„Everybody gets a second chance…“ – von Straßburg nach New York. Die erstaunliche, aber nicht untypische Karriere der Anna S.

Die gelernte Historikerin Anna S. mag Russland nicht. Insbesondere seinen autokratisch herrschenden Präsidenten, Vladimir Putin, und Trump genauso wenig. Doch dazu stand ihr am Ende ihrer Ausbildung eigentlich gar nicht der Sinn. Sie promovierte über kirchliche Einrichtungen im Mittelalter und bekam das Prädikat „Dr.“ verliehen – doch was nun damit anfangen? Nach einiger Zeit fiel sie dem Schicksal vieler frisch ausgebildeter Historiker:innen (und Sozialwissenschaflter:innen) zum Opfer, deren Wissenschaftslaufbahn nach einer Zeit als Institutsmitarbeiterin in prekärer Beschäftigung in sich zusammenbrach. Die Historikerin sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass keiner ihr mittelalterliches Wissen brauchte. Wohin mit dem Ego? Nun, warum nicht Journalistin werden? Das kann ja jede/r!
Also wechselte Anna S. die Seite und begab sich vom wissenschaftlichen Prekariat in das journalistische Prekariat und machte brav eine Hospitation nach der anderen. Selbst die so genannte „freie Mitarbeiterinnen“-Position blieb ihr, wie vielen anderen Hochschulabsolventen in seit den 2000er Jahren, nicht erspart. Keine guten Aussichten für eine stabile Karriere.
Doch das erste Volontariat bei einer einflussreichen Hauptstadt-Zeitung brachte die Kehrtwende. Dieses ebenfalls schlecht oder gar nicht bezahlte Engagement brachte sie in die USA. Sie wurde an einer dortigen Tageszeitung zu einem „Fellow“ eines einflussreichen Think Tanks der USA der Arthur F. Burns Foundation. Sie absolvierte erhielt das hochangesehene Deutsch-AmerikanischesJournalistenstipendium. Geil. Eine zweite Chance und dass im politisch-journalistischen Kerngebiet der transatlantischen Vernetzung!
Nachdem sie dieses Stipendium absolviert hatte, wobei man sich fragen kann, welche (Prüfungs-)Leistungen oder Inhalte dahinter stehen, wurde ihre berufliche Neuorientierung mit einer monatlichen Kolumne in der New York Times über Deutschland gewürdigt. Ihre Kolumnen thematisieren nahezu jedes Thema, das die Bundesrepublik seit 2015 erschütterte und ihre Thesen verlieren sich im Allgemeinen und verharrten borniert im liberalen Spektrum; selbst den „Sozialismus“-Hammer gegen die Berliner Mietenbremsenpolitik holte sich aus dem Ideologiekasten; den antikommunistischen Antidemokraten Arthur F. Burns hätte es zweifellos gefallen. Allerdings ist Verwunderung darüber erlaubt, welche Kompetenz die promotete Neujournalistin als Mittelalter-Historikerin mitbringt, um tagespolitische Kommentare zu verfassen. Eigenständige Sachkompetenz kann es jedenfalls nicht sein. Eine hübsche Schreibe vielleicht. Oder doch die Tutorials des Burns-Stipendiums vielleicht?
Nach dem US-Kapitel ging ihre zweite Karriere ab wie ein Zäpfchen. Sie wurde zur Meinungsmeisterin in der Berliner Postille, die ihr den Umweg über Arthur F. Burns ermöglicht hatte; zum Schluss sogar Mitglied der Chefredaktion. Seit kurzer Zeit ist sie auch in Deutschland „die Treppen“ hochgefallen und wurde Außenpolitik-Koordinatorin in einer bekannten deutschen Wochenzeitung – Preise für ein US-nahes Medieninstitut darf sie auch noch mitvergeben.
Nun also: Putin. In der jüngsten Ausgabe dieses einst von US-skeptischen Geistern Politikern (H. Schmidt) mitherausgegebenen Wochenblattes darf sie gegen den alten (und neuen?) US-Präsidenten, Donald Trump, agitieren, unter dem lustigen und sehr zweideutigen Titel „Er ist wieder da“ – eine Anspielung auf eine ambivalente, komödiantenhafte „Wiederkehr“ des deutschen Diktators, A.H., in der deutschen Kulturindustrie der 2010er Jahre.
Was ist aber das Problem mit Putin? Die (aus Deutschland) ausgewiesene Außenpolitik-Expertin im O-Ton: „Für Staaten wie Russland ist die Frage, ob sie einen großen Krieg führen oder nicht, eine Kosten-Nutzen-Rechnung, während das den Westeuropäern schlechthin unvorstellbar erscheint.“ Was also tun, wenn Trump kommt, der Europa nicht mehr schützen will und Putin, der „Russe“, wieder einmal vor der Tür steht?
Für die ausgewiesene Mittelalterhistorikerin Anna S muss die Schuldenbremse im Grundgesetz fallen, damit Deutschland seine Verteidigungsausgaben weiter erhöhen kann – hat nicht die pittoreske Annalena B dies jetzt gerade jüngst auch gefordert, wer wedelt hier mit wem? Denn Putin habe kalkuliert und seit 2014 die Krim und Teile des Donbass besetzt. Putin habe sich 2022 aber verkalkuliert, auch wenn „bislang nicht existentiell“. Aber es droht Ungemach: „Ob sich der Krieg aus russischer Sicht am Ende ‚gelohnt‘ hat, ist offen. Angesichts von Trump Off-Präsidentenschaft und der zunehmend sichtbaren Dysfunktionalität der US-Demokratie verändert sich diese Rechnung zu Putins Gunsten.“
Deutschland müsse – so die transatlantisch bestens vernetzte Kassandra, wenn auch freilich eine nicht mehr ernst zu nehmende Version der griechischen Unheilkünderin des Wochenblatts – die „Hürden für den Ausbau der Rüstungsindustrie“ beseitigen und es müssten „Eifersüchteleien“ bei (europäischen) Rüstungsprojekten beendet werden. Also: Waffen produzieren für den Sieg und deutsche Soldaten nach Litauen, aber schnell! Passende – oder sollte man sagen opportunistische? – Worte zur Münchener Sicherheitskonferenz und der derzeitigen Kriegs-Rhetorik der NATO-Staaten gegenüber Russland allenthalben.
Ein langer Weg. Von den Untiefen Straßburger Klöster im 16. Jahrhundert bis zur Spitze der NATO-Propaganda-Abteilung der Hamburger Wochenzeitung. Keine Frage: Anna S ist am Gipfel ihrer (zweiten) Karriere angekommen. Ihr Erfolgsgeheimnis: Opportunismus als Geschäftsmodell, auch: carpe diem genannt. Man fragt sich unwillkürlich, wer wohl hier am meisten Kosten-Nutzen-Kalküle anlegt? Ist Anna S in einem Fall von prototypischer Projektion (hat sich nicht „der“ Westen verkalkuliert, Russland in die Enge zu treiben?) gefangen oder verkörpert sie einfach gekonnt den einst von Erich Fromm kritisch beäugten „Marketing-Charakter“, der sich allem anpasst, was die Karriereleiter erklimmbar macht? Ausgewiesene Sachkompetenz kann es jedenfalls nicht sein, die Anna S angetrieben hat. Aber unter gleichartigen Persönlichkeiten lebt es sich bekanntlich leichter. Ideologischer Konformismus als Demokratiegefahr -schütze sich, wer kann!

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