Kommerzialisierungsprozesse

Der Begriff der Kommerzialisierung ist zur Beschreibung des institutionell-organisatorischen Wandels im deutschen Gesundheitssystem eher unüblich. Die Nutzung dieses Begriffes zur (kritischen) Analyse von Veränderungsprozessen von Gesundheitssystemen –  nicht nur in Deutschland – bedarf also einer Begründung. Erstens zeigt der Begriff der Kommerzialisierung an, dass es sich hier um gesellschaftliche Prozesse handelt, mithin um dynamische Entwicklungen, die immer sozial umkämpft sind und keineswegs einer unüberwindlichen Logik gleich ablaufen. Zweitens klingt  aber auch an, dass Kommerzialisierung offenbar dem viel üblicheren Begriff der Ökonomisierung vorgezogen wird, was die Frage nach den(theoretischen und empirischen) Gründen hierfür aufwirft. Drittens erscheint der Begriff der Kommerzialisierung offenbar geeignet, die vielfältigen institutionellen und organisatorischen Wandlungsprozesse „auf den Begriff“ zu bringen. Viertens schließlich schließt der Begriff an die (kritische) Beschreibung und Analyse von institutionell-organisatorischen Veränderungen an, die bislang in eher fragmentarischen Gesundheitssystemen des ‚Globalen Südens‘ und staatlichen Gesundheitssystemen des ‚Globalen Nordens‘ beobachtet und untersucht wurden. Es ist die übergreifende These dieses Webbuch-Projektes, dass auch das deutsche Gesundheitssystem, das historisch und traditionell weder der einen noch der anderen Klassifizierung entspricht,  ubiquitären und manifesten Kommerzialisierungsprozessen ausgesetzt ist, welche ihren Ursprung in globalen gesellschaftlichen Umbruchprozessen haben, die hier nur verkürzt als Aufstieg des neoliberalen Globalkapitalismus etikettiert werden können (vgl. Altvater/Mahnkopf 1999; Robinson 2004; Cerny/Soederberg/ 2005; Hirsch 2005; Panitch/Gindin 2012; Jessop 2016).

Im Folgenden soll der analytische Begriff der Kommerzialisierung der Gesundheits- und Krankenversorgung genauer erläutert werden. Hierzu wird zunächst eine in der internationalen Literatur zur vergleichen Gesundheitspolitikforschung verwendete Arbeitsdefinition vorgestellt. In einem zweiten Schritt wird der Begriff der Kommerzialisierung gegen den Begriff der Ökonomisierung des Gesundheitswesens gestellt, wie er in der kritischen gesundheitswissenschaftlichen Literatur üblich ist. Aus grundlegenden theoretischen sowie wissenschaftstheoretischen Gründen erscheint der Begriff der Kommerzialisierung geeigneter und präziser zu sein, um die umfassenden institutionellen und organisatorischen Veränderungsprozesse einem analytischen Fluchtpunkt gleich ‚auf den Begriff zu bringen‘ (Kommerzialisierung statt Ökonomisierung). Im darauf folgenden Abschnitt wird sich den gesundheitspolitischen Wandlungsprozessen und Strategieänderungen gewidmet, die – als wettbewerbsbasierte Kostendämpfungspolitik tituliert – als Treibmittel der Kommerzialisierung angesehen werden können. Er knüpft an theoretische Überlegungen und empirische Forschungen an, die an anderer Stelle in vergleichender Perspektive die Veränderungen der verschiedenen (nationalen) Health-Care-States im neoliberalen Globalkapitalismus thematisiert haben. Im nächsten Unterkapitel sollen dann betriebswirtschaftliche und gesundheitsökonomische Grundkonzepte und Instrumente beleuchtet und dargestellt werden, die im Instrumentenkasten der Ökonomisierung vorzufinden sind. Im vorletzten Abschnitt wird in Folge dieser Skizze zentraler Mittel der Ökonomisierung eine grundlegende Kritik an der neoklassischen Gesundheitsökonomie und Gesundheitsbetriebslehre geübt, die weit über die kritische Bewertung einzelner Ökoonomisierungsinstrumente hinausgeht. Abschließend wird in ausblickender und exkursartiger Weise nochmals auf den engen Zusammenhang von gesellschaftlichen Kommerzialisierungsprozessen und gesundheitssystemischen Kommerzialisierungsprozessen im neoliberalen Globalkapitalismus hingewiesen, wenn die (faktisch) steigende bzw. (prognostisch) zu erwartende steigende sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit als Kolleteralschaden von Kommerzialisierungsprozessen interpretiert wird.