Theoretische und begriffliche Grundlagen

Auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene unterscheiden sich die gesundheitswissenschaftlichen Interventionsformen (Krankheits-)Prävention und Gesundheitsförderung grundlegend, insofern die Idee der Krankheitsprävention – zumindest historisch – ein  pathogenetisches Fundament aufweist, während die Idee der Gesundheitsförderung auf die Unterstützung individueller, sozialer, politischer und ökonomischer Ressourcen zur Stärkung der Gesundheit (= Salutogenese) ausgerichtet ist. In praktischer Hinsicht jedoch ist eine scharfe Unterscheidung von Präventionsmaßnahmen und Gesundheisförderlichen Interventionen nicht immer durchzuhalten. Dies gilt insbesondere für den Tatbestand, dass präventive Maßnahmen im Hinblick auf unterschiedliche Stadien oder auch Zeitpunkte der Intervention unterschieden werden: (i) Primärprävention setzt bei Gesunden an und versucht den Eintritt von Erkrankungen zu verhindern; (ii) Sekundärprävention zielt auf die Entdeckung symptomloser Frühstadien einer Erkrankung, um durch eine möglichst frühzeitige kurative Intervention den Ausbruch der Erkrankung oder eine möglichst frühzeitige „Heilung“ der Erkrankung zu realisieren; (iii) Tertiärprävention setzt zeitlich nach der erfolgten medizinischen Intervention ein und soll ein Wiederauftreten oder ein Verschlimmern einer Grunderkrankung, die nicht heilbar ist, vermeiden helfen.

Insbesondere das Konzept der Primärprävention lässt sich schwer von der Idee der Gesundheitsförderung im Hinblick auf konkrete Interventionen abgrenzen. Daher schlagen zum Beispiel die beiden Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock und Thomas Gerlinger vor, die beiden Konzepte als sich ergänzende und miteinander verbindende Interventionsformen zu verstehen (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2014: 83ff.). Insbesondere der Wandel des Krankheitsspektrums moderner Gesellschaften, von der Dominanz von Infektionskrankheiten hinzu chronisch-degenerativen Erkrankungen, die per definitionem nicht geheilt werden können und die Grenzen des medizinischen  Risikofaktorenmodells, das der pathogenetisches Orientierung unterliegt, aufzeigt, macht die praktische Verschmelzung beider theoretisch unterschiedlich definierter Interventionskonzepte verständlich (vgl. zu analogen Aussagen: Hurrelmann/Laaser/Richter 2012: 661ff.; Hurrelmann/Klotz/Haisch 2014: 13ff.).

Die Differenzierung des Präventionsbegriffes bzw. der Aufstieg der Primärprävention ist vor diesem epidemiologischen Hintergrund auf das engste mit der internationalen Bewegung für die Stärkung der Gesundheitsförderung verknüpft, die in der sogenannten „Ottawa-Charta“ im Jahre 1986 ihren stärksten politischen Ausdruck erhalten hat. Im Gegensatz zum traditionell stärker positivistisch und biomedizinisch ausgerichteten Präventionskonzept beruht die Idee der Gesundheitsförderung nicht nur auf einem geradezu umgekehrten Erkenntnisinteresse, nämlich der Frage, was Menschen gesund erhält (siehe hierzu die theoretischen Innovation der „Salutogenese“ von Aaron Antonovksy sowie des Resilienz-Konzeptes von Emmy Werner: vgl. Bengel et al. 2009; Franke 2012: 169ff.), sondern auch wissenschaftstheoretisch auf einen konträren Fundament: de  holistisch-systemtheoretischen Ansatz der Sozialökologie. Klaus Hurrelmann, Ulrich Laaser und Matthias Richter (2012: 679) fassen diese Konzeption der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche die institutionelle Verkörperung des Gesundheitsförderung-Gedankens darstellt, folgend zusammen:

„Das Gesundheitsförderungs-Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientiert sich am salutogenetischen Ansatz. Es stellt stark auf Kontext- und Umweltgegebenheiten für die Diskrimination von Gesundheit und Krankheit ab. Es verweist darauf, dass gestörte Familienbeziehungen, hohe Anforderungen an Qualifikationen im Bildungsbereich und mangelnde Anerkennung von Berufsleistungen ebenso wie die Belastung von Wasser, Boden, Luft und Nahrungsmitteln sowie politisch instabile Verhältnisse die natürlichen Lebensbedingungen von Menschen erheblich beeinträchtigen. Hier liegen nach dieser Theorie die Ursachen für viele der sich schnell ausbreitende gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die sich vor allem langfristig im chronischen Krankheiten körperlicher und psychischer Ausprägung niederschlagen […].“

