Hennig Schmidt-Semisch/Friedrich Schorb (Hrsg:/2021): Public Health. Disziplin – Praxis – Politik, Wiesbaden (Springer VS). ISBN 978-3-658-30376-1 ISBN 978-3-658-30377-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8

Manche Bücher reizen zum Widerspruch und wiederum andere sind voller Widersprüche. Beide Aspekte sind keineswegs negativ zu beurteilende Eigenschaften von Büchern, sondern können Ausgangspunkte von individuellen und kollektiven Lernprozessen sein. Der zu besprechende, mit über 500 Seiten und 28 Fachbeiträgen überaus voluminöse Sammelband von den beiden Bremer Soziologen und Gesundheitswissenschaftlern Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb zu den disziplinären, praktischen und politischen Aspekten von „Public Health“ verspricht daher, individuelle und kollektive Lernprozesse hervorzubringen. Das liegt nicht nur an den Herausgebern oder Autoren, sondern am Gegenstand selbst, dessen analytische, normative und praktische Greifbarkeit unter den Händen des Sammelbandes für den Lesenden gelegentlich mosaikartig schimmert. Public Health, so die Arbeitshypothese der Herausgeber, stehe in der Tradition der Sozialmedizin oder Sozialhygiene des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ziele auf die Bewältigung bzw. Bearbeitung sozialer Ursachen von Gesundheit und Krankheit. Dabei sollen naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Perspektiven miteinander in Beziehung, aber keineswegs absolut gesetzt werden. Deren Interaktion ist nötig, um den „tieferliegenden Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit“ (Schmidt-Semisch/Schorb: 5) auf die Spur zu kommen. Hiermit stellen sie sich in die sozialkritische Tradition der Sozialmedizin und ihre Neuinstallierung seit den 1980er Jahren in Deutschland. Im fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) ist die Reduktion „sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen“ (§ 20 Abs. 1 Satz 2 SGB V) mittlerweile zum zentralen Ziel von Public Health-Praxis erkoren worden. Public Health ist damit sehr politiknah, was im Sammelband durchaus kritisch erörtert wird.

Doch was ist der gemeinsame Gegenstand des Sammelbandes? Die naheliegende Antwort: „Public Health“ ist keineswegs so einfach greifbar wie man gerne glauben möchte. Denn die die diversen Disziplinen der Multidisziplin Public Health, denen der erste Teil des Bandes gewidmet ist, haben sehr unterschiedliche Blickwinkel, wie Public Health begrifflich gefasst werden kann und welchen Beitrag die diversen Disziplinen leisten möchten. Eine plausible Näherung an die Inhalte von Public Health ist das Forschungs- und Praxisfeld von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. Während manche Beiträge als „klassische“ Beiträge in einem „Lehrbuch“ über Public Health durchgehen, so etwa die Beiträge zur Geschichte der öffentlichen Gesundheit seit dem 19. Jahrhundert (Brigitte Ruckstuhl und Elisabeth Ryter), zur Bedeutung der Psychologie (Benjamin Schütz), zur Sozialen Arbeit (Bernhard Borgetto und Corinna Ehlers) oder der Bedeutung der ökonomischen Wissenschaft (Christian Jesberger und Stefan Greß) für Public Health, stechen anderen mit neuen (Forschungs-)Perspektiven hervor. Insbesondere die Beiträge von Ruth Müller zum „epigenetischen Körper zwischen biosozialer Komplexität und Umweltdeterminismus“ und von Monika Urban zum „digital turn in Public Health“ bringen neue Perspektiven in die Public Health-Forschung in Deutschland. Auch Bernhard Borgetto und Michael Köhler bringen mit ihrer Verbindung von Pflege- und Therapiewissenschaftlichen neue Farben ins Public Health-Spiel. Anregend ist auch der Versuch von Katharina Böhm, den Beitrag der Politikwissenschaft zur „Public Health Forschung und Praxis“ (41ff.) zu skizzieren, den sie in ihrem Beitrag zur Erklärung politischer Entscheidungen, zur Implementation und Evaluation von Public-Health Politiken und dem Beitrag allgemeiner politischer Trends auf die Gestaltung der Gesundheitspolitik erkennt. Inwiefern die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit jedoch (44ff.) sich einem genuinen Beitrag der Politikwissenschaft verdankt, erschließt sich nicht. Hier sind disziplinäre Bezüge zur Politischen Soziologie, Politischen Ökonomie und Sozialstrukturanalyse, mithin der sozialtheoretischen Verortung der Politikwissenschaft, m.E. noch zu klären. Ihre dezidiert anwendungsorientierte Perspektive auf politikwissenschaftliche Beiträge für Public Health bringt sie dazu, zahlreiche theoretische Beiträge von Politikwissenschaftlern zur Governance von Gesundheitspolitik in OECD-Ländern zu übergehen, obwohl sie doch die Erklärung politischer Entscheidungen im Politikfeld für einen zentralen Gegenstand hält (ebd.: 41f.). Es ist allerdings zutreffend, dass das Politikfeld Public Health – insbesondere in Deutschland – von vielen Politikwissenschaftlern in empirischer Hinsicht marginal betrachtet worden ist, vermutlich weil es sich nicht um „große Politik“ handelte, der sie sich in ihren vergleichenden Studien oftmals widmeten (vgl. international: Blank/Burau/Kuhlmann 2018).

Die Beiträge von Beate Blättner und Marie-Luise Dierks (179ff.) zur bundesweiten „Lehre in Public Health“ und von Petra Kolip und Oliver Raum (195ff.) zu den konstitutiven Bedingungen und Entwicklungen der Interdisziplinarität der Gesundheitswissenschaften an der „Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld“ brechen sich ein wenig mit den im ersten Teil thematisierten „disziplinären Grundlagen“ von Public Health und stellen die Lehr- und Forschungszentren der etablierten Public Health-Forschung dar, die nicht nur in der nordrheinwestfälischen Metropole („Bielefeld“), sondern u.a. auch in Hannover und Fulda seit Jahrzehnten mit Erfolg betrieben werden. Man kann den Sammelband von Schmidt-Semisch und Schorb daher auch als – so meine These – kritischen Kommentar zu etablierte(re)n Einführungswerken zu Public Health/Gesundheitswissenschaften lesen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist keineswegs ein abwertendes Urteil, sondern ganz im Gegenteil ein Plädoyer, dieses kritische Kompendium aus dem hohen Norden (darf man von Traditionslinien einer „Bremer Schule“ sprechen?) als korrigierende oder wenigstens ergänzende Sichtweise anzunehmen. Dieser kritische Impuls zeigt sich auch nicht zuletzt in der Widmung des Bandes an den kurz zuvor verstorbenen Doyen dieser „Bremer Schule“ (so sie es denn gegeben hat), dem Medizinsoziologen und Gesundheits(politik)forscher Rainer Müller.

