruiert werden und nicht getrennt von den eigentlichen Anwendungsbereichen. Viertens wird mit dieser Unterscheidung der Versuch unternommen, das gesamte Gesundheitssystem in den Blick zu nehmen und sich nicht auf einzelne Bereiche zu beschränken (Krankenversorgung oder Reha-Versorgung etc.). Dargestellt werden folglich sehr wohl institutionelle und organisatorische Regelungskreise, jedoch nicht nach den üblichen Schemata, sondern entlang den funktionalen Bereichen des Gesundheitssystems: Kuration, Rehabilitation, Pflege und Prävention/Gesundheitsförderung.

Die forschungsleitende Hypothese der zunehmenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens legt nahe zu untersuchen, ob sich sowohl die institutionelle als auch die organisatorische Struktur des deutschen Gesundheitssystems in Richtung ‚regulativer Kommerzialisierung‘  (Koivusalso/Mackintosh 2004: 26f.) verändert und die Versorgung mit Dienstleistungen und Gütern zunehmend einen Kommerzialisierungsgrad erster Ordnung oder gar zweiter Ordnung annimmt (–> Kommerzialisierungsprozesse im deutschen Gesundheitssystem). Das Medium des Rechts ist dabei zunächst nur die Form der Regelung des Verhältnisses von Staat (staatlichen Akteuren) und Gesellschaft (gesellschaftlichen Akteuren) in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat. Doch diese Form sagt nichts über den Inhalt der Beziehung bzw. die möglichen Interaktionsformen zwischen (staatlichen und gesellschaftlichen) Akteuren in dem jeweiligen Funktionsbereich aus. Diese Interaktionen können hierarchisch, wettbewerblich, verhandlungsbezogen oder demokratisch ausgestaltet sein (vgl. Scharpf 2000: 73ff. und passim). Darüber hinaus verfügen staatliche Akteure wegen ihrer ‚Kompetenzen der legalen Rechtsetzung, der Steuererhebung und der Rechtsdurchsetzung mit den Mitteln des Gewaltmonopols‘ über Sanktionsmöglichkeiten, ‚die jene der Selbstorganisation im allgemeinen weit übertreffen.‘ (Mayntz/Scharpf 1995: 28). Mehr noch, der Staat verfügt über spezifische Steuerungsinstrumente, mit denen er gesellschaftliche Akteure zu beeinflussen sucht.

Der Staat kann entweder selbst Güter und Dienstleistungen anbieten oder das gesellschaftliche Handeln von Akteuren direkt über regulative Politik, also die Setzung und Durchsetzung von Normen, und indirekt vermittels finanziellen Anreizen, Überzeugung oder prozeduraler Steuerung zur Erzielung seiner politischen Ziele zu beeinflussen versuchen […]. (Mosebach/Walter 2006: 13)

Die Beschreibung der institutionellen und organisatorischen Regelungssysteme der verschiedenen Funktionsbereiche im deutschen Gesundheitssystem wird sich über das analytische Schema des Health Care State hinaus – die grundlegende Hypothese resümierend – zu fragen haben, wie – erstens – bezüglich der Finanzierung und Versorgung mit den entsprechenden Dienstleistungen und Gütern, d.h. also der Allokation und Verteilung von Gesundheitsgütern- und -dienstleistungen) das Verhältnis von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren strukturiert ist (Wettbewerb, Hierarchie, Verhandlung, Mehrheitsentscheidung). Ist das deutsche Gesundheitssystem ein Beispiel regulativer Kommerzialisierung? Damit zusammenhängend wird zweitens zu explizieren sein, wie staatliche Akteure (d.h. der Staat im Sinne der Staatsgewalt) auf die (notwendigen) Entscheidungen und Prozeduren des Regelungssystems einzuwirken versuchen (regulative, distributive und/oder redistributive Politik). Ist die Tätigkeit staatlicher Akteure dabei eher marktkonstitutierend oder marktkorrigierender Art (–> Lütz/Czada 2000)? Drittens sollte reflektiert werden, wie die Konstituierung und Änderung von Regelungssystemen von den jeweiligen Machtverhältnisse zwischen den beteiligten Akteuren und die jeweilige Regelungsstrukur tragenden Akteurskonstellationen strukturiert sind. Zur Erinneriung: wenn hier von ‚Staat‘ gesprochen wird, sollte nicht vergessen werden, dass es nicht der Akteur ‚Staat‘ ist, der handelt, sondern – wie an einem anderen Ort ausführlicher beschrieben (–> Politische Ökonomie des Health Care State) – die ‚Akteure im Staat‘ (Benz 2008: 99). Es gilt also die Akteurskonstellationen zu identifizieren, welche die Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung des Gesundheitssystems zu ihrem Projekt gemacht haben.