Gesundheitspolitisch orientiert sich der Gedanke der Gesundheitsförderung an der Ermöglichung des Prozesses, „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über Ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (WHO 1986, zit. n. Altgeld/Kolip 2014: 49). Im Gegensatz zur traditionell positivistischen und damit auch paternalistischen Beziehung von Arzt-Patient in der kurativen  (aber auch präventiven) Medizin bedeutet dieser Gedanke der Gesundheitsförderung der Idee des „Empowerment“ des einzelnen Menschen, der in soziale Netzwerke eingebunden ist, mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es gilt methodisch die Gesundheitsförderung als Aufgabe aller Politikbereiche (Stichwort: Intersektoralität) zu verankern und den Individuen und sozialen Gruppen, in die es eingebunden ist, eine Stärkung ihrer Gesundheitskompetenzen zu ermöglichen. Der strategische Schlüssel und zentrale Ansatzpunkt ist aus gesundheitspolitischer Sicht die Förderung „gesundheitsförderlicher Settings“. Ein Setting stellt dabei einen sozialen Zusammenhang dar, „der relativ dauerhaft und seinen Mitgliedern auch subjektiv bewusst ist. Dieser Zusammenhang drückt sich aus durch formale Organisation (zum Beispiel Betrieb, Schule), regionale Situation (zum Beispiel Kommune, Stadtteil, Quartier), gleiche Lebenslage (zum Beispiel Rentner/Rentnerinnen), gemeinsame Werte bzw. Präferenzen (zum Beispiel Religion, sexuelle Orientierung) bzw. durch eine Kombination  dieser Merkmale.“ (Rosenbrock/Hartung 2011: 497)

Die Idee des Settingsansatzes besteht dabei nicht nur darin, dass in diesem verschiedenen Settings der gesundheitliche Alltag hergestellt wird, sondern auch dass diese Settings in einem größeren Kontext eingebunden sind. Es ist zwar zuzugestehen, dass der Settingansatz „die wichtigste Umsetzungsstrategie der Gesundheitsförderung“ (Altgeld/Kolip 2014: 49) darstellt, aber eine gesundheitsförderliche, auf den Abbau sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit zielender Gesundheitspolitik (wie in § 20 SGB V kodifiziert) erfordert eben auch die Berücksichtigung gesundheitlicher Effekte auf der Ebene staatlicher Politik. Die Forschung zu sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit hat nachdrücklich gezeigt, dass gesunderhaltende und krankmachende Effekte keineswegs auf der Ebene von Settings (Mesoebene) begrenzt, sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang wirksam sind (Makroebene –>  sie ihr hierzu auch den Bericht der WHO-Kommission zu sozialen Determinanten der Gesundheit: WHO 2012). Eine besondere Bedeutung hier hat das Ausmaß und die Dimension sozialer Ungleichheit an Einkommen, Vermögen, Bildung und Macht, deren Bedingungsfaktoren keinesfalls  auf der Ebene von Settings, sondern eben gesamtgesellschaftlich aufzufinden sind (vgl. ebd.; Marmot 2004; Wilkinson 2005; Wilkinson/Pickett 2009).