So ist bei aller Vielfalt der Perspektiven der Aufsatz von Hennig Schmidt-Semisch (65ff., zu „Soziologie und Public Health“) gewissermaßen als programmatisches Leitmotiv des Bandes lesbar. In ihm weist der Bremer Gesundheitswissenschaftler auf eine konstitutive Unterscheidung des US-amerikanischen Medizinsoziologen, Robert Strauss (1957) hin, der eine „‚Soziologie in der Medizin‘ (Sociology of Medicine) und eine ‚Soziologie der Medizin‘ unterschieden“ (Schmidt-Semisch: 65) habe. Selbst wenn die Autorinnen und Autoren keineswegs alle Soziologen sind, kann diese klassifikatorische Bestimmung von Strauss sehr hilfreich sein, die vielfältigen Motive und Herangehensweisen der verschiedenen Beiträge zum Thema „Public Health“ einzuordnen. Die meisten Beiträge im ersten Teil des Sammelbandes zu den „Disziplinäre[n] Zugänge[n]“ zu Public Health sind mit Hilfe der Strauss’schen Klassifikation als „Politikwissenschaft“, „Ökonomie“, Psychologie oder „Soziale Arbeit“ in Public Health zu betrachten. Gefragt wird, welchen Beitrag diese Disziplinen zur – allerdings an dieser Stelle wenig beschriebenen – Praxis von Public Health zu leisten vermögen. Die kaum länger als zehnseitigen Beiträge zu den Disziplinen können die Fragestellungen und Konzepte der Disziplinen nur „anreißen“ und sind nach der bekannten Klassifikation im Anschluss an den Wissenschaftshistoriker und Mediziner Ludwig Fleck mehr als „Lehrbuch“, weniger als umfassendes „Handbuch“ zu betrachten, welches in das Thema „Public Health“ einführt und das disziplinäre Forschungsfeld aus einer kritischen Perspektive darstellt.

Der zweite Teil des Bandes, der sich der Praxis von Public Health widmet, stellt im Wesentlichen auf die Praxis zielende grundlegende Konzepte und vor allem kommunal ausgerichtete Public Health-Strukturen dar. Die beiden Leitthemen dieses Teils sind zum einen die kritische Auseinandersetzung mit Strukturen und Praxen der Prävention und Gesundheitsförderung im deutschen Gesundheitswesen und zum anderen eine Kontroverse um die nicht zuletzt aus dem Bremer Umfeld in die deutsche gesundheitswissenschaftliche Diskussion gebrachte notwendige kritische Evidenzbasierung von Public Health (Gerhardus et al. 2010).

Während Thomas Altgeld die grundlegende Problematik des Präventionsdilemmas nochmals ins Gedächtnis ruft, dass diejenigen Menschen, die am Ehesten von Prävention und Gesundheitsförderung profitieren würden, über die üblichen Wege („Markt“ bzw. „Komm-Strukturen“) keinen Zugang zu diesen haben und dass deswegen eine „integrierte kommunale Handlungskompetenz“ auf diesem Feld eine „zentrale Herausforderung“ (Altgeld: 224) sei, diese Gruppen zu erreichen, skizzieren Peter von Phlipsborn und Karin Geffert (233ff.) grundlegende Konzepte der „Gesundheitsförderung auf Bevölkerungsebene“. Sie kritisieren – zurecht – die neuerdings aus der Verhaltensökonomik kommende Mode des gesundheitsbezogenen „Nudging“ als „liberalen Paternalismus“ (243ff.), der gegen die Autonomieversprechen der „kritischen“ Gesundheitswissenschaft verstoße. Das mittlerweile mit einem Nobelpreis für Ökonomie prämierte Konzept des Nudging – das Schubsen in die „richtige Richtung“ (KM) – manipuliert die intuitiven Verhaltensanreize der Einzelnen und reduziert Gesundheitsförderung auf „gesundes Verhalten“ über den Mechanismus der – für die Stabilisierung von herrschaftlichen Verhältnissen – bequemen Mechanismen der Anpassung des Individuums an die gesellschaftlichen Anforderungen im „neosozialen Sozialstaat“, der den Individuen eine neue „Moralität“ abfordere, wie Stephan Lessenich (2008) stechend herausgearbeitet hat. Seine Anwendung ist zumindest ambivalent.

Peter von Philipsborn und Karin Geffert plädieren statt dieser – erneuten – Individualisierung für einen sozialökologischen Ansatz, der auf verschiedenen Ebenen zur Überwindung des „Präventionsdilemmas“, von dem Thomas Altgeld spricht, ansetzt. Ganz im Stil der altehrwürdigen Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung aus dem Jahr 1986 fordern sie eine „politische Anwartschaft“ (von Philipsborn/Geffert: 251) für eine bevölkerungsweite Gesundheitsförderung, deren verhaltensbezogene Inhalte aber dennoch im latenten Konflikt zum herrschaftskritischen Beitrag von Regina Brunnett (411ff.) im dritten Teil des Bandes liegen, die gerade diese von oben herab oktroyierte verhaltenssteuernde Bevölkerungspoliitk als „Biopolitik“ zu entlarven sucht. Zunehmend gestützt auf digitale Apps werde durch New Public Health, also die Regulierung gesundheitlicher Verhaltensweisen, eine „biopolitische Normalisierung“ (Brunnett: 418ff.) für die „spätkapitalistischen Produktionsweisen“ (ebd.: 418) betrieben, die – unter Bezug auf Michel Foucault – als Herrschaftsweise beschrieben und kritisiert wird. Freilich muss man hier keinen antagonistischen Widerspruch entdecken, wenn die Neuausrichtung verhaltensbezogener Bedingungen von Gesundheit partizipativ in der „Community“ der Zielgruppen entwickelt wird, wie Gesine Bär und Ina Schaefer (259ff.) im dritten Beitrag des zweiten Teils einfordern. Eine Spannung zwischen beiden Perspektiven bleibt nichtsdestotrotz erhalten.

Eine für die Methodologie von Public Health zentrale Kontroverse um die Bedeutung und Begründung einer Evidenzbasierten Public Health (EbPH) spannt sich zwischen den drei Beiträgen von Peter von Philippsborn/Eva Rehfuess (303ff.), Ernst von Kardorff (330ff.) und Susanne Hartung (349ff.) auf. Im Wesentlichen handelt es sich – wenn auch unausgesprochen – um die Wiederkehr der Werturteilsdebatte des nimmer endenden Positivismus-Streites in den Sozialwissenschaften, nun aber im Gewand von Public Health. Diese saloppe Umschreibung des Fluchtpunktes der Kontroverse soll keineswegs ihre Bedeutsamkeit schmälern. Ganz im Gegenteil zeigt diese nachdrückliche Permanenz des Themas, dass hier noch keine „Lösung“ in Sicht ist – sofern sie überhaupt erreichbar ist. Die zur Entscheidung anstehende Schlüsselkontroverse dreht sich um die Kernfrage, ob die Methoden und Prinzipien der Evidence Based Medicine auf die populationsbezogene und die Lebenswelten („Settings“) der Menschen berücksichtigende Public Health-(Multi-)Disziplin übertragen werden dürfen. Während Peter von Philipsborn und Eva Rehfuess von der LMU-Universtität (303ff.) in München in einem differenzierten Beitrag begründen, dass dies bei Berücksichtigung methodologischer Vielfalt, fragestellungsbezogener Passung von Methoden und Berücksichtigung partizipativer Inklusion der Betroffenen möglich ist, sieht das Ernst von Kardorff anders. Zwar gesteht er der differenziert-quantitativen Position zu, auf Kritiken reagiert zu haben, aber im – zum Teil – forschungspolitisch motivierten Festhalten an objektivistischen Methodenverständnissen der EbPH sieht er eine Hegemonialisierung von Public Health-Praxis, die aufgrund unterkomplexer Methodenzugriffe bestehende kulturspezifische Bedingungsverhältnisse von Gesundheit / Krankheit einseitig manifestiere und damit bestimmte normative Wertstrukturen stabilisiere. So würden Gesundheitsherausforderungen als Risiken identifiziert, die durch (i) „Prävention und Kontrolle“ (339), (ii) „Individualisierung und Eigenverantwortung“ (339ff.), (iii) „Primärprävention“ und „Identifikation möglicher Krankheitsrisiken“ (342f.), (iv) die gleichzeitige Ausweitung von Gesundheit und Krankheitsdefinitionen (343), (v) digitale Techniken möglich gemachte „transparente Bürger“ (343f.) und (vi) Konstruktion neuer „diagnostischer Kategorien und Klassifikationen“ (344f.) bearbeitet würden. Diese Lösungsstrategien widersprächen dem beanspruchten „Objektivitäts- und Neutralisitätsanspruch von EbPH“ (337), indem – ohne große Partizipation – spezifische Problembearbeitungen vorgegeben würden. Es werden – so ließe sich schlussfolgern – bestimmte (kulturell geprägte) Wertentscheidungen als wissenschaftliche Wahrheit legitimiert. Eine kritische Methodendiskussion reiche folglich nicht aus, es bedürfe auch einer „kritische[n] Selbstreflexion von Public Health“, „den Blick auf die latenten Muster der Wahl ihrer Fragestellungen, Perspektiven und Schwerpunktsetzungen zu lenken“ (346). Public Health als Ideologiekritik?

Kann die „praxisbasierte Evidenz“ (Hartung: 349ff.) als Lösung dieses Dilemmas dienen? Der Ansatz, den Susanne Hartung vorstellt, ist deswegen erfrischend, weil er in seinem Zugriff auf die konkrete „Praxis“ vor Ort einerseits die kulturelle Bedingtheit von krankmachenden und gesunderhaltenden Faktoren akzeptiert und andererseits eine pragmatische, nichtsdestotrotz wissenschaftliche Begründung von evidenzbasierter Public-Health-Praxis zu leisten versucht, ohne künstlich konstruierte Forschungsdesigns aufrechtzuerhalten, die in der Praxis keine Verankerung finden. Im Gegensatz zur EbPH gibt es jedoch noch kein „geeignetes Verfahren“ (356) für die „Praxisbasierte Evidenz“ (PbE). Die partizipative Praxisforschung wird zwar als erfolgversprechende Strategie beschrieben und hat bereits zur Aufstellung der sog. „Praxisdatenbank des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit“ (362) geführt. Es ist m.E. aber durchaus noch ungeklärt, wie das grundsätzliche Dilemma von empirischen Studien, seien sie partizipativ ausgerichtet oder auch nicht, gelöst werden kann, dass die hohe interne Validität zumeist mit einer schwächeren externen Validität der Studienergebnisse einhergeht. Übersetzt in verständliche Prosa ist damit das Dilemma gemeint, dass jedwede Studienergebnisse zunächst einmal für die Studienpopulation gelten und die Übertragbarkeit auf andere Kontexte und Studienpopulationen, also ihre Generalisierung, nicht so einfach zu begründen und zu rechtfertigen ist. Obwohl die PbE dies zurecht an den kulturindifferenten Studien der (quantitativen) EbPH kritisiert, bleibt methodologisch m.E. bislang unklar, wieso die kultur- und kontextspezifischen Studienergebnisse – Hartung spricht hier von einem „best practice“ (364) – eine höhere externe Validität haben sollten, immerhin sind ihre Ergebnisse ja „kontextspezifisch“ gewonnen worden. Eine stärkere Generalisierung wäre nur möglich, sollten sich gleich gerichtete Praxisbedingungen identifizieren bzw. herstellen lassen. Der partizipatorische Ansatz umschifft dieses methodologische Problem geschickt; er behauptet, ganz im Sinne der befreiungstheologischen Tradition der Ottawa-Charta, die Betroffenen selbst wüssten, wie sie die Probleme angehen könnten. Die methodologische Kontroverse kann hier nicht entschieden werden, doch es mag etwas Wasser in den partizipatorischen Wein geschüttet werden, denn Partizipation allein gebiert noch keine effektiven Strategien. Das gesteht auch Susanne Hartung zu, wenn sie auf die Bedeutung von Datenbanken und wissenschaftlichen Erkenntnissen Bezug nimmt, an denen sich die partizipative Forschung orientieren solle. Im Wesentlichen erscheint PbE daher als der sich auf qualitative Forschungsansätze stützende Strang der Public Health-Forschung. Das gesellschaftspolitische Dilemma der Kontroverse um die (vermeintliche) Wertneutralität von EbPH oder auch PbE vermag er m.E. aber nicht aufzuheben. Diese Aufhebung erfordert letztlich eine politische Entscheidung über Werte, Programme und Maßnahmen, womit wir zum abschließenden Teil kommen.

Besonders lesenswert i- und deswegen soll ihm auch ausführlich Beachtung geschenkt werden – st gerade wegen der methodologischen Debatte zum Ende des vorherigen Teils der dritte, abschließende Teil des Bandes, der unter dem Titel „Das Verhältnis von Public Health und Politik“ (393-540) zum eigentlichen Thema des Sammelbandes vordringt. „Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar“ (Deppe 1987), heißt ein Klassiker der Medizinsoziologie. „Gesundheit für alle ist ohne Politik nicht erreichbar – so die konstruierte Analogie des Rezensenten als heimliches Motto des gesamten Sammelbandes. Welchen Bezug zur Politik hat aber nun Public Health als Disziplin und Praxis? Wer nun eine konsistente Position erwartet hätte, wird enttäuscht, wenn auch bei einem Sammelband eine solche ernsthaft nicht erwartet werden kann. Es zeigt sich vielmehr, dass die Multidisziplin Public Health auch hier bei der Frage des Bezugs zum „Politischen“ wieder zum Tragen kommt. Die Beiträge fokussieren nicht nur aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive (analytisch, deskriptiv, erklärend, normativ) sehr unterschiedlich auf das Verhältnis von Public-Health-Wissenschaft und entsprechender Politik; sie gehen auch von zum Teil diametralen sozialtheoretischen und sogar disziplinären Zugängen auf das Verhältnis von Politik und Public Health zu.

Der renommierte Gesundheitswissenschaftler und Gesundheitspolitikforscher Thomas Gerlinger (393ff.) skizziert in seinem wissenschaftssoziologisch orientierten Beitrag das Politikfeld „Public Health“ im Hinblick auf die Strukturen und interessens- und wissensgetriebenen Akteure der Politikberatung sowie das Verhältnis von Politik und der Wissenschaft „Public Health“. Trotz vielfältiger Typen, Formen und Akteuren der institutionalisierten Politikberatung (ebd.: 394ff.) zeichneten sich „Politik“ und „Wissenschaft“ als eigenständige institutionalisierte Systembereiche (ebd.: 399ff.) durch unterschiedliche „Handlungslogiken“ (ebd.: 408) aus. Das hielt individuelle Akteure während der Corona-Pandemie aber nicht davon ab, zwischen den Bereichen hin und her zu changieren, sich auf beiden Feldern zu bewegen und damit die Grenzen zu verwischen (ebd.: 407; der Sammelband wurde offenbar Ende 2020 redaktionell abgeschlossen). Handlungslogiken und (kognitive) Perspektiven der beiden Bereich verschränken sich dabei notwendigerweise, denn Politik will wissenschaftliche Legitimation und Wissenschaft politisches Handeln zur Umsetzung von „Lösungen“ nutzen. Die Folge ist – wie Gerlinger in Anlehnung an den Wissenschaftssoziologen Peter Weingart (2001) formuliert -, „dass in modernen Gesellschaften Wissenschaft ihren Nimbus als neutrale, allein der Wahrheit verpflichtete Instanz eingebüßt hat.“ (Ebd.: 406) Dass jedoch dieser Anspruch in modernen Gesellschaften nicht verschwunden ist, zeigte sich ebenfalls in der Corona-Pandemie, wo sich jedoch auch die „häufige Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit wissenschaftlicher Befunde einerseits, die Politisierung der Wissenschaft andererseits“ (ebd.) offenbart hat. Die aufgrund der Unklarheit wissenschaftlicher Befunde oft zu konstatierende geringe „Passfähigkeit“ (KM) wissenschaftlicher Erkenntnisformen und politischer Entscheidungen führe auf dem Feld von Public Health zu erheblichen „Hindernissen“ einer eindeutigen „Empfehlung“ (ebd.: 404ff.) – eine ernüchternde, aber notwendige Relativierung wissenschaftlicher Objektivitätsphantasien. Im Endeffekt kommt es – so könnte vermutet werden – unter Umständen zu einer transformatorischen Symbiose von „Politik“ und „Wissenschaft“, welche eine Entdifferenzierung beider Subsysteme zur Folge haben könnte. Eine Entwicklung, die Thomas Gerlinger in Anlehnung an den Bremer Soziologen Uwe Schimank (2012) nicht ganz von der Hand weisen will, wenn er dessen Befürchtungen zitiert; auch der zitierte Peter Weingart (2001) ist sich der Trennschärfe beider Bereiche nicht mehr so sicher.

Aufgrund dieser skeptischen Gesamtsicht überrascht es nicht, dass einige Beitrage des dritten Teils eine scharfe Kritik an vorherrschenden Trends der politischen Praxis von Public Health üben und – über die Erkenntnisse des zweiten Teils hinaus – sogar normative Entwürfe einer Public Health Policy oder wenigstens Ansatzpunkte benennen, an denen ein normativer Entwurf ansetzen sollte. Aus einer kritischen Position, die sich an Michel Foucault bzw. der sog. Social-Control-Schule der Medizinsoziologie (Gerhardt 1989) anlehnt, etwa kritisiert nicht nur der bereits erwähnte Aufsatz von Regina Brunnett (411ff.) die zunehmende „biopolitische Normalisierung“ von Lebensstilen. Auch Bettina Schmidt (426ff.) kritisiert die oft den Klienten von Prävention und Gesundheitsförderung, und das bedeutet vor allem den „unter Risiko“ stehenden Menschen, abgeforderte Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen, die sie oft aber aufgrund mangelnder begünstigender Verhältnisse nicht wahrnehmen können. Sie unterstreicht zurecht, dass das Hauptziel der Menschen nicht sei, eine optimale Gesundheit zu erreichen, weshalb bisweilen erfolgende gesellschaftliche Anforderungen auf alleinige individuelle Verhaltensänderungen auch als „Herrschaftsinstrument“ zu betrachten seien – der „neosoziale Sozialstaat“ (Lessenich 2008) lugt hier erneut durch. Die einzig sinnvolle und lebenspraktische Strategie sei ein „gesundheitliche[s] Durchwursteln“ (Schmidt: 435), weshalb auch verhältnispräventive Maßnahmen (z.B. Fahrbahnschwellen vor Schulen, Gurtpflicht oder auch Lebensmittelhygiene) die Menschen dafür entbinden würden, ständig an „ihre“ Gesundheit zu denken. Sie sieht in der (nicht weiter bestimmten) „Benutzerfreundlichkeit“ ein „protektives Potenzial“ (ebd.: 437), zu dass auch die Methode des „Nudging“ (ebd.) gehören würde. Hier wird ihre kritische Abgrenzung von Verhaltensansätzen und Verhältnisansätzen in der Public Health Politik allerdings unscharf; denn Nudging zielt eindeutig auf (sozial erwünschte) Verhaltensänderungen. Die These, „Public Health-Profis“ würden zu „den Eliten einer Gesellschaft“ gehören und seien daher „dem Gemeinwohl verpflichtet“ und sollten darüber hinaus „politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entscheidungsträger stärker als bisher als Zielgruppen für Gesundheitskompetenz-Programme adressieren“ (ebd.), ist normativ stark aufgeladen und trägt den durchaus ambivalenten Geruch eines „liberalen Paternalismus“ an sich, den von Philipsborn und Geffert (243f.) im zweiten Teil mit dem Konzept des Nudging verbunden haben. Schmidt suggeriert hier – unter Rückgriff auf funktionalistische Argumentationsmuster – als müssten Public Health-Experten sui generis am „Gemeinwohl“ orientiert sein (was immer das ist). Unterstellt ist dabei also genau eine solche wissenschaftliche Einheitlichkeit, die nötig ist, um zum politischen Feld Zugang zu erhalten, den Gerlinger doch als so schwierig gekennzeichnet hat, weil sich die Public Health-Forschung selbst bzgl. vieler Fragen nicht einig ist. Doch Public Health ist kein System kohärenter Wissenschaft, sondern – gerade in der engen Verquickung mit Politik – vielmehr in höchst disparate gesellschaftliche Diskurse eingebettet. Sie ist mehr ein Austragungs- bzw. Entscheidungsort für notwendig erachtete Public Health-Intervention als eine Sammlung fest etablierter Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung. Daher ist Bettina Schmidts in Anlehnung an Babitsch (2019: 12) gestellte Forderung, Public Health Experten sollten „kritische Wächter“ sein und „herrschenden Vorstellungen“ (Schmidt: 437) gegenüber kritisch sein, sympathisch, aber bloß normativ und in der Praxis zweifellos strittig. Es fehlt hier ein Begriff von „Herrschaft“, der Richtung und Zielgruppen der kritischen Wacht angibt, um die es bei dieser geht.

In dem Beitrag von Raimund Geene (443ff.) werden die Potenziale und Limitationen von Health-in-All-Policies (HiAP) untersucht. Dabei handelt es sich um ein klassisches (normatives) Konzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welches darauf drängt, gesellschaftliche Determinanten von Gesundheit / Krankheit in allen relevanten Politikfeldern zu reflektieren und entsprechend zu beeinflussen. Nach einer Skizze von finnischen Erfolgsbeispielen (v.a. in „Nordkarelien“) der Umsetzung einer solchen widmet er sich für den weiteren Verlauf seines Beitrags der Frage, was aus der Public Health-Strategie zur HIV-Prävention und Gesundheitsförderung der 1980er Jahre für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie zu lernen ist. Er ist bzgl. der hier verfolgten Strategie der „Infektionsvermeidung“, die bis zur Zulassung von Impfstoffen in der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie vorherrschte (und vor der die Endredaktion des Bandes stattfand), sehr kritisch. Unter Bezugnahme auf ein Papier einer hochrangigen Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern um Prof. Matthias Schrappe (et al. 2020), einen ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des regierungsberatenden Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung Gesundheitswesen (SVR-Gesundheit), weist er auf die paradoxen Folgen dieser Strategie hin, dass nämlich durch diese Strategie „die vulnerablen Gruppen mit degenerativen, chronischen oder anderen Vorerkrankungen […] einer fortlaufenden Bedrohung“ (Geene: 448) ausgesetzt würden. Im weiteren Verlauf plädiert er dafür, die partizipatorischen Elemente der erfolgreichen AIDS-Prävention auf die Covid-19-Problematik zu übertragen. Zu diesem Zweck hat sich auch das „Kompetenznetz Public Health zu Covid-19“, ein Zusammenschluss aus über 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften, etabliert. Die in der Pandemie zu beobachtende „Solidarität mit vulnerablen Gruppen“ (ebd.: 452) sei ein guter Ansatzpunkt und ermutigend für eine Etablierung einer umfassenden HiAP-Strategie in Deutschland. Trotz der zweifellos hohen Bedeutung von HiAP für eine Publich Health Policy kann Geenes Beitrag nicht richtig überzeugen. Denn erstens steht die im hinteren Teil herausgehobene hohe Solidarität mit vulnerablen Gruppen in einem gewissen Spannungsverhältnis mit den zu Beginn geäußerten Kritiken an der Strategie der „Infektionsvermeidung“, die ja gerade – in dieser Argumentationslogik – die vulnerablen Gruppen schädigte. Aber selbst wenn zugestanden wird, dass nur die Strategie falsch war, die vorhandene Solidarität also wirklich fassbar blieb, ist – zweitens – eine Übertragung der AIDS-Präventionsstrategie auf die Covid-19-Pandemie etwas fragwürdig. Denn bei Covid-19 handelt es sich um eine schwere Atemwegserkrankung, die durch Aerosole übertragen wird, während das AIDS-auslösende HIV-Virus vor allem über kontaminiertes Blut und manche Körperflüssigkeiten weitergegeben wird. Es wäre schon etwas mehr Differenzierung nötig, die AIDS-Präventions-Strategie auf die Situation der Covid-19-Pandemie zu übertragen. Grundsätzlich erblickt Geene trotz einiger Imitationen des HiAP-Ansatzes, die insbesondere in der „sozial ungleich“ verteilten „Krankheitslast“ (ebd.: 453) bestünden, Potenziale. So könne der universelle Charakter einer „potenzielle[n] Gesundheitsbedrohung“ (ebd.: 454) – wie eben auch Covid-19 – zu einer gesellschaftlichen Anstrengung führen, HiAP gewissermaßen im großen Stil einzuführen.

Zwei weitere Beiträge des dritten Teils setzen sich explizit mit den Public-Health-Implikationen der Covid-19-Pandemie zu diesem frühen Zeitpunkt (und noch ohne die Option der Impfung) auseinander. Joachim Larisch (513ff.) wagt den (frühen) Versuch, Aspekte internationaler Gesundheitszusammenarbeit während des „‚Corona’-Ausnahmezustand[s]“ (ebd.: 513) zu erörtern. Eine europäische oder gar globale Zusammenarbeit habe in den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie nicht stattgefunden. WHO-Empfehlungen spielten bei der Lockdown-Entscheidung in Deutschland keine Rolle (ebd.: 519). Zeitaktuell betrachtet sind jene Empfehlungen – „lokale und regionale Ermittlung infizierter Personen, ihre Isolierung zur Unterbrechung von Infektionsketten und ihre medizinische Behandlung sowie die Identifizierung und gegebenenfalls Isolierung von unmittelbaren Kontaktpersonen im Mittelpunkt der Maßnahmen“ (ebd.) – laut Larisch nicht angewandt worden, sondern stattdessen panikgetrieben ein allgemeiner Lockdown durchgeführt worden. Er hält den „temporären (vollständigen) ‚lock down‘“ (ebd.: 520) für nicht sachgemäß und insbesondere werde der Verzicht auf „nicht pharmazeutische Interventionen“ (ebd. 521) – zumindest – auf globaler Ebene bald „Verteilungskämpfe“ um Impfstoffe u.Ä. hervorbringen (ebd.). Während diese Einschätzung zweifellos zutrifft und prophetisch anmutet – wenn auch kaum überraschend ist -, hält der Rezensent die unterstellte Missachtung der WHO-Empfehlungen bei der deutschen Anti-Covid-19-Maßnahmen für einen schlecht recherchierten Mythos. Dass diese Empfehlungen aufgrund verschiedener Implementationshindernisse (u.a. fehlende Digitalisierung und Personalmangel) nicht flächendeckend umsetzbar gewesen sind (und insbesondere die pauschale Einschränkung der Reisefreiheit dem Völkerrecht widersprochen hat), mag sein, bedeutet aber noch lange nicht, dass die WHO-Empfehlungen in toto nicht beachtet wurden. Daher ist auch die Auffassung, eine „solide, evidenzbasierte Basis für den Ausnahmezustand“ (ebd.: 518f) habe in Deutschland nicht bestanden, zumindest missverständlich. Die naheliegende Frage, ob daher aber der Lockdown nicht nötig war, lässt der Autor – glücklicherweise ? – offen. Zweifellos stimmt es, dass aufgrund erheblicher Defizite im Öffentlichen Gesundheitsdienst das „oberste Ziel der Maßnahmen die Verlangsamung des Anstiegs der Infektionen“ (ebd.: 517) zur Sicherung der Zugänglichkeit der „Kapazitäten der stationären gesundheitlichen Versorgung“ (ebd.: 520) qua Lockdown war. Larisch plädiert zukunftsgerichtet dafür, deren prioritäre Inanspruchnahme durch Covid-19-Patient:innen nicht zum Standardansatz zu machen, schon gar nicht weltweit, denn dann würden „die Behandlungsmöglichkeiten von Patienten mit anderen Erkrankungen“ und „die globalen Anstrengungen zur Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten wie z.B. Malaria, HIV, Tuberkulose und Masern“ (ebd.: 521) reduziert. Ein sinnvoller Reflexionsbeitrag zur vorherrschenden Strategie der Pandemie-Bekämpfung. Insgesamt legt die Pandemie eine internationale (globale und europäische) Koordination nahe, „auch wenn die gegenwärtigen politischen Entwicklungen nicht optimistisch stimmen.“ (Ebd.: 522) Der dramatisierende Schlusssatz des Beitrags: „Nicht immer wächst angesichts der Gefahren das Rettende auch“ (ebd.), steht freilich in merkwürdigem Kontrast zur anfänglichen These einer unzureichenden Evidenzbasierung für den allgemeinen Lockdown in Deutschland, wenn damit nicht nur die mangelnde Datenbasis gemeint ist. Sinn ergibt der Schlusssatz nur in Bezug auf die strukturell mangelhafte internationale Kooperation zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vor, während und nach der Covid-19-Pandemie. Die Perspektive von Global Public Health ist folglich immer noch nicht rosig.