Die  institutionalisierte und formal organisierten Praxis der Gesundheitsförderung wie der verschiedenen Formen der Prävention im deutschen Gesundheitswesen gleicht – gerade im Vergleich zu quasi wohlgeordneten  Finanzierungs-, Leistungs- und Regelungsstrukturen der kurativen Versorgung – eher einem bunt scheckigen Flickenteppich. Um sich dies vor Augen zu führen, ist es hilfreich, den Begriff der Prävention bzw. Primärprävention/Gesundheitsförderung hinsichtlich weiterer Kriterien differenzieren.neben der zeitlichen Unterscheidung in Primärprävention, Sekundärprävention und Tertiärprävention lassen sich noch grundsätzlich zwei Ebenen der Prävention unterscheiden: 1. die Verhältnisprävention und 2. die Verhaltensprävention. Was ist der Unterschied? Bei der Verhältnisprävention geht es um die Gestaltung von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen, denen ein hoher Anteil an Gesundheitsrisiken, aber auch Gesundheitsressourcen, je nach Gestaltung, zugerechnet wird. Zahllose Maßnahmen der „nicht-individuenbezogenen Verhältnisprävention“ (Walter/Schwartz 2003: 255), wie die Lebensmittelkontrolle, der Trinkwasserschutz bzw. Trinkwasseraufbereitung, Maßnahmen der Verkehrs-und Produktsicherheit, sind öffentlich oft nicht im Fokus und werden erst zum Thema gemacht, wenn ihre unzureichende Umsetzung oder ihr schlichtes Fehlen bemerkt wird. Diese Formen der zumeist auf Verringerung von Infektionsrisiken abzielenden Verhältnisprävention werden aufgrund ihrer institutionellen und organisatorischen Verankerung in der Folge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts im Übergang ins 20. Jahrhunder auch als „Old Public Health“ bezeichnet (vgl. Hurrelmann/Laaser/Razum 2012: 20ff. u. 31; Labisch/Woelk 2012: 66ff.). Die öffentliche Strategie von New Public Health meint hingegen die Verringerung der Prävalenz von chronisch-degenerativen Erkrankungen durch stärker lebensstilbezogene Interventionen der Prävention und Gesundheitsförderung (vg. Hurrelmann/Laaser/Razum 2012: 20ff.). In jedem Fall gilt jedoch folgende Definition der Verhältnisprävention:

„In den meisten Fällen soll Verhältnisprävention gesundheitlichen Risiken, denen die Individuen ausgesetzt sind, senken. Dies kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Sie reichen von der Definition und Durchsetzung von Grenzwerten bis hin zu Versuchen, die Gestaltungsmöglichkeiten der Betroffenen zu stärken bzw. Anreize zu gesundheitlich riskante Verhalten auszuschalten oder abzuschwächen.“ (Rosenbrock/Gerlinger 2014: 74)

Verhaltensprävention dagegen zielt darauf die Erkrankungen bzw. Erkrankung Wahrscheinlichkeit durch die Beeinflussung menschlichen Verhaltens zu senken. Im Gegensatz zur Verhältnisprävention gehen viele verhaltenspräventive Ansätze davon aus, dass die Gesundheit bzw. Krankheit von Menschen vor allem auf riskantes Gesundheitsverhalten zurückzuführen ist. Entsprechend präventive Maßnahmen zielen auf die Gesundheitsaufklärung, Gesundheitserziehung und Gesundheitsberatung sowie die Beeinflussung von Verhaltensanreize bis hin zu Ge-/Verboten. Im Gegensatz zur Verhältnisprävention, die regelhaft meist als primärpräventive Maßnahme zu verstehen ist, zeichnen sich verhaltenspräventiven Maßnahmen dadurch aus, dass Sie einen unterschiedlichen Zeitpunkten des Gesundheit-Krankheit-Kontinuums angewandt werden können (ebd.).

Die oftmals vorgenommen starre Gegenübersetzung von Verhältnisprävention und Verhaltensprävention ist nicht in jedem Fall durchzuhalten. Arbeitsschutzmaßnahmen zum Beispiel sollen es Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen ermöglichen, sich am Arbeitsplatz gesund zu verhalten, d.h. gesund zu arbeiten. Werden aber – um bei diesem Beispiel zu bleiben – riskante Verhaltensweisen am Arbeitsplatz entweder monetär gewürdigt oder erwartet, weil entsprechende Arbeitsschutzmaßnahmen nicht umgesetzt sind, wird die „Schuld“ einer möglichen Erkrankung oder Verletzung dem einzelnen  Mitarbeiter zugewiesen, obwohl strukturelle Gründe für das Fehlverhalten vorgelegen haben können. Auch andersherum ist die Unterscheidung nicht immer stringent. Vorgeblich riskante oder ungesunde Verhaltensweisen, wie zum Beispiel  Konsum von schädlichen  Genussmitteln oder mangelnde Bewegung – um die beliebten Klassiker zu nennen – hängt einerseits von der strukturellen Ermöglichung oder Verhinderung (Vorhandensein von Genussmitteln und nicht-Vorhandensein von Bewegungsmöglichkeiten) solcher potentieller Verhaltensmöglichkeiten ab und ist andererseits oftmals sozialisationsbedingter Einübung von schichtspezifischen Lebensstilen geschuldet. In beiden Fällen wird offensichtlich, dass der ‚freie‘ Entschluss  eines Individuums zu gesundheitsschädigenden und/oder gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen stets sozial mitbedingt ist, so dass eine reine verhaltensorientierten Präventionsstrategie sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten eher stärken muss (vgl. Kühn 1993; Kühn/Rosenbrock 1994; Bittlingmayer/Sahrai/Schnabel 2009). Wegen dieser soziologischen Erkenntnis der Dialektik von Individuum und Gesellschaft ist es nicht überraschend, dass die erfolgreichste Präventionsstrategien (im Sinne der Primärprävention) solche sind, die sowohl verhältnisorientierte als auch verhaltensorientierte Strategien, oftmals auf ein Setting fokussiert, kombinieren (vgl. Rosenbrock/Gerlinger 2014: 110f.). Primärpräventive Maßnahmen lassen sich folglich hinsichtlich der Ebene der Intervention und der Form der Intervention systematisch unterscheiden:

„Primärpräventive, d.h. Belastungen senkende und Ressourcen vermehrende Aktivitäten und Strategien lassen sich drei Interventionsebenen zuordnen:  dem Individuum, dem Setting und der Bevölkerung. Je nachdem, ob die Intervention sich auf Informationen, Aufklärung und Beratung beschränkt oder ob sie auch Interventionen zur Veränderung gesundheitsbelastender bzw. ressourcenhemmender Faktoren der jeweiligen Umwelt/des jeweiligen Kontext einschließt, ergeben sich sechs Strategietypen.“ (Rosenbrock/Gerlinger 2014: 89)

Die erste Strategie ist die individuell ansetzende Prävention ohne Kontextbeeinflussung, die besonders in der ärztlichen Gesundheitsberatung oder so genannter Gesundheitskurse angewandt wird. Die zweite Strategie beinhaltet die am Individuum ansetzende Primärprävention bei gleichzeitiger Beeinflussung des Kontextes, wie es zum Beispiel bei präventiven Hausbesuchen von Hebammen oder so genannten Gesundheitsbesuchern in staatlichen Gesundheitssystemen (Schweden, England) vorkommt. Die dritte Art ist die settingbasierte Primärprävention, die zum Beispiel Gesundheitsaufklärung und die Verbreitung von Gesundheitsinformationen in Settings zum Ziel hat, etwa Anti-Tabak-Aufklärung in Schulen. Diese Strategie versucht, das entsprechende Setting – also zum  Schule, Betrieb, Kindergarten oder Stadtteil – gesundheitsförderlich zu gestalten und ist meistens mit dem Konzept der Organisationsentwicklung verbunden. Die beiden letzten Strategien zielen auf die Bevölkerung und unterscheiden sich im einen Fall darin, dass ausschließlich allgemeine und unspezifische Informationskampagnen, etwa zur besseren Ernährung, zu mehr Bewegung et cetera, verfolgt werden, Werbekampagnen auch einen Kontext Bezug haben können, wenn sie etwa zur Prävention des Sexualverhaltens oder spezifischen Bewegungsindikatoren (Trimming 130) verfolgt werden (vgl. ausführlich:ebd.: 89ff.).

Sekundärprävention hingegen erfolgt typischerweise in der Arztpraxis und ist meistens eine Form der Früherkennung von Krankheiten, dadurch oftmals Individuen zentriert,  kann aber auch in eine bevölkerungsweite Screening-Strategie eingebettet sein (z.B. Mammographie-Screening). Solche sekundärpräventiven Maßnahmen sind oftmals Ärztinnen und Ärzten, aber auch bei einem gut betuchte Klientel von Patienten, sehr beliebt, auch wenn ihre evidenzbasierten Drogen nicht immer und nicht in jedem Fall die zum Teil invasiven Maßnahmen rechtfertigt (vgl. kritisch: ebd.: 115ff.).

Tertiärpräventive Maßnahmen schließlich, die auf die Linderung von Belastungen und Vermeidung von Rezidiven bei chronisch-degenerativen Erkrankungen zielen, sind im deutschen Gesundheitssystemen nur sehr defizitär umgesetzt. Die sachliche und zeitliche Koordination solcher Leistungen wird in der Regel den Patienten auferlegt und „damit auf jenen Akteur, der auf Basis seiner gesundheitlichen Lage und seiner Qualifikation dafür über die schlechtesten Voraussetzungen verfügt“. Rolf Rosenbrock und Thomas Gerlinger (2014: 122) vermuten zu Recht, dass dies „wahrscheinlich einer der wichtigsten Gründe für die erhebliche und gleichzeitige Über-,  Unter- und Fehlversorgung chronisch kranker in Deutschland“ sei.