Die beiden Herausgeber, Friedrich Schorb und Hennig Schmidt-Semisch, widmen sich in ihrem Beitrag zum Ende des Bandes (525ff.) einem heiklen, aber medizinsoziologisch klassischen und – im Angesicht der Debatte(n) um eine universelle Impfpflicht – überaus aktuellen Thema, nämlich Aspekten der „Punitivität im Kontext der Covid-19-Pandemie“ (ebd.: 525). Krankheit und Kriminalität sind auf den ersten Blick – so die Autoren – unterschiedliche Phänomene, die auch unterschiedlich gesellschaftlich reguliert werden. Doch so einfach scheint es nicht zu sein. Denn das verschämte Pendant zur „Klassenjustiz“ ist – wie sie historisch mit Bezugnahme auf einen aufklärerischen utopischen Roman von Samuel Butler („Erewhon or Over the Range“) – die „Punitiivität“ von Erkrankten, die „selbst dran schuld“ (Schmidt-Semisch 2000) sind. Doch das ist eigentlich nicht ganz modern. Denn die „Zuschreibung von Verantwortung“, wie sie unter Bezug auf die Kriminologie feststellen, ist bei beiden recht unterschiedlich: „Der Kriminelle wird für ein gewolltes Handeln zur Rechenschaft gezogen, dem Kranken aus einem ungewollten Zustand, an der er selbst leidet und aufgrund dessen ihm sein abweichendes Verhalten für eine gewisse Zeit nachgesehen wird, herausgeholfen; der Kriminelle wird bestraft“, so zitieren Schorb und Schmidt-Semisch (527) den Kriminologen Hess (1983: 15) , „der Kranke behandelt“. Doch die Grenzen verschwimmen seit einiger Zeit zwischen beiden Kategorien, vor allem wegen mehr medizinischen Wissens, das Behandlungen vielfältiger „Risiken“ verspricht und wegen der Anforderung nach „Eigenverantwortung“ in einer fiskalisch restringierten Kranken- und Gesundheitsversorgung. Es bildet sich eine sozial normierte Moral heraus, die eine „individuelle Pflicht zur Gesundheit“ (Schrob/Schmidt-Semisch.: 528) begründet – der „neosoziale Sozialstaat“ (Lessenich 2008) grüßt erneut. Kranke werden als „‚tatverdächtig‘“ betrachtet „‚aufgrund ihrer mangelnden Anstrengungen zur gesundheitlichen Selbstoptimierung‘“ (Schmidt 2010: 31, zit. n. Schorb/Schmidt-Semisch: 528) getrieben. Das galt vor der Pandemie bereits für manche chronisch Erkrankte und in der Pandemie nun auch für viele Menschen, unter ihnen Covid-19-Infizierte, Kontaktpersonen oder auch ansonsten Unbescholtene, aber mit Präventionsmaßnahmen Überzogene. Die „Punitivität“ der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist Schorb und Schmidt-Semisch zufolge zudem durch eine soziale Schieflage geprägt. Nicht nur gehören sozial Benachteiligte zu den am stärksten Gefährdeten, auch die „wirtschaftlichen Folgen der Infektionsschutzmaßnahmen“ (ebd.: 532) treffen sie besonders stark (prekäre Beschäftigung, geringes Einkommen, fehlende Kinderbetreuung etc.). Doch hier stoppt die Bedeutung der „soziale[n] Frage“ (ebd.: 531) in der Pandemie noch nicht. Die vielfach durchgesetzte und bis in den Mainstream der Wissenschaft höchst umstrittene, mittlerweile weitgehend für falsch gehaltene, „Schließung von Bildungseinrichtungen“ (ebd.: 532) verringert die sowieso schon schlechten Bildungschancen sozial niedrig gestellter Schichten. Zudem zeigte sich, dass gerade in ärmeren Vierteln von Großstädten die Lockdowns besonders rigide überwacht wurden. Das bekannte Hochhaus in Göttingen ist ein trauriges deutsches Beispiel dafür. Ist das alles aber nun nur „Punitivität“ oder unvermeidbare Begleiterscheinung eines notwendigen öffentlichen Gesundheitsschutzes? Schorb und Schmidt-Semisch geben keine endgültige Antwort. Die Nutzung von digital gesteuerten Überwachungssystemen in China, die sie beschreiben (ebd.: 535f.), und die Debatte um einen „Immunitätsausweis“ (ebd.: 536), der die Bewegungsfreiheit in Gesellschaften regulieren, seien – wie mittlerweile in der 3. und 4. Welle für alle EU-Bürger:innen erfahrbar gewesen – kategorial als Punitivätsmaßnahmen einzuordnen. Ob es zu diesen eine Alternative gegeben habe, lassen die Autoren leider offen. Einen Hinweis auf die vermeidbaren staatlichen „Bestrafungsstrategien“ (KM) deuten sie zum Schluss ihres Beitrags an, wenn sie – völlig zutreffend – darauf hinweisen, dass die Covid-19-Eindämmungspolitik sich vor allem an individualisierenden Präventionsmustern orientiert: „Sanktioniert und problematisiert werden in erster Linie individuelle Verhaltensweisen, während strukturelle Risiken (etwa die Zustände in Massenunterkünften, Lagerhallen, Paketzentren oder Schlachthöfen) weitgehend akzeptiert werden.“ (Ebd.: 537)

Dass die harschen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auch mit strukturellen Problemen im Gesundheitswesen zu tun haben könnten, zeigen – wenn auch leider mehr implizit als explizit – Benjamin Wachtler und Nadja Rakowitz (475ff.) vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ) in ihrem Beitrag zum Zusammenhang von Ökonomisierung des Gesundheitswesens und Public Health. Zunächst schelten sie die forschungsstarke Public Health-Wissenschaftlergemeinde dafür, dass deren Protagonisten das „Prinzip der Parteilichkeit“ (ebd.: 478), das historisch von Anfang an bei der Sozialmedizin und auch noch der kritischen Public Health-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre vorhanden gewesen sei, aufgegeben hätten. Nach Lektüre dieses Bandes kann eine solche pauschale Schelte freilich nur überraschen, sind doch allenthalben Strategien und Prinzipien der Anwaltschaft und Partizipation von Betroffenen und Klienten eingefordert. Public Health ist vom Anspruch her durchaus sozialkritisch angelegt. Etwas substanzieller wird das Argument dort, wo der Autor und die Autorin sich in Anlehnung an die – tatsächlich großartige – Tradition der Politischen Ökonomie des Gesundheitswesens anlehnen und die von „gesellschaftlicher Ungleichheit negativ Betroffenen, Benachteiligten, Ausgebeuteten und Unterdrückten“ (ebd.) als ihre Zielgruppe identifizieren. Hiermit machen sie natürlich ein großes Fass auf und unterstreichen – zurecht allerdings, wie der Rezensent meint -, dass gesundheitliche Ungleichheit und soziale Determinanten von Gesundheit und Krankheit stärker in den Forschungsfokus und die Public Health-Praxis gesetzt werden sollten. Insbesondere wird der Bericht der sog. Commission on Social Determinants of Health der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2008 hervorgehoben, der – geleitet von dem renommierten britischen Arzt und Sozialepidemiologen Sir Michael Marmot – sogar das „Konzept des ‚sozialen Mordes‘ von Friedrich Engels wieder aufgreift“ (Wachtler/Rakowitz: 486), ohne jedoch – so ihre Kritik – zu sagen, „wer die Verantwortung für diese ‚sozialen Morde‘“ (ebd.) trage. Doch auch sie sagen es nicht explizit, dabei ist wohl klar, welchen Mechanismus sie meinen: es ist „der“ Kapitalismus. Nun ist unbestritten, dass „der“ Kapitalismus, d.h. seine institutionell und historisch stets spezifischen Produktions- und Reproduktionsmechanismen, soziale Ungleichheit hervorbringt. Freilich schießt ihre Kritik ein wenig über das Ziel hinaus, wenn diese radikale Sichtweise aus den USA unbesehen und unbegründet in das wohlfahrtsstaatlich weitaus stärker geprägte Europa übertragen wird. Die Argumentation ist hier eher apodiktisch denn argumentierend und es bedürfte weiterer Argumentationsschritte, die tatsächlich zunehmende soziale (und gesundheitliche) Ungleichheit in Nordamerika und Europa zu erklären. Dies ist nötig und möglich, aber sie unterlassen es.

Der Abschnitt über die „Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung“ (Wachtler/Rakowitz: 479ff.) zeigt hingegen, dass die „Wendung zur neoliberalen angebotsorientierten Politik seit den 1980er Jahren“ (ebd.: 480) das eigentliche Übel ist. Wobei der Begriff des „Neoliberalismus“ ziemlich unklar bleibt; auch hier wäre etwas mehr theoretische Erläuterung und begriffliche Präzision wünschenswert gewesen. Die Beschreibung von Ökonomisierungstendenzen in der ambulanten Medizin und vor allem im Krankenhaussektor hingegen überzeugt durch die zugespitzte Beschreibung von Steuerungsmechanismen, die u.a. bewirken, dass Krankenhäuser nur ökonomisch rational handeln, „wenn sie einerseits ihre Einnahmen steigern, was sie nur durch höhere Fallzahlen erreichen können, und andererseits ihre Kosten senken; also sparen sie vor allem am Pflegepersonal“ (ebd.: 482). Die Vermeidung der Überlastung der stationären Versorgung als oberstes Ziel der Pandemie-Politik, im Übrigen nicht nur in Deutschland, welches OECD-weit, neben Japan, die meisten Krankenhäuser (pro Einwohner) hat, begründet sich auch aus dem hausgemachten Mangel an Pflegepersonal, der im weiteren Verlauf der Pandemie zum großen Problem geworden ist. Was freilich irritiert am Beitrag von Wachtler und Rakowitz ist die unzureichende Behandlung des „Kerngeschäfts“ von Public Health, von Prävention und Gesundheitsförderung. Hiermit stellt sich ihr durchaus lesenswerter Artikel etwas quer zur Systematik des Sammelbandes. Dabei ist auch in Prävention und Gesundheitsförderung eine manifeste Ökonomisierungstendenz auf einem sozialen Wohlfahrtsmarkt zu beobachten (Mosebach/Walter 2021: 115ff.).

Public Health ist eine normative Wissenschaft, die – trotz der Kritik von Wachtler und Rakowitz – auch Partei ergreift. Strittig ist höchstens, für wen und mit welchen Mitteln und Erwartungen Partei ergriffen wird. Die Beiträge von Rainer Müller und Joachim Larisch einerseits und von Uwe H. Bittlingmayer, Florian Schumacher und Gökcen Yüksel andererseits versuchen nun tatsächlich diese Normativität und Parteilichkeit sozialtheoretisch auszubuchstabieren. Rainer Müller und Joachim Larisch (459ff.) versuchen die Diskurs- und Demokratietheorie Jürgen Habermas und Bernhard Peters (460ff.) mit ökonomischen Konzepten von Public Health als einem „öffentlichen Gut“ (465ff.) zu verbinden. Normativ wird dabei Gesundheit verstanden „als Entwicklung und Sicherung des Humanvermögens im Lebenslauf“, welches die „gesundheitswissenschaftliche(r) Forschung und Praxis“ (Müller/Larisch: 469) anleiten solle. Gesundheitswissenschafltiche Interventionen zur Stärkung des Humanvermögens (nach Franz Xaver Kaufmann, 2009) sollten den (i) rechtlichen Status, (ii) die Einkommensverhältnisse, (iii) die materielle und soziale Umwelt und (iv) die Handlungskompetenz verbessern (ller/Larisch: 470). Wie diese Maßnahmen jedoch im Verhältnis stehen zum Konzept der „politischen Öffentlichkeit“, insbesondere auch ihrer digitalen Konstitution und warum und wie die „transdisziplinäre ‚konzertierte Aktion‘ der beteiligten Fachdisziplinien“ von Public Health aussehen müsste, um „diese Herausforderungen“ (ebd: 471) zu bewältigen, bleibt nicht nur offen, sondern wird im Text gar nicht thematisiert. Viele offene Fragen stehen im Raum, die gerade im Artikel von Wachtler und Rakowitz angerissen werden. Wie lässt sich in dem normativen Rahmen von Müller und Larisch die Herausforderung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Dynamiken und Desintegrationsprozesse integrieren, die Jürgen Habermas mit seiner kritischen Theorie der Öffentlichkeit zumindest andenkt? Viele argumentative Linien und Brüche zeigen sich im Text und die Antworten fallen aus. Insofern kommt der Text über eine bloße sozialtheoretische Skizze nicht hinaus und erfordert noch eine große begriffliche Anstrengung, um eine kohärente normative Theorie begründen zu können. Möglicherweise hat der plötzliche Tod des diese Gedanken mutmaßlich initiierenden Erstautors (Rainer Müller), dem dieser Band gewidmet ist, eine fruchtbare Weiterentwicklung des Beitrags verhindert.

Zurück zu den sozialtheoretischen Wurzeln der Kritischen Theorie eines Max Horkheimer gehen dagegen Uwe H. Bittlingmayer, Florian Schumacher und Gökcen Yüksel (493ff.) mit ihrem Vorschlag, eine normative Theorie von Public Health als eine „Neuauflage des interdisziplinären Materialismus“ (ebd.: 493) im Sinne einer gesundheitsbezogenen „Gerechtigkeitstheorie“ zu begründen. Ihr ambitionierter, gut lesbarer und kritisch-reflektierter Beitrag zielt darauf ab, jenseits von „Kapitalismusforschung und Herrschaftsanalyse“ (ebd.: 508) eine „theoretische Analyse und empirische Bestimmung der Gesundheits-, Autonomie- und Freiheitsgrade von Gegenwartsgesellschaften“ (ebd.) zu entwickeln, um entsprechend gerechte Gesellschaften zu ermöglichen, in denen – so möchte der Rezensent es fassen – ein sozial gerechtes und selbstbestimmtes gesundes Leben aller möglich ist. Dies ist den Autoren zufolge keine „Phantasmagorie“ (ebd.: 506) und auch kein „Universalschlüssel zur Gesellschaftskritik“, sondern ein theoretisches und empirisches Arbeitsprogramm zur Revitalisierung kritischer und auch konstruktiver Gesundheitswissenschaft. Sie knüpfen einerseits an verschiedene kritische Zeitdiagnosen an und versuchen deren Sozialkritik, Künstlerkritik und Radikalkritik mit den gerechtigkeitstheoretischen Bausteinen des Capability-Ansatzes von Amartya Sen und Martha Nussbaum zu verbinden. In der sozialwissenschaftlichen Literatur über den Zustand „aktuelle[r] Formen der Vergesellschaftung“ (ebd.: 495) kommen diese nicht besonders gut weg. Diagnostiziert wird u.a. eine zunehmende „Schere zwischen Arm und Reich national und international“, eine „alarmierende Kinder- und Jugendarmut sowie Altersarmut“ (ebd.: 496). Auch die „seit mittlerweile sechzig Jahren (!) andauernden Beschwerden über soziale Ungleichheiten im Bildungssystem“ (ebd.) zeugten von der Aktualität der „Sozialkritik“. Freilich habe diese bislang kaum „Auswirkungen auf die realen Verhältnisse“ (ebd.), die die soziale Ungleichheiten hervorbrächten. Aus Public Health-Perspektive korrespondiert diese Sozialkritik mit der sozialepidemiologischen Diagnose zunehmender sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten (v.a. Wilkinson/Pickett 2010), wie auch Wachtler und Rakowitz in demselben Band hervorheben. Jenseits von Verteilungsfragen wird im Anschluss an die „Marxsche(n) Entfremdungskritik“ (ebd.: 497; kursiv im Original), eine Art „Künstlerkritik“ (Boltanski/Chiapello 2003) formuliert, die auf die beschränkten Autonomie- und Freiheitsgrade der Menschen abzielt. Bittlingmayer et al. halten insbesondere die theoretischen und empirischen Überlegungen von Hartmut Rosa (2005, 2009) für geeignet, „das Gelingen menschlicher Lebensführung“ (Bittlingmayer/Schumacher/Yüksel: 497) in den heutigen Gesellschaften zu problematisieren. Sie sehen bei seiner Hervorhebung von „gesamtgesellschaftlichen Beschleunigungen“ (ebd.) gesundheitswissenschaftlich relevante Anknüpfungspunkte, insofern jene „von Kontrollverlust, Verlust von Autonomie und Erhöhung des individuellen Stresslevels“ (Rosa 2009: 112, zit.m. Bittlingmayer/Schumacher/Yüksel: 497) begleitet seien. Sie plädieren dafür, Rosas Kritik unter Hinzuziehung des gesundheitswissenschaftlichen Konzeptes der Salutogenese gesundheitswissenschaftlichen zu systematisieren (ebd.: 498). Schließlich konstatieren sie eine dritte Kritikvariante in den Sozialwissenschaften, die sie als „Radikalkritiken“ (ebd.) kennzeichnen und der es um die radikale Kritik und weniger um die „reformerische“ Verbesserung der Gesellschaft gehe. Um die in der sozialwissenschaftlichen Literatur jedoch zum Ausdruck kommende Gesellschaftskritik gesundheitswissenschaftlich fruchtbar zu machen, integrieren sie die Grundbedürfnisse von Menschen, die die Gerechtigkeitstheoretikern Martha Nussbaum im Anschluss an Amartya Sen aufgestellt hat, in ihren theoretischen Analyserahmen. „Nussbaums Liste“, so die Autoren, „beinhaltet in der Lesart einer allgemeinen Public Health-Perspektive eine gerechtigkeitstheoretische Grundierung eines individuellen Anspruchs auf multidimensional verstandene Gesundheit.“ (Ebd.: 501) Diese normativen Setzungen von Nussbaum erscheinen ihnen jedoch als zu wenig auf die sozialen Ungleichheitsdynamiken in heutigen Markt-Gesellschaften bezogen, so dass sie für eine konzeptionelle Rekalibrierung dieser Grundbedürfnisse im Sinne einer „konkretistische[n] und selektive[n] Interpretation der Ottawa-Charta“ plädieren. Erstens gelte es, die gesunden Entscheidungen auch als die einfacheren zu gestalten, indem z.B. die Nahrungsmittelproduktion umgestellt, die Arbeitsbedingungen singstiftender und insgesamt die gesellschaftlichen Verhältnisse diese Wahlentscheidung unterstützen sollten (ebd.: 504f.). Zweitens sollten die Individuen, Gruppen und Klassen im Sinne der Ottawa Charta „Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen“ (ebd.: 505) erlangen und nicht den sozial selektierenden Dynamiken der „Lotterie der Geburt“, der „Bildungsinstitutionen“ und der „Arbeitsmärkte(n)“ (ebd.) ausgesetzt sein. Gesellschaftliche Institutionen sollten daher vor allem von „individuellen Bedürfnissen selbst gesteuert werden“ (ebd.; kursiv im Original). Im Hinblick auf die Bedürfniskriterien von Nussbaum und den von ihnen erweiterten Aspekten sozial selektierender Bedürfniserreichung folge „daraus wenig spektakulär, dass Deutschland keine gerechte Gesellschaft ist.“ (Ebd.: 503f.) Eine soziologisch gut belegbare These. Sie hoffen drittens darauf, empirische Indikatorensets entwickeln zu können, um die „Beschaffenheit gesellschaftlicher Institutionen mit der Erfassung individueller Gesundheit zu verschränken“ (ebd.: 506), um gewissermaßen – so ließe sich denken – Leitfäden an die Hand zu bekommen, nach denen die Weiterentwikcklung von gerechten Institutionen möglich wäre; eine Art „linkes Benchmarking“ (Hans-Ulrich Urban)? Sie wissen dabei selbst, dass ihre normative Konzeption „eine ganze Reihe unangenehmer Fragen“ aufwerfe und viele „offene(n) Baustellen“ zeige. Sie fordern visionäre Bilder „gerechter Institutionen“ (ebd.; kursiv im Original), die gleichsam einen Impuls geben sollen, um den gesellschaftlichen Wandel überhaupt erst anzuschieben. Neben dieser Frage nach dem Weg in die gerechten Institutionen sind weitere Problem zu bewältigen, so die Frage nach der Kombinationsmöglichkeit von „Freiheitsgraden und Gleichheitsdimensionen“ (ebd.: 507) in „westlich-kapitalistischen Demokratien“. Der Hinweis auf die Kontingenz der Geschichte ist – bei aller theoretischen Berechtigung des Arguments – natürlich etwas sehr pauschal, um die Wahrscheinlichkeit des Aufbaus von gerechten Institutionen in diesen Gesellschaften zu plausibilisieren. Bittlingmayer/Schumacher/Yüksel haben mit ihrem anregenden Beitrag auf ein großes Defizit der Public Health-Politik hingewiesen, nämlich dass in Bereich der primären Prävention und Gesundheitsförderung konkrete Reformkonzepte vorlägen, aber vor allem „Vollzugsdefizite“ (Rosenbrock/Gerlinger 2014: 111) ihre Umsetzung blockierten. Nach der Installierung des nationalen Präventionsgesetzes im Jahr 2015 wäre es vielleicht an der Zeit, nicht nur mit der akademischen „konzertierte Aktion“ der Fachgesellschaften, von der Müller und Larisch (471) in ihrem Beitrag sprachen, ernst zu machen, sondern auch die „von gesellschaftlicher Ungleichheit negativ Betroffenen, Benachteiligten, Ausgebeuteten und Unterdrückten“ (Wachtler/Rakowitz: 478) mit – um im Bild zu bleiben – ins „institutionelle Boot“ zu holen. Wie es indes gelingen kann, eine neue „Gesundheitsbewegung“ in schwierigen Zeiten zu etablieren, ist offen. Sicher ist nur, dass es ohne Politik nicht möglich sein wird, z.B. das institutionelle Prokrustebett des nationalen Präventionsgesetzes zum Katalysator von „gerechten Institutionen“ zu machen oder Health-in-All-Policies in Deutschland zu etablieren. Es bleibt noch viel zu tun. Das besprochene Buch zeigt Möglichkeiten und Grenzen auf und regt zum Nachdenken an; mehr kann ein Buch nicht leisten.